Vorgeblättert

Leseprobe zu Timothy Snyder: Bloodlands. Teil 3

11.07.2011.
Während Stalin arbeitete, inspirierte Hitler seine Anhänger. Stalin institutionalisierte eine Revolution und sicherte sich dadurch einen Platz an der Spitze eines Einparteienstaats. Hitler dagegen machte politisch Karriere durch die Ablehnung der bestehenden Institutionen. Die Bolschewiki erbten aus den Jahren der Untergrundarbeit im zaristischen Russland eine Tradition von Debatte und ­disziplinierter Umsetzung. Die Nationalsozialisten besaßen keine Traditionen von Disziplin oder Konspiration. Wie die Bolschewiki lehnten sie die Demo­kratie ab, allerdings im Namen eines Führers, der den Willen seiner Rasse verkörperte, nicht im Namen einer Partei, die die Gesetze der Geschichte erkannte. Die Weltordnung sahen sie statt von kapitalistischen Imperialisten von einer jüdischen Weltverschwörung beherrscht. Das Problem der modernen Gesellschaft lag für sie nicht in der Dominanz einer Klasse durch die Akkumulation des Kapitals, sondern darin, dass die Juden nicht nur den Finanzkapitalismus, sondern auch den Kommunismus kontrollierten, und damit die USA, Groß­britannien und die Sowjetunion. Der Kommunismus sei bloß ein Märchen von unmög­licher Gleichheit, um naive Europäer unter jüdische Herrschaft zu ­ bringen. Die Antwort auf den gefühllosen jüdischen Kapitalismus und Kommunismus könne nur der Nationalsozialismus sein, der Gerechtigkeit für die Deutschen auf Kosten anderer bedeutete.
     Während der Weimarer Republik betonten die Nazis eher, was sie mit den anderen Deutschen verband. Die NSDAP teilte den Abscheu der meisten übrigen Parteien für den Versailler Vertrag. Sie war von ihrer zukünftigen Bestimmung im Osten besessen. Hier hatten deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg siegreich gekämpft, und Deutschland hatte 1918 eine große Besatzungszone in Polen, Weißrussland, der Ukraine und dem Baltikum regiert. Im Gegensatz zu europäischen Rivalen wie Frankreich und England besaß Deutschland kein großes Kolonialreich, seine bescheidenen Besitzungen in Übersee hatte es nach dem Krieg verloren. Umso mehr wuchs die Bedeutung der Ostgrenze. Die Sowjetunion, für die Nazis ein illegitimes jüdisches Unterdrückerregime, musste fallen. Polen, das Deutschland den Weg nach Osten versperrte, musste ebenfalls besiegt werden. Es konnte kein Puffer gegen die deutsche Macht sein: Es musste in den kommenden Kriegen entweder ein schwacher Verbündeter oder ein besiegter Feind sein.
     Im November 1923 zettelte Hitler in München einen Putschversuch an, der zu einer kurzen Haftstrafe führte. Obwohl die Substanz des Nationalsozialismus sein eigenes Werk war, orientierte sich dieser Versuch am Erfolg der von ihm bewunderten italienischen Faschisten. Benito Mussolini hatte im Jahr zuvor die Macht nach seinem "Marsch auf Rom" übernommen, den Hitler in München erfolglos imitierte. Ebenso wie Hitler und seine Partei boten die italienischen Faschisten eine Glorifizierung des nationalen Willens jenseits der Langeweile politischer Kompromisse. Mussolini und in seiner Nachfolge Hitler nutzten die Existenz der Sowjetunion in der Innenpolitik aus. Beide bewunderten die Disziplin Lenins und das Modell des Einparteienstaats, benutzten aber die Drohung einer kommunistischen Revolution als Argument für die eigene Herrschaft. Trotz vieler Unterschiede verkörperten sie eine neue Art der europäischen Rechten, die den Kommunismus als großen Feind beschwor, während sie zugleich bestimmte Aspekte seiner Politik nachahmte. Wie Mussolini war Hitler ein begabter Redner und die einzige dominierende Persönlichkeit seiner Bewegung. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Dezember 1924 hatte Hitler wenig Mühe, wieder an die Spitze der NSDAP zu treten.
     Stalin kam in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre vor allem deshalb an die Macht, weil er auf die Parteikader vertrauen konnte, die er selbst ernannt hatte. Hitler profitierte von seinem persönlichen Charisma und erwartete, dass seine Mitstreiter und Unterstützer Maßnahmen und Argumente ausarbeiteten, die seiner Rhetorik und Weltsicht entsprachen. Stalin interpretierte den Marxismus als notwendig, um seinen Aufstieg zu beschleunigen und seine Maßnahmen zu rechtfertigen, aber zumindest bis 1933 war er noch nicht so frei, den Marxismus ganz nach eigenem Ermessen zu interpretieren. Hitler dagegen inspirierte andere dazu, eine Ideologie zu entwerfen. Im Gefängnis hatte er den ersten Band seines biographischen Manifests Mein Kampf geschrieben. Diese und andere Schriften (vor allem sein sogenanntes Zweites Buch) brachten seine ­Pläne klar zum Ausdruck, waren aber nicht Teil eines Kanons. Stalin war zunächst noch durch die Handlungen seiner Genossen eingeschränkt und später über ihre Äußerungen besorgt, Hitler brauchte seit der Bamberger Führertagung von 1926 nie auch nur den Anschein von Dialog oder konsistentem Denken aufrechtzuerhalten.
     Nach seiner Haftentlassung schloss Hitler einen gewissen Kompromiss mit der deutschen Republik. Er praktizierte als Führer der NSDAP parlamentarische Politik, wenn auch nur als Mittel, um Propaganda zu verbreiten, Feinde zu identifizieren und sich den Machtinstitutionen zu nähern. Er versuchte, nicht mehr selbst ins Gefängnis zu kommen, während sich gleichzeitig SA-Trupps mit ihren Gegnern der Linken schlugen. 1928 gewannen die Nazis bei den Wahlen nach mehreren Jahren des Wirtschaftswachstums nur 2,6 % der Wählerstimmen und 12 Sitze im Parlament. Dann kam die Weltwirtschaftskrise, die Hitler noch mehr nützte als Stalin. Der Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft beschwor das Gespenst der kommunistischen Revolution herauf, und beides half Hitler an die Macht. Die internationale Wirtschaftskrise schien radikalen Wandel zu rechtfertigen, und die scheinbare Möglichkeit einer Revolution unter Führung der starken KPD förderte Ängste, die Hitler für den Nationalismus ausnutzen konnte. Im September 1930 errang die NSDAP 18 % der Stimmen und 107 Sitze, im Juli 1932 gewann sie die Wahlen dann mit nicht weniger als 37 %.
     1932 waren Parlamentswahlen in Deutschland schon eher eine Demonstration der Massenunterstützung als ein direkter Weg zur Macht, da die Demokratie nur noch formal existierte. In den vergangenen beiden Jahren hatte der Reichspräsident auf Betreiben der Kanzler Notverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. 1932 trat der Reichstag nur dreizehnmal zusammen. Im Januar 1933 wurde Hitler mit Hilfe der Konservativen und Nationalisten zum Reichskanzler ernannt. Sie meinten ihn benutzen zu können, um die starke Linke von der Macht fernzuhalten. Hitler setzte rasch Neuwahlen an und nutzte seine neue Stellung, um die Hegemonie seiner Partei über die deutsche Gesellschaft in Gang zu bringen. Als die Ergebnisse am 5. März 1933 verkündet wurden, hatte die NSDAP Sozialdemokraten wie Kommunisten dramatisch geschlagen: 43,9 % der Wählerstimmen brachten ihr 288 von 647 Sitzen im Reichstag.
     Im Frühjahr 1933 baute Hitler das politische System Deutschlands um - zur gleichen Zeit, als Stalin seine persönliche Autorität in der Sowjetunion festigte.

Im Jahr 1933 teilten Sowjet- und NS-Regime scheinbar die Fähigkeit, auf die Weltwirtschaftskrise zu reagieren. Beide strahlten Dynamik zu einem Zeitpunkt aus, als die liberale Demokratie unfähig schien, die Menschen vor Armut zu bewahren. Die meisten europäischen Regierungen, auch die deutsche vor 1933, hatten geglaubt, nur wenige Mittel gegen die Wirtschaftskrise zur Verfügung zu haben. Nach vorherrschender Meinung sollten die Haushalte ausgeglichen und die Geldmenge verknappt werden. Wie wir heute wissen, machte das die Lage nur schlimmer. Die Weltwirtschaftskrise schien die politischen Antworten auf das Ende des Ersten Weltkriegs zu diskreditieren: freie Märkte, Parlamente, Nationalstaaten. Der Markt hatte eine Katastrophe gebracht, kein Parlament fand anscheinend eine Antwort darauf, und den Nationalstaaten fehlten die Instrumente, um ihre Bürger vor Verarmung zu schützen.
     Nationalsozialisten und Sowjets hatten eine machtvolle ideologische Antwort, wer an der Krise schuld sei (jüdische Kapitalisten oder Kapitalisten als solche), und authentisch radikale Positionen zur politischen Ökonomie. Beide lehnten nicht nur die juristische und politische Form der Nachkriegsordnung ab, sondern stellten auch ihre wirtschaftliche und soziale Basis in Frage. Sie gingen zurück zu den wirtschaftlichen und sozialen Wurzeln Europas nach 1918 und betrachteten die Lebensweise der Männer und Frauen, die auf dem Land arbeiteten. Im Europa der dreißiger Jahre stellten in den meisten Ländern die Bauern immer noch die Mehrheit, und Ackerland war eine wertvolle Ressource für Volkswirtschaften, die noch von Tieren und Menschen angetrieben waren. Kalorien wurden gezählt, aber aus anderen Gründen als heute: Die Wirtschaftsplaner mussten sicherstellen, dass die Bevölkerung ernährt und produktiv erhalten werden konnte.
     Die meisten europäischen Staaten hatten keine Aussicht auf soziale Transformation und konnten daher Nationalsozialisten und Sowjets wenig entgegensetzen. Polen und einige andere neue Staaten in Osteuropa hatten in den zwanziger Jahren eine Landreform versucht, doch ihre Anstrengungen hatten sich als unzureichend erwiesen. Großgrundbesitzer betrieben Lobbyismus, um ihren Besitz zu behalten, und Banken und Staatsbehörden gaben Bauern nur widerwillig Kredite. Das Ende der Demokratie in der ganzen Region (außer in der Tschechoslowakei) brachte wenig neues Denken in ökonomischen Fragen. ­Autoritäre Regime in Polen, Ungarn und Rumänien zögerten weniger, ihre ­Gegner einzusperren, und hielten mehr schöne Reden über die Nation. Nichts davon versprach aber eine neue Wirtschaftspolitik in der großen Krise.
     Die von Nazis und Sowjets im Jahr 1933 gebotenen Alternativen zur Demokratie hingen von ihrer Ablehnung einer einfachen Landreform ab, die inzwischen das diskreditierte Heilmittel der gescheiterten Demokratien war. Trotz all ihrer Gegen­sätze waren Hitler wie Stalin überzeugt, eine Wurzel des Problems sei der Agrarsektor und die Lösung eine drastische staatliche Intervention. Wenn der Staat eine radikale ökonomische Umwälzung durchführen konnte, würde das eine neue Art von politischem System stützen. Die seit dem Beginn von Stalins Fünfjahresplan 1928 bekannte Lösung war die Kollektivierung. Sowje­tische Führer erlaubten den Bauern in den zwanziger Jahren Wohlstand, nahmen ihnen aber Anfang der dreißiger Jahre das Land weg, um Kolchosen zu errichten, wo sie für den Staat arbeiten sollten.
     Hitlers Antwort auf die Bauernfrage war ebenso einfallsreich und ebenso gut getarnt. Vor 1933 und sogar noch einige Jahre danach schien es, als gehe es Hitler vor allem um die deutsche Arbeiterklasse und als wolle er Deutschlands Nahrungsmittelversorgung durch Importe sichern. Eine Politik der raschen (und illegalen) Aufrüstung holte Arbeitslose von der Straße und steckte sie in Kasernen oder Rüstungsfabriken. Staatliche Beschäftigungsprogramme begannen wenige Monate nach Hitlers Machtübernahme. Es schien sogar, als wollten die Nazis weniger für die deutschen Bauern tun, als sie angekündigt hatten. Obwohl das Parteiprogramm der NSDAP die Neuverteilung des Landes von reichen an arme Bauern versprach, verschwand diese traditionelle Version der Landreform stillschweigend in der Schublade, nachdem Hitler Kanzler geworden war. Er suchte eher internationale Übereinkünfte als umverteilende Agrarpolitik und strebte besondere Handelsabkommen mit den osteuropäischen Nach­barländern an, durch die Deutschland praktisch Industriegüter gegen Nahrungsmittel tauschte. Hitlers Agrarpolitik der dreißiger Jahre ähnelte ein wenig der Lenins in den Zwanzigern: sie war die politische Vorbereitung der Vision einer fast unvorstellbaren wirtschaftlichen Umwälzung. Nationalsozialismus wie Sowjetsozialismus köderten die Bauern mit der Illusion einer Landreform, hatten aber für deren Zukunft viel radikalere Pläne.
     Die wahre NS-Agrarpolitik war die Errichtung eines Imperiums im Osten. Die Bauernfrage würde nicht innerhalb Deutschlands, sondern außerhalb gelöst werden, indem man fruchtbares Land von polnischen und sowjetischen Bauern nahm, die dann verhungern, assimiliert, deportiert oder versklavt werden sollten. Statt Getreide aus dem Osten zu importieren, würde Deutschland seine Bauern nach Osten exportieren, um den Boden Polens und der west­lichen Sowjetunion zu kolonisieren. Obwohl Hitler allgemein von der Notwendigkeit eines größeren "Lebensraums" sprach, sagte er den deutschen Bauern nie offen, dass er von ihnen erwartete, in großer Zahl nach Osten zu gehen - ebenso wenig wie die Bolschewiki den sowjetischen Bauern sagten, sie erwarteten von ihnen, dass sie ihren Besitz an den Staat abträten. Während der Kollektivierung der frühen dreißiger Jahre betrachtete Stalin die Kampagne gegen die eigenen Bauern als "Krieg" um ihr Getreide. Hitler zählte auf den Sieg in einem künftigen Krieg, um Deutschland zu ernähren. Das sowjetische Programm wurde im Namen universaler Prinzipien durchgeführt; der national­sozialistische Plan war eine gewaltige Eroberung in Osteuropa zum Nutzen einer Herrenrasse.
     Hitler und Stalin kamen in Berlin und Moskau an die Macht, aber ihre Visionen der Umwälzung betrafen alle Länder zwischen ihnen. Ihre Kontrollutopien überschnitten sich in der Ukraine. Hitler erinnerte sich an die kurzlebige Ost­kolonie von 1918 als Deutschlands Zugang zum ukrainischen Brotkorb. Stalin, der kurz nach der Revolution in der Ukraine gedient hatte, betrachtete das Land sehr ähnlich. Sein Ackerboden und seine Bauern sollten für den Aufbau eines modernen Industriestaats ausgebeutet werden. Hitler betrachtete die Kollek­tivierung als katastrophalen Fehler und präsentierte sie als Beweis des Scheiterns des gesamten Sowjetkommunismus. Er hegte jedoch keine Zweifel, dass Deutsche aus der Ukraine ein Land von Milch und Honig machen konnten.
     Für Hitler wie Stalin war die Ukraine mehr als eine Nahrungsquelle. Sie war der Ort, der es ihnen ermöglichen würde, die Regeln der traditionellen Ökonomie zu durchbrechen, ihre Länder aus Armut und Isolation zu führen und den Kontinent nach ihrem Ebenbild umzuformen. Ihre Programme und ihre Macht hingen von der Kontrolle des fruchtbaren ukrainischen Bodens und seiner Millionen von Landwirten ab. 1933 sollten Millionen Ukrainer in der größten menschengemachten Hungersnot der Geschichte sterben. Das war der Beginn der besonderen Geschichte der Ukraine, aber nicht das Ende. 1941 eroberte Hitler sie von Stalin und versuchte seine koloniale Vision zu verwirklichen, indem er Juden erschießen und sowjetische Kriegsgefangene verhungern ließ. Die Sta­li­nisten kolonisierten das eigene Land, die Nazis kolonisierten die besetzte sowjetische Ukraine, und für ihre Bewohner reihte sich ein Leiden an das nächste. Während Stalin und Hitler gleichzeitig an der Macht waren, starben mehr Menschen in der Ukraine als irgendwo sonst in den Bloodlands oder in Europa oder auf der Welt.


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Mit freundlicher Genehmigung des Verlages C.H. Beck
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