Vorgeblättert

Lorenz Jäger: Adorno, Teil 1

04.08.2003.
Aus Kapitel 16: Konflikt mit den Studenten, S. 277-292

Der Vietnam-Krieg der Vereinigten Staaten hatte den Protesten neue Gründe gegeben. Horkheimer hielt sich demonstrativ auf der Seite der Vereinigten Staaten, deren Mission der Rettung der Freien Welt vor den Gefahren des östlichen Kommunismus er sich ganz zu eigen gemacht hatte. Im Frankfurter Amerikahaus erklärte er im Mai 1967 zum Entsetzen seiner Studenten: "Wenn in Amerika es gilt, einen Krieg zu führen - und nun hören Sie wohl zu - einen Krieg zu führen, so ist es nicht so sehr die Verteidigung des Vaterlandes, sondern es ist im Grunde die Verteidigung der Verfassung, die Verteidigung der Menschenrechte".(18) Er erinnert die Kritiker der Vereinigten Staaten daran, "daß wir hier nicht zusammen wären und frei reden könnten, wenn Amerika nicht eingegriffen hätte und Deutschland und Europa vor dem furchtbarsten totalitären Terror schließlich gerettet hätte".(19) Adorno dagegen hielt eher den Kontakt zur studentischen Opposition, nicht zuletzt während der Proteste gegen die Notstandsgesetze. Als während des Besuchs des persischen Schahs am 2. Juni 1967 in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde, zeigte sich auch Adorno in seiner Soziologie- Vorlesung erschüttert. Aber nun wurden auch die Konflikte zwischen Lehrenden und Studenten offensichtlich. Jürgen Habermas hatte, kurz nach dem Ohnesorg- Schuß, am 9. Juni 1967 auf dem Kongreß "Hochschule und Demokratie" in Hannover die neuen Protestformen als "linken Faschismus" bezeichnet, was auf den heftigen Widerspruch von Rudi Dutschke stieß.
Jedenfalls wurde der Ton roher, Späße verwandelten sich in Verletzungen. Kunzelmanns Kommune hatte in Berlin Nachahmer gefunden, auch die "Kommune II" berief sich nun auf die Theorien Wilhelm Reichs zur sexuellen Befreiung. Man bewunderte die chinesische Kulturrevolution, ohne sich von ihrem Terror abschrecken zu lassen. Als Adorno am 7. Juni 1967, wenige Tage nach Ohnesorgs Tod, im Auditorium maximum der Freien Universität Berlin den Vortrag über den "Klassizismus von Goethes Iphigenie" hielt, der noch einmal seine Idee einer opferlosen Humanität entwickelte, verteilte die "Kommune II" höhnische Flugblätter: "Der große Zampano der Wissenschaft kommt! Was soll uns der alte Adorno und seine Theorie, die uns anwidert, weil sie nicht sagt, wie wir diese Scheiß-Uni am besten anzünden und einige Amerika-Häuser dazu."(20) Peter Szondi, der den Vortrag einleitete, forderte die Studenten, die dem Vortrag nicht zuhören wollten, auf, den Saal zu verlassen. Als Adorno begann, wurden Spruchbänder entrollt: "Ifigenisten aller Länder, vereinigt euch" und "Berlins linke Faschisten grüßen Teddy den Klassizisten". Rote Gummibärchen, die verteilt wurden, unterstrichen die Verspottung von "Teddie". Der Vorsitzende des Allgemeinen Studentenausschusses, Hartmut Häußermann - heute Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität -, entschuldigte sich in einem Brief bei Adorno, doch auf sehr gewundene Weise: "Die Grenze zwischen demonstrativer Meinungsäußerung (die auch unserer Ansicht nach vor Beginn durchaus legitim war) und gewaltähnlicher Störung scheinen unsere Kommilitonen dabei nicht scharf genug beachtet zu haben."(21) An Peter Szondi schrieb Adorno, die Entschuldigung komme "schon fast einer neuerlichen Kränkung gleich".(22)

Allerdings gab es einen sensiblen Punkt, in dem man heute der Kritik der Protestbewegung an Adorno zustimmen muß: Seine Edition der Schriften und Briefe Walter Benjamins enthielt manche Verschleierung. So wurden heikle Briefe - an den Staatsrechtler Carl Schmitt, an den Philosophen Ludwig Klages - aus politischen Gründen nicht aufgenommen. Schmitt und Klages waren Leute der Rechten, und jede Dokumentation eines Kontakts zwischen ihnen und Benjamin hätte für Verwirrung sorgen können ? Eine Passage über die marxistische Lehre vom "Bürgerkrieg" in Benjamins Rezension eines Sammelwerkes von Ernst und Friedrich-Georg Jünger zum Ersten Weltkrieg war in der Neuausgabe getilgt worden, ohne daß die Auslassung kenntlich gemacht worden wäre: Welche Ironie angesichts des Briefes von Ernst Jünger an Adorno, der von der Bewunderung für Benjamin gesprochen hatte! Die rebellierenden Studenten begannen, die klassenkämpferischen Ursprünge der Kritischen Theorie neu zu entdecken, während sich deren Urheber zumindest von der militanten Terminologie abgewandt hatten. 
In seinem Aufsatz "Marginalien zu Theorie und Praxis" antwortete Adorno auf die spektakulären Aktionen des SDS. Er hatte nun seinerseits mit den Protestierenden gebrochen, deren Führer ihm als geschickte Diskutanten, als brutal und narzißtisch, aktivistisch und wahnhaft erschienen. Tatsächlich lag hier ein strukturelles Problem der Soziologie von Adorno. Sie lebt aus der Spannung zwischen einem durchweg als feindlich wahrgenommenen sozialen Vordergrund und dem großflächigen begrifflichen Hintergrund, auf dem die Systemtendenzen - Statik und Dynamik, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft - verhandelt werden. Fluchtpunkt war der Begriff der Versöhnung, den die "Negative Dialektik" als "Eingedenken des nicht länger feindselig Vielen" definiert. Wo Adorno Konflikte sah, dort konnte er Würde und Menschlichkeit nicht mehr erkennen, und es war nur konsequent, daß er in der empirischen Untersuchung über den "Autoritären Charakter" die Meinung, Konflikte werde es immer geben, als zynischen Ausdruck "generalisierter Feindseligkeit" gedeutet hatte. Schon die frühe Arbeit über das Lehrer- Schüler-Verhältnis sah den sozialen Konflikt als Form bösartiger, neidischer Feindseligkeit. In Adornos letzter soziologischer Arbeit, den 1968 gemeinsam mit Ursula Jaerisch verfaßten "Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute", wurde der Konsumgesellschaft der sechziger Jahre die im Kern identische Diagnose gestellt: "verdrückte und fehlgeleitete Aggressionen", "Zänkereien" und wiederum "Neid".(23) Adornos Forderung, bis ins Gestische hinein die sozialen Konflikte der beobachten, hatten schon die "Minima Moralia" im Amerika der vierziger Jahre einge- löst. Ein Volk von Haustyrannen, keifenden Ehefrauen und unverschämten Teenagern erscheint, das später auf den Begriff der "antidemokratischen Individuen mit stark aggressiven Zügen" gebracht wird. Wenn in der Soziologie Georg Simmels - die allerdings noch die Rechtssicherheit des wilhelminischen Deutschland zur Voraussetzung hatte - der Streit als Bereicherung einer Biographie interpretiert werden konnte, so stellte sich für Adorno bereits in den mikroskopischen Formen des Konflikts die Erinnerung an Wahn und Vernichtungswillen ein. Simmels Absicht, das Spiel der gegensätzlichen Schwingungen als höhere Form der Bildung nachzuweisen, entsprach dem Selbstbewußtsein deutscher Juden um 1900. Adorno, der wesentlich Jüngere, sah hier nur noch die apologetische Tendenz. Unter dem, was seine Generation erlebte, erstarrte seine Soziologie zu einer Phänomenologie der Anfeindungen. Die Studenten, die im Sommersemester 1968 Adornos Soziologie-Vorlesung hörten, mußten gegenüber den Konflikten, auf die sie zusteuerten, so ratlos bleiben wie ihr Lehrer. Vehement wurde von Adorno noch einmal der Gedanke abgewehrt, bei sozialen Konflikten könne es sich um eine "Eigenschaft der Gesellschaft an sich"(24) handeln - aber damit war zugleich der Weg zu einer wirklichen Analyse verbaut. Als die Aktionen ein halbes Jahr später auch das Institut für Sozialforschung erreichten, konnte Adorno nur noch wiedererkennen, was er von jeher in Konfliktsituationen erkannt hatte: "autoritätsgebundene Charaktere", wie es in den "Marginalien" heißt, die sich "aggressiv nach außen" richteten.(25)
     Aber es ging nicht nur um die Studenten. Jeder begann nun, an Adorno zu zerren, von allen Seiten schlug ihm Kritik an seiner individualistischen Position entgegen. György Ligeti, der aus Ungarn geflohen war, hielt ihm vor, den marxistischen Studenten zu viele Konzessionen gemacht zu haben; Günter Grass beklagte in seinen Briefen an Adorno, daß dieser sich nicht deutlicher für die Sozialdemokratie erkläre. Sein Gedicht "Adornos Zunge" gab der Enttäuschung Ausdruck:

"Er saß in dem geheizten Zimmer
Adorno mit der schönen Zunge
und spielte mit der schönen Zunge.

Da kamen Metzger über Treppen,
die stiegen regelmäßig Treppen,
und immer näher kamen Metzger.

Es nahm Adorno seinen runden
geputzten runden Taschenspiegel
und spiegelte die schöne Zunge.

Die Metzger aber klopften nicht.
Sie öffneten mit ihren Messern
Adornos Tür und klopften nicht.

Grad war Adorno ganz alleine,
mit seiner Zunge ganz alleine,
es lauerte auf?s Wort, Papier.

Als Metzger über Treppenstufen
das Haus verließen, trugen sie
die schöne Zunge in ihr Haus.

Viel später, als Adornos Zunge
verschnitten, kam belegte Zunge,
verlangte nach der schönen Zunge, -

zu spät."(26)

In Frankfurt konnte Adorno den Dialog mit seinen radikalisierten Schülern zunächst noch aufrechterhalten. Erst im Wintersemester 1968/69 eskalierte die Situation zum "aktiven Streik", der Institutsbesetzungen einschloß. Auch das Institut für Sozialforschung wurde nun okkupiert. Die Leitung ließ das Haus polizeilich räumen, Adorno erstattete Strafanzeige gegen Krahl wegen Hausfriedensbruch. Krahl, Jahrgang 1943, vom Bombenkrieg gezeichnet - er hatte durch einen Splitter ein Auge verloren -, war unter den jüngeren Philosophen angetreten, Adornos Theorie aufzunehmen und zu radikalisieren. In seiner Erklärung vor Gericht, "Angaben zur Person", schilderte er sein Leben als "Odyssee durch die Organisationsformen der bürgerlichen Klasse"(27) ganz nach dem Muster, das Adorno in seinem Kampf gegen den "Jargon der Eigentlichkeit" vorgezeichnet hatte. Begonnen hatte er in der Provinz am rechten Rand: "In Niedersachsen, jedenfalls in den Teilen, aus denen ich komme, herrscht noch zum starken Teil das, was man als Ideologie der Erde bezeichnen kann, und so habe auch ich mich, als ich meinen politischen Bildungsprozeß durchmachte, zunächst nicht anders als im Bezugsrahmen der Deutschen Partei bis zur Welfenpartei bewegen können."(28) Es war, so fährt er fort, "ein enormer Schritt an Aufklärung, als ich in meiner Heimatstadt Alfeld im Jahre 1961 die Junge Union gründete und der CDU beitrat". Es folgten das Engagement in der Kirche, dann der Beitritt zu einer schlagenden Verbindung. Dort wurde er herausgeworfen und schloß sich dem SDS an. "Organisation" stand im Mittelpunkt von Krahls Denken. Er wußte aus eigener Erfahrung, wie sie im einzelnen funktionieren, wie sich Loyalitäten bilden und wieder verlieren können, wie man Organisationen gründet und wie sie zerfallen. Was Georg Lukacs in seinem Text "Methodisches zur Organisationsfrage" in den zwanziger Jahren für die kommunistische Bewegung geleistet hatte, wollte Krahl für die studentische Protestbewegung leisten: Wenn er einmal eine Philosophie schreibe, so sagte er stolz, dann nicht unter dem Niveau dieses Textes. Krahls Opposition zur Gesellschaft der Bundesrepublik war sicher auch durch seine Außenseiterstellung als Homosexueller bedingt, in seinem Pathos der Organisation schwang im Hintergrund noch etwas vom homoerotischen Bund der Jünglinge durch, der sich gegen die Welt der Alten erhebt. Aus der mythisch angehauchten Gesellschaft des Dorfes war er in die Städte gekommen, um sich der Wissenschaft zu widmen. Tragische Ironie lag in seinem frühen Tod am 16. Februar 1970: Er wurde Opfer eines Autounfalls, eines technischen Todes, um den sich kein Mythos mehr weben konnte. Als "sinnlose" Sozialordnung war ihm der Kapitalismus erschienen, in dem der Weltmarkt zum Schicksal werde. Es sind nur Fragmente einer Philosophie, die Krahl hinterlassen hat, und erst in den Schriften seiner letzten Lebensmonate trat er aus dem Marxismus heraus - weder Auschwitz noch die Entwicklungen des Gegenwartskapitalismus glaubte er mit der klassischen Theorie begreifen zu können. Oft waren es unvermittelte Sätze, in denen er sich ausdrückte; Theorie im großen Sinn schwebte ihm vor, aber entwickelt wurde sie in der rasanten, sich überschlagenden Entwicklung zwischen 1966 und 1970. Berichte seiner Freunde lassen vermuten, daß er, der Züge asozialen Verhaltens hatte - er war schwerer Alkoholiker -, sich von der Organisation auch persönliche Stabilisierung versprach. Unfähigkeit zur Organisation sei "demoralisierend",(29) führe zur "Selbstzerstörung" und zum "Asozialitätssyndrom",(30) verkündete er. "Organisation" hatte Hans-Jürgen Krahl an die Stelle gesetzt, an der bei Adorno Kunst gestanden hatte. Am 1. Februar 1969 wurde Krahl während des "Aktiven Streiks" im Institut für Sozialforschung festgenommen; Ludwig von Friedeburg hatte gegen die Besetzer die Polizei gerufen. Die Tatbestände lauteten auf Nötigung und schweren Hausfriedensbruch, Krahl wurde in Untersuchungshaft genommen.

---------------------------------

(18) FAB VI, 196
(19) l.c.
(20) a.a.O., 122
(21) a.a.O., 126
(22) l.c.
(23) GS 8,
(24) Soziologievorlesung
(25) GS, 10, 774
(26) zitiert nach: Deutsche Balladen. Hrsg. von Hartmut Laufhütte. Ditzingen 1991, 533
(27) Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf. Frankf. 1974, 20
(28) a.a.O., 19
(29) a.a.O., 304
(30) a.a.O., 305


Teil 2