Annie Ernaux

Eine Frau

Cover: Eine Frau
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
ISBN 9783518225127
Gebunden, 88 Seiten, 18,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Sonja Finck. Dreizehn Tage nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1986 schreibt Annie Ernaux ein kurzes, schmerzhaftes Requiem. Und lässt die Mutter als Repräsentantin einer Zeit und eines Milieus auferstehen, das auch das ihre war. Das Leben ihrer Mutter: geboren um die Jahrhundertwende in der Normandie, Arbeiterin, dann Ladenbesitzerin, Ehefrau, zweifache Mutter, lebenslustig  und offen, Körper und Geist werden später langsam durch Alzheimer zerstört. Das Ende war für die Tochter vorauszusehen, die Wirklichkeit des Todes scheint indessen kaum erträglich.
Zeit ihres Lebens kämpfte die Mutter darum, ihren sozialen Status zu erhalten, ihn vielleicht sogar zu überwinden. Erst der Tochter wird dies gelingen, eine  Distanz zwischen den beiden entsteht. Auch darauf blickt Annie Ernaux zurück, voller Zärtlichkeit und Abscheu und Schuldgefühl.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 24.01.2020

Rezensentin Andrea Köhler zeigt sich tief berührt von Annie Ernauxs biografischer Annäherung an ihre Mutter. Wie immer eng gekoppelt an das Milieu, so Köhler, erzählt die Autorin von dieser Frau, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und verzweifelt bemüht, der Tochter etwas Besseres zu bieten; von der Kluft zwischen Mutter und Tochter und davon, wie sie später an Alzheimer erkrankte. Die Rezensentin ist fasziniert von der "kahlen" Sprache Ernauxs, die vielleicht deshalb so tief trifft, weil sie das blanke Leben an sich enthält, vermutet sie, und staunt, wie nüchtern und doch hingebungsvoll die Autorin die Mutter-Tochter-Beziehung analysiere. Eine besonders wichtige Rolle nimmt für Köhler dabei die Körperscham ein, die Ernaux von ihrer Mutter mit auf den Weg gegeben wurde. Das alles hat zunächst etwas sehr Schmerzhaftes und trägt auch Züge eines Abschieds von der verstorbenen Mutter als letzter Verbindung zur Herkunft Ernaux', meint die Rezensentin. Aber trotzdem sieht sie auch etwas Tröstliches in dem deutlich spürbaren "Wunsch nach Würdigung" diese Frau. Ein Buch, das ein "Echo" erzeuge, das einen so schnell nicht mehr verlasse, schließt sie.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 28.12.2019

Helmut Böttiger erkennt in Annie Ernaux' Herkunftsort in der Normandie einen Widerpart zu Marcel Prousts Combray. Die allegorische Kraft in Ernaux' Muttergeschichte von 1987, die sich laut Böttiger einreiht in die Folge anderer Bücher der Autorin, berührt den Rezensenten. Laut Böttiger erzählt Ernauxs über ihren sozialen Aufstieg durch Bildung und die Entfremdung von den eigenen Eltern schlicht, aber dicht und verleiht der Mutter mit "schmerzhaften Realitätspartikeln", wie Ritualen, Gesten und Sätzen, Konturen. Dass die Autorin auf Theorie verzichtet, aber atmosphärisch ein Lebensgefühl heraufzubeschwören vermag, gefällt Böttiger. Die Distanz im Text und das Wissen des Lesers um die eigentliche Nähe der Autorin zum Sujet rufen eine kaum erträgliche Spannung hervor, so der Rezensent.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 21.12.2019

Den Rezensenten Helmut Böttiger haben Annie Ernauxs Reflexionen über ihre Mutter tief beeindruckt: Ohne je die eigenen Gefühle in den Vordergrund zu drängen, seziert die Autorin ihm zufolge ihre Erinnerungen an jene Frau, die im Gegensatz zu ihr selbst nie aus dem proletarischen Milieu ihrer Kleinstadt herausgetreten ist. Anhand von Gesten, Ritualen, Kleidung und vielen weiteren Details nähert sich Ernaux der Mutter, die ihr fremd geworden ist, und überwindet dabei symbolisch die Entfremdung des akademischen Milieus von seiner sozialen Herkunft, sinniert Böttiger. Sowohl wegen ihrer "stilistischen Meisterschaft" als auch wegen der Aktualität ihrer autobiografisch inspirierten Schriften kann man die Autorin in den Augen des Kritikers in den Rang der großen französischen Schriftsteller*innen wie beispielsweise Proust erheben.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 12.12.2019

Rezensentin Antonia Baum weist auf die Zusammengehörigkeit der beiden letzten Bücher von Annie Ernaux hin. Das Vater- und das Mutterbuch. Letzteres, das die Geschichte einer Frau mit Ambitionen aus einfachen Verhältnissen erzählt, klar und ohne Analyse, wie Baum feststellt, besticht für die Rezensentin durch seine Allgemeingültigkeit. Wie Klassenunterschiede bis in die Sprache hinein wirken, beschreibt die Autorin, beständig ihre eigene Sprache mit reflektierend, lobt die Rezensentin. Das Ergebnis ist für sie ein kluges, genaues Buch, das die Leserin in ein Milieu versetzt und sie im besten Fall das eigene kritisch bedenken lässt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.2019

Sandra Kegel stößt auf die Ambivalenz einer Mutter-Tochter-Beziehung in diesem Buch von Annie Ernaux. Dass die Autorin 1987, kurz nach dem Tod der Mutter, beginnt, sprachlich schnörkellos über die eigene Herkunft und die Herkunft der Mutter aus einfachsten Verhältnisse Rechenschaft abzulegen, findet Kegel mutig. Die so entstandene Ich-Erzählung balanciert für Kegel zwischen Literatur, Geschichtsschreibung und Soziologie, wie sie es schon aus den Texten von Didier Eribon und Edouard Louis kennt. Ernaux spricht die Scham des Kindes an, das den Verhältnissen entkommen ist, entlarvend und mitfühlend zugleich, so Kegel.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 15.11.2019

Shirin Sojitrawalla ist gerührt angesichts von Annie Ernauxs Denkmal für ihre Mutter. Wie die Autorin die Beziehung zu ihrer Mutter schildert, vorsichtig tastend und genau die Erinnerung beschwörend, mit Sinn für Klassenzugehörigkeit, Landstriche und Zeiten, findet die Rezensentin großartig. In der präzisen Analyse von Befindlichkeiten und Scham erinnert das Buch sie an Mutter-Bücher von Doris Lessing und Peter Handke. Die weibliche Perspektive und das Herausarbeiten der feinen Unterschiede zwischen Mutter und Tochter gehören für Sojitrawalla zu den Besonderheiten dieses Mutter-Abschiedsbuches.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 02.11.2019

Barbara Vinken stellt fest, dass Annie Ernaux den Tod ihrer Mutter in den Kanon der französischen Literatur einschreibt, indem sie intertextuell an Camus, de Beauvoir und Flaubert anknüpft und das Romanhafte an dem Leben der Mutter herausarbeitet, die ihre Kriegserinnerungen als Abenteuerroman erzählte. Darüber hinaus gelingt es der Autorin laut Vinken aber auch mit ihrem Schreiben, die Frau hinter der Mutter auferstehen zu lassen, und zwar als etwas Unsentimentales, Lapidares, nicht Romanhaftes wie Vinken erklärt.