Vorgeblättert

Reinhard Baumgart: Damals, Teil 3

02.02.2004.
Ja, wir beide waren es auch, die eine Single mit All you need is love hineinschmuggelten in das letzte Abschiedsfest der Gruppe 47 und damit den illusionären Ringelreigen der längst nicht mehr Einigen provozierten. Geschmerzt hatte Hans Werner Richter dem leichtfertigen Treiben zugesehen, um später zu behaupten: Das war doch das Schönste, nein, das einzig Schöne in diesen Tagen in der fränkischen Pulvermühle. Denn dort wurde er, wie alle ernsten Gruppenauguren, von anderen Sorgen geplagt. Ganz neue, stumm aggressive Hinterbänkler waren aufgetaucht, junge Autoren wie Born und Delius und Buch, sanft angewidert von den politischen und literarischen Routinen der Alteingesessenen und offenbar nur gekommen, um die Gruppe als Sprungbrett für ihre Karrieren zu nutzen.

Vor dem Tagungssaal, jenseits des Pulvermühlbaches, war am Wochenende in bunten Klamotten und unter einer Vietcongfahne der SDS Erlangen aufmarschiert, forderte Resolutionen gegen Springer und den Vietnamkrieg und skandierte höhnisch im Sprechchor, als ultimative Beleidigung: Dichter! Dichter! Dichter! Nur zwei der Dichter, Hildesheimer und ich, wagten gegen das Richtersche Kontaktverbot ein Gespräch jenseits des Mühlbachs, und ich gestehe, daß mich vor allem eine langmähnige, rotgestiefelte Blondine über den Bach zog - in den Beginn einer kurzen Verliebtheit und langen Freundschaft, mit ihr und dem Häuptling der Erlanger Truppe, der heimlich Gedichte schrieb, kurz angebundene und freche, aber Mathematiker war. Ein kurzes, doch melancholisches Gedicht über den Bach der Pulvermühle wollte auch ich schreiben und schlug Günter Eich als erste Zeile vor: "Dieser Bach ist veraltet", wozu er als zweiten Vers beisteuerte: "Alle Bäche sind veraltet". Doch der vollständige, fragmentarische Wortlaut unserer Gemeinschaftsarbeit findet sich nicht mehr in meinem Gedächtnis.

Ausgespielt hatte nach zwanzig Jahren die Gruppe 47, man trat nun als Mitglied mit Ausweis in die Republikanischen Clubs ein, ich in Berlin wie in München. In Berlin sah ich Rudi Dutschke in den Clubräumen in der Wielandstraße beraten und agitieren, mit seinem immer vor Begeisterung leuchtenden Gesicht, sofort umringt von Genossen und vor allem Genossinnen, als wäre der Jakobinerclub des Jahres 1790 wiederauferstanden und dieser kleine charismatische Dutschke die Reinkarnation von Robespierre, St. Just und Danton in einer einzigen Person. In München sah ich den Revolutionsclown Fritz Teufel die Tische einer Schwabinger Kneipe besteigen und betanzen, um die Gründung des Münchener Clubs zu stören und auch die Vietcong-Sammlung des jungen Kammerspielstars Peter Stein, um diesen revolutionär bewegten Scheißliberalen ihre Stimmung zu vermiesen.

In unserem Grünwalder Haus fiel eines Nachts, nach einer dieser Schwabinger Versammlungen, ein Trupp von Hausbesetzern ein, angeführt von F.C. Delius, und die schleppten wie eine Drohung einen der damals vielumschwärmten schreibenden, dichtenden aus Gefängnishaft Entlassenen mit, Repräsentant der unterdrückten Klasse. Seinen Namen habe ich vergessen. Aber der, während seine Genossen Wein forderten und lächelnd überlegten, wie leicht die wenigen antiken Möbel in unserer modernen Einrichtung zu zerstören wären, kramte mit mir meine Platten durch und wollte keine Doors und keine Stones hören, sondern Beethoven auflegen, und zwar ausgerechnet die Pastorale. Gegen allgemeinen Protest konnten wir beide diesen stinkbürgerlichen Wunsch durchsetzen und lauschten nun einsam und isoliert in einer Ecke dem langsamen Satz, auch das noch.

Für mich eine Schlüsselszene der Zeit. Denn ein Gedicht von Delius hat sie überliefert und programmatisch verfälscht: in diesen gediegen brechtschen Versen ist es nun der Kulturkritiker B., dem in seiner Villa eine Lektion darüber erteilt wird, was die von B. schon schick verachtete bürgerliche Kultur, also Beethoven, für einen Deklassierten immer noch bedeutet. Dieser sanft terroristische Abend und dieses erfolgreich falsche Gedicht, damals als Schmuckstück zeitgemäßer Gesinnung viel nachgedruckt, machten mir nachhaltig klar, was uns in einer neuen Diktatur des Gutgemeinten und der Gutmeinenden bevorstehen könnte. Wie traurig später der Pastorensohn Delius immer lächelte, wenn ich ihm diese Perfidie vorhielt, die ihm womöglich nur unbewußt unterlaufen war. Denn - was den Vorfall eher peinlicher macht: Delius is an honourable man, so were they all, all honourable men!

Alle, wirklich alle? Als der Integerste von allen, Rudi Dutschke, von einem Verwirrten, Verhetzten, Deklassierten in Berlin auf helllichter Straße vom Fahrrad geschossen wurde, waren wir mit der Familie Walser zum Skifahren im Engadin. Martin, auch auf Skiern ein Spieler und Draufgänger, hatte sich beim Abfahren gleich am zweiten Tag den Arm gebrochen, aber auch mit weiß hochgeschientem Arm wollte er gleich wieder auf den Hang, nur ganz vorsichtig hinübergleiten ins Nachbardorf, dazu wollte er mich überreden, der ich als Langläufer immer nur im Tal unterwegs war. Er gab nicht auf, ich gab nicht nach, und plötzlich sahen wir immer noch hadernd und streitend die Fernsehbilder, Krawall in Berlin, Krawall sogar in München. Aber wir fuhren, statt dahin, über den Paß nach Norden zu einem literarischen Podiumsgespräch nach Konstanz. Über was wohl? Irgend etwas Dringendes, über Literatur und Engagement, die Verantwortung des Schriftstellers und des Schreibens, alles längst gelöscht und vergessen.

Ferienbilder, Gruppenbilder vor dem dunklen oder grellen Hintergrund der zeitgeschichtlichen Umbrüche und Schübe, fauler Zauber der Ungleichzeitigkeit, immer wieder und wieder. Auch in den Sylter Ferienwochen der drei Sommer 1966, 1967 und noch 1968, wo einmal noch am Strand, in den Dünen und an langen Abendtafeln alle zusammenkamen, die es bald auseinandertreiben sollte: Familie Walser und das Ehepaar Augstein, der Konkret-Chef Röhl und seine Ulrike Meinhof, Siegfried Unseld, Freimut Duve und seine ägyptische Gulnar, Christa und Klaus Dohnanyi, das Paar Coulmas aus Köln und eben wir und dazu Kinder, Kinder und das Versteckspiel mit heimlichen oder schon halb legitimierten Nebenlieben. 

Sogar unsere Kinder fingen schon an, sich ineinander zu verlieben. Und wir Eltern wußten noch immer nicht genau, ob wir nun zu der neuen permissiven oder noch zu einer gedankenlos strengen Erziehergeneration gehörten. Jedenfalls hörte ich mich nun öfter Sätze sagen, die alle einsetzten mit: Wir haben damals... oder: Du wirst es später schon einsehen, daß... Hörte meine besserwisserische Erwachsenenstimme und erinnerte mich im gleichen Augenblick daran, wie solche Sätze von oben herab, allwissend und ahnungslos, mich selbst vor Jahrzehnten angeödet hatten, als ein Wort wie "angeödet" noch nicht im Umlauf war. Wie sollten sich diese Sommerkinder auf Sylt auch unter ihren Eltern und deren Freunden zurechtfinden, die selbst so besinnungslos mit neuen Freiheiten und alten Bindungen herumexperimentierten? Und doch gibt es in der Erinnerung auch Gegenbilder, wie aus einer anderen Welt. Einmal, als Martin Walser und ich im Streit um eine Entscheidung beim Boulespiel am Strand in eine scheinernste Balgerei geraten waren, tauchte die schwangere Käthe Walser jäh aus ihrer Dünenkuhle auf, starrte mit entsetzt und dunkel aufgerissenen Augen auf die ringenden Männerleiber und sah mit ihrem von windzerzaustem schwarzen Haar umflatterten Haupt aus wie eine Ikone der Furcht und Sorge, ein Steinzeitweib in Angst um den Kindervater und Ernährer, ein archaischer Anblick, der auch die kindischen Männer und die zuschauenden Kinder für einen Moment erstarren ließ. 

Da schau, sagte Walser zu mir, genau deswegen ist er mein Verleger! Als nämlich der wuchtige Unseld von Augsteins schlappem Schlauchboot auf seine Wasserski gehievt werden sollte, aber immer nur bis zu den Knien hochkam, wieder einsackte, wieder hochtauchte, nicht losließ, nicht aufgab, bis er endlich zitternd vor Anstrengung doch die Wasseroberfläche durchpflügte. Um Minuten später in breitem Bogen aufzulaufen, hingeschleudert zu werden auf den körnigen Strand und sich eine breite Wunde in den Oberschenkel zu schürfen. So ist er, sagte Augstein, als der gleiche Verleger Unseld mitten im Gespräch aus unserer Dünenkuhle aufsprang, weil er unten an der Wasserlinie nackt einen wichtigen Professor und Herausgeber erkannt hatte, zu dem er nun wuchtig, wenn auch immer noch humpelnd, hinunterlief und sich noch im Laufen die Badehose herunterriß, um höflicherweise nackt mit dem nackten wichtigen Mann ein offenbar dringendes Gespräch aufzunehmen: So ist er, wird dich immer stehen und im Stich lassen, wenn ihm irgendwer oder irgendwas wichtiger ist als du.

Nicht am Strand, aber abends hielt in Kampen Ulrike Meinhof hof, bewundert wegen ihrer unermüdlich engagierten Argumentationslust, wegen ihres Selbstbewußtseins und der freundlichen Nachsicht mit ihren im Gespräch schon unterlegenen Gegnern. Wie stur konnte sie fragen, wie ernst ihren Standpunkt halten, wie unerwartet lachen, wie erbittert kämpfen, ohne jemanden scharf zu verletzen, wie überraschend, wohltuend war diese Wärme mitten im Streit, wie selten unter den linken Intellektuellen ihrer Generation. Ich bin nur Ulrikes Kotzbrocken, so stellte sich Klaus Rainer Röhl gern vor als Begleiter seiner Frau und hoffte dann auf Widerspruch. Doch ihm fehlte tatsächlich alles, was an ihr bewundert, ja geliebt wurde. Nicht daß und wie diese beiden auseinandergerieten, war uns später ein Rätsel, wohl aber, was Ulrike, diese späte Wiedergängerin von Jeanne d?Arc und Rosa Luxemburg, schließlich in diesen blutigen Politkrimi mit Baader hineinschlittern ließ, in diese schäbige Kopie von Bonnie and Clyde, und sie schien sich bis zuletzt einzubilden, es ginge dabei um die Befreiung der Erniedrigten und Beleidigten dieser Welt.

Aber sie war schon nicht mehr dabei im August 1968. Der Strand in dieser letzten Saison scheint in der Erinnerung leerer als in den Jahren davor, keine Kinder mehr, kein Augsteinsches Schlauchboot, kein nächtelanges Argumentieren, und auch unser Fotoalbum liefert keine Bilder von diesen späten Augusttagen auf Sylt. Als hätten sie nie stattgefunden. Aber da ist doch eine einzige, unvergeßliche Szene: Tut mir leid, euch zu stören, sagte Wolfgang Ebert und warf uns am Morgen des 21. August 1968 eine Zeitung in den Dünensand: Sie sind in Prag einmarschiert, es ist zu Ende. Es war zu Ende. Doch niemand wußte noch genau, was, und erst recht nicht, was daraus alles folgen sollte. 

Nur eines war bald klar: die für den Herbst nach Prag, in die Hauptstadt der Hoffnung auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" eingeladene Gruppe 47 würde dort nicht tagen können. Klar schien wenig später auch, daß damit dieser unmögliche und doch immer wieder real existierende Verein am Ende war. Erst nach neun Jahren, zum dreißigsten Geburtstag, sollte die Gruppe sich noch einmal im schwäbischen Saulgau versammeln, um sich gerührt und doch ergeben in ihr Schicksal selbst zu begraben. Es ist zu Ende, auch dieser Echosatz wurde dabei ausgesprochen, von Hans Werner Richter, der ihn unter Tränen nur noch undeutlich herausbrachte.

Mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlages

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