Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Teil 1

19.03.2007.
Biographie schreiben - Leben erzählen

Zu Marieluise Fleißers 70. Geburtstag im November 1971 forderte
der Dramatiker Franz Xaver Kroetz in der Süddeutschen Zeitung: "Der Suhrkamp Verlag sollte endlich auch eine Gesamtausgabe der Fleißerschen Werke herausbringen." Es gab damals nicht nur keine Gesamtausgabe, das literarische Früh- und Hauptwerk der Schriftstellerin Marieluise Fleißer war so gut wie verschollen, ungelesen, unüberprüfbar. Ein Jahr zuvor erst hatte "das Wunder" begonnen, das Wunder ihrer Wiederentdeckung, Wiedererkennung, begleitet vom großen späten Ruhm.

Zweimal in ihrem Leben hatte sie wirklich Erfolg. Der erste, 1929 mit der Berliner Aufführung der Pioniere in Ingolstadt, war so glanzvoll wie umstritten und brach - in Verbindung mit persönlichen Umständen - ihre Karriere ab. Der zweite am Ende ihres Lebens kam zu spät, aus Ruhm wurde Nachruhm, aus Nachruhm Legende. Dazwischen liegen Jahrzehnte eines unglücklichen, engen, einzig an Mangel, Entbehrungen, Enttäuschungen reichen Lebens: materieller Mangel, nackter Hunger und völlige Mittellosigkeit, Mangel an Liebe, an erfüllter Sexualität, Mangel an intellektuellen Kontakten, an Austausch mit Ebenbürtigen, Mangel an öffentlicher Anerkennung ihres Schreibens, an Erfolg. Wären da nicht ihre "Fluchtwege im Kopf", ihre einzigartige dichterische Könnerschaft, es lohnte kaum, von ihr zu erzählen.

Heute ist Marieluise Fleißer auf sonderbare Weise unbekannt und prominent zugleich: Es gibt Marieluise-Fleißer-Straßen und eine Briefmarke, ein ICE führt unter ihrem Namen. Ihre Lebensgeschichte - oder was davon in die Legenden einging, das Brecht-Erlebnis vor allem - hat sich verselbständigt, wieder in Literatur verwandelt. In Elaine Feinsteins Roman Loving Brecht (London 1993) tritt zwar keine Fleißer-Figur auf, aber im Kern erzählt er die Fleißer-Brecht-Episode, so wie sie durch die Rezeption von Fleißers Erzählung Avantgarde zur Legende geworden ist. Fleißers Übersetzerin ins Englische, TinchMinter, diente dieser Stoff als Vorlage zu einem Theaterstück: Growing herself some Armour. Johann Kresniks und Uschi Ottens choreographisches Theater Brecht (1998) schwelgt im Leiden der Geliebten und Mitarbeiterinnen durch den sexbesessenen Frauenhasser Brecht; Marieluise Fleißer spielt darin eine zentrale Rolle, und ihre Sprache hat den Ton vorgegeben. Die Theaterstücke Atzenköfls Töchter von Kerstin Hensel und Marieluise von Kerstin Specht (an den Münchner Kammerspielen aufgeführt unter dem Titel Die Rückseite der Rechnungen) waren Ingolstädter Auftragsarbeiten zum 100. Geburtstag der Dichterin 2001, beider Thema ist mehr oder weniger die Lebenserzählung Marieluise Fleißers. Sie ist eine Literatin, die zu Literatur geworden ist. In einer Zeit, da uns Dichter-Heroen und ihre Biographien suspekt sind und absichtsvoll unterlaufen werden, ein ungewöhnlicher Fall.

Jene 1971 von Kroetz geforderte Gesamtausgabe erschien bereits ein Jahr später und stellte einen gewaltigen Kraftakt dar. In einer konzertierten Aktion von Autorin, Herausgeber und Verleger entstand eine dreibändige, ausführlich kommentierte Ausgabe. Kaum ein Text blieb unbearbeitet, sozusagen in letzter Minute wurden neue Fassungen erstellt, neue Titel gefunden; zahlreiche Texte wurden aus dem Gesamtoeuvre ausgeschieden, Anmerkungen unterstützen und steuern die Lektüre, ein Essay des Herausgebers über Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer aus Ingolstadt im ersten Band führt in die Lektüre ein und weist dieser die Richtung: "Da bei der Fleißer alles von Biographie ausgeht, da Biographie sich direkt in Literatur umsetzt, schlägt auch die Literatur bei ihr wieder in Biographie zurück." 1973 stellte der Herausgeber der Gesamtausgabe einen hilfreichen Materialienband zur Seite, der die frühen Theaterkritiken, Rezensionen und Würdigungen wieder zugänglichmachte. Darin ist am Ende ein Text abgedruckt mit der Überschrift Notizen und dem voranstehenden Herausgeberkommentar: "Die folgende Biographie ist eine 'Autobiographie'." Im IV., dem Ergänzungsband der Gesamtausgabe von 1989, erhielt dieser Text dann den vom Herausgeber formulierten Titel Meine Biographie und damit endgültig die Autorität einer authentischen Autobiographie. In Wahrheit ist es ein in der distanzierenden dritten Person abgefaßter kalendarischer Lebensabriß, changierend zwischen Fakten und Fiktionen. In einem Gespräch mit der Dichterin formuliert der Herausgeber programmatisch: "Ihr Lesebuch ist ihr Leben, ihr Leben ihr Auskunftsbuch." Fast alle biographischen Aussagen über Fleißer folgen seither Satz für Satz diesen Notizen. Selbst außerordentlich sensible, reflektierte Leserinnen und Schriftstellerinnen wie Christa Wolf oder Elfriede Jelinek verlieren bei der Lektüre die Grenze von Leben und Literatur aus den Augen, übersehen im Sog der Leidensgeschichten, daß diese Selbstaussagen ihrerseits Literatur sind, fiktive Lebenserzählung, und im Kontext ihrer Entstehung in den letzten Lebensjahren der Autorin gelesen werden müssen.

Es ist nicht mehr die Heldenrolle, die fasziniert, sondern die Opferrolle: "Las wieder, wie zum erstenmal, Marie-Luise Fleißers Avantgarde", notiert Christa Wolf am 23. August 1980 in ihr die Entstehung der Kassandra-Erzählung begleitendes Tagebuch, "Trauer über das Schicksal dieser Frau, das mir unmenschlich, unglaubhaft,unmöglich vorkam. Ausgebeutet von allen, mißhandelt wie ein Tier. Die Männergesellschaft im Rohzustand, vom kommunistischen Dichter bis zum herzzerreißend kleinbürgerlichen Tabakhändler und zum Nazi-Hauswart, trifft sie unvermittelt." Und Elfriede Jelinek kennt nur einen Schuldigen an Fleißers Lebenskatastrophe: "Brecht, der sie zerstört hat als Dramatikerin." Das Schicksal dieser Frau, wir werden es sehen, ist wahrlich leidvoll, aber es ist niemals gleichzusetzen mit dem ihrer Figuren, mögen der Erzählrahmen, der Ort, die Personen darin noch so verwandt mit denen der Autorin sein.

Es ist an der Zeit, dem Sog zu widerstehen und solche Bilder aus der Distanz zu überprüfen. Inzwischen ist so viel biographisches und publizistisches Material neu aufgefunden worden, daß ein Porträt Marieluise Fleißers deutlichere Konturen erhalten kann. Freilich: Viel größer als die in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts neu entdeckten Korrespondenzen sind die Lücken, die Leerstellen im biographischen Material. Man muß sich darüber im klaren sein: Für die Zeit von der Kindheit bis zum ersten Höhepunkt ihrer Laufbahn und ihrer tiefen Zäsur 1929 ist bislang in öffentlich zugänglichen Nachlässen ein einziger privater Brief von Marieluise Fleißer bekannt, 1926 an den Vater aus Berlin, und auch er berichtet ausschließlich von Beruflichem. Von einem Tagebuch ganz zu schweigen. Kein einziger Brief an einen jener Männer, zu denen sie in dieser Zeit in enger Verbindung stand, ist erhalten, keiner an Alexander Weicker, keiner an Lion Feuchtwanger, keiner an Bert Brecht, an Hannes Küpper, an Bodo Uhse, auch keiner an Bepp Haindl. Das ist kein singuläres Phänomen, vielmehr typisch für den männlichen Umgang mit Korrespondenzen in Paarbeziehungen, ob es sich um Martin Heideggers Umgang mit den Briefen Hannah Arendts, Hans Werner Henzes mit denen seiner Freundin Ingeborg Bachmann oder Brechts mit denen Bi Banholzers oder Marianne Zoffs handelt. Für die Biographin fehlt die Stimme der Frau ganz und gar. Wenige persönliche Bemerkungen, meist solche der Entschuldigung, der Verzagtheit, der Angst, finden sich in geschäftlichen Briefen, in denen Marieluise Fleißer sich um Abdruckmöglichkeiten für ihre Arbeiten bemüht, an Efraim Frisch, an Herbert Ihering, an Alfred Kerr. Alles, was wir über die junge Marieluise Fleißer wissen, stammt aus Bildern, die sich andere von ihr gemacht haben - und aus ihrer eigenen spät erzählten Geschichte.

Die Opferrolle allein kann es nicht sein, die diese ungewöhnlich eigensinnige Schriftstellerin in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts einnimmt. Ich möchte Marieluise Fleißer als Handelnde ausfindig machen, nicht nur als eine (zumeist schlecht) Behandelte. Ich möchte ihre eigenen Handlungsräume, ihre Handlungsmöglichkeiten sichtbar machen, die Lebensbedingungen, unter denen sie geschrieben, die literarische Szene, in der sie agiert hat, möchte dem Echo, das ihr Werk ausgelöst hat, nachgehen.

Max Frischs so oft zitierter Satz gilt für eine Schreibkünstlerin vom Range Marieluise Fleißers auf besondere Weise: "Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält [. . .] oder eine ganze Reihe von Geschichten." Die Kunst der Poesie ist es, die die Trennungslinie zwischen Leben und Lebenserfindung verschwinden läßt. Sie freizulegen ist Aufgabe der Biographin. Deshalb müssen über allen Bemühungen um eine gerechte Annäherung an Marieluise Fleißer die Fragen stehen: Welches Bild, welche Bilder hat sie von sich selbst entworfen? Und welches sind die Faktoren, die Ereignisse, welches sind die Bedingungen in ihrem Leben, die gerade diese Lebenserzählung nötig machten?

Nicht, daß man mit Hilfe der Darstellung dieses Lebensweges ihre Dichtung so viel besser verstehen oder sie gar erklären könnte. Der biographische Hintergrund ist zum Verständnisükaum erforderlich. Erforderlich ist vielmehr das Gegenteil, das Abtragen der autobiographischen Übermalung durch die Rezeption. Die Kenntnis der Lebensumstände kann Aufschluß gebenüber die Phasen desNichtschreibens, über Mißlingen und Scheitern und über die Gründe möglicher Lebenslaufverschiebungen.

Marieluise Fleißer war eine Schriftstellerin nicht nur im, sondern des zwanzigsten Jahrhunderts, geprägt von seiner materiellen Instabilität, betroffen von seinen Kriegen, von seinen politischen Polarisierungen und ideologischen Turbulenzen. Sie war weder eine politisch Denkende noch politisch Handelnde. Aber die politischen wie die geistigen Koordinaten des Jahrhunderts ließen keinen Raum für ein politikabstinentes Leben. Den Nachgeborenen wird nicht selten vorgeworfen, daß sie es sich zu leicht damit machen, damalige Entscheidungen und Verhaltensweisen zu mißbilligen. Die Absicht, solchen Vorwurf zu vermeiden, darf dennoch nicht dazu führen, sie zu übersehen.

Selbstverständlich kann auch dieses Buch nichts anderes sein als der Rekonstruktionsversuch einer Lebensgeschichte neben möglichen anderen. Man hätte auch anders erzählen können. Ich habe mich für das Muster entschieden, so eng wie möglich der Chronologie zu folgen. Nur durch präzise Rekonstruktion der Chronologie werden die Widersprüche zwischen den historischen Tatsachen und der Literarisierungen sichtbar.

Leseprobe Teil 2


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