Vorgeblättert

Leseprobe zu Joan Didion: Blaue Stunden. Teil 2

09.02.2012.
18.

Ich kenne nicht viele Leute, die glauben, dass ihnen die Elternschaft gelungen ist. Die, die das glauben, führen gewöhnlich die Symbole an, die (ihren eigenen) Status in der Welt anzeigen: das Diplom aus Stanford, den Business-Master-Abschluss von Harvard, den Sommer bei einer führenden Unternehmensberatung in New York. Diejenigen von uns, die weniger dazu neigen, sich zu den eigenen elterlichen Fähigkeiten zu beglückwünschen, mit anderen Worten, die meisten von uns, beten Rosenkränze ihrer Misserfolge, ihrer Unterlassungen, ihrer Versäumnisse und Vergehen. Die Definition gelungener Elternschaft hat sich sehr verändert: Unter einem Gelingen verstanden wir gemeinhin die Fähigkeit, das Kind darin zu unterstützen, in ein unabhängiges (was so viel heißt wie erwachsenes) Leben hineinzuwachsen, das Kind "aufzuziehen", das Kind gehen zu lassen. Wenn das Kind sein oder ihr neues Fahrrad am steilsten Berg der Gegend ausprobieren wollte, mochte es pro forma die Ermahnung gegeben haben, dass sich am Fuße dieses steilsten Berges der Gegend die Kreuzung einer vierspurigen Straße befand, aber da das wünschenswerte Ziel noch immer in der Unabhängigkeit bestand, hörte ein solches Ermahnen auf, ehe es zum Meckern wurde. Wenn ein Kind sich für eine Beschäftigung entschied, die böse enden konnte, mochten die negativen Seiten erwähnt worden sein, aber nur einmal, nicht zweimal.
     Zufällig war ich während des Zweiten Weltkrieges ein Kind, was bedeutete, dass ich unter Umständen aufwuchs, in denen ein noch größerer Wert auf Unabhängigkeit gelegt wurde als üblich. Mein Vater war Finanzoffizier im Fliegerkorps der Luftwaffe, und während der ersten Kriegsjahre folgten ihm meine Mutter, mein Bruder und ich von Fort Lewis in Tacoma zur Duke-Universität in Durham und zu Peterson Field in Colorado Springs. Das war kein Elend, aber eine behütete Kindheit war es angesichts der Überbelegung und des Entwurzeltseins, was das Leben in der Nähe von Einrichtungen des amerikanischen Militärs 1942 und 1943 ausmachte, auch nicht. In Tacoma hatten wir das Glück, etwas zu mieten, das sich Gästehaus nannte, aber im Grunde nur ein großes Zimmer mit separatem Eingang war. In Durham wohnten wir wieder in einem Zimmer, diesmal nicht groß und nicht mit separatem Eingang, in einem Haus, das einem Baptistenprediger und seiner Familie gehörte. Das Zimmer in Durham war inklusive "Küchenmitbenutzung", was in der Praxis darauf hinauslief, dass wir gelegentlich den Apfelsirup der Familie benutzen durften. In Colorado Springs wohnten wir zum ersten Mal in einem richtigen Haus, in einem Vier-Raum-Bungalow in der Nähe einer psychiatrischen Klinik, aber wir packten nicht aus: Es gab keinen Grund, auszupacken, betonte meine Mutter, da jeden Tag "Befehle" - ein mysteriöser Begriff, den ich einfach hinnahm - eintreffen konnten.
     Von meinem Bruder und mir wurde erwartet, dass wir uns auf jede dieser Örtlichkeiten einstellten, damit zurechtkamen, uns sowohl im Leben einrichteten als auch akzeptierten, dass jedes Leben, in dem wir uns einrichteten, durch das Eintreffen von "Befehlen" kurzerhand umgestülpt werden würde. Wer die Befehle erteilte, war mir nie klar. In Colorado Springs, wo mein Vater länger stationiert war als in Tacoma oder Durham, erkundete mein Bruder die Nachbarschaft und fand Freunde. Ich war auf dem Gelände der psychiatrischen Klinik unterwegs, zeichnete Gespräche auf, die ich zufällig mitbekam, und schrieb "Geschichten". Ich hielt das damals für keine unvernünftige Alternative zu der, in Sacramento zu sein und zur Schule zu gehen (später wurde mir klar, dass ich, wenn ich in Sacramento geblieben und zur Schule gegangen wäre, gelernt hätte zu subtrahieren, eine Methode, deren ich mir immer noch unsicher bin), aber selbst wenn, hätte es keine Rolle gespielt. Ein Krieg war im Gange. Dieser Krieg drehte sich weder um die Wünsche von Kindern, noch hing er in irgendeiner Weise davon ab. Im Gegenzug dafür, diese unbequemen Wahrheiten zu tolerieren, war es Kindern erlaubt, sich ein eigenes Leben zu erfinden. Der Gedanke, dass sie sich selbst überlassen bleiben würden - was im Grunde das Beste war -, blieb unhinterfragt.
     Als der Krieg zu Ende und wir wieder zu Hause in Sacramento waren, setzte sich diese Laisser-faire-Haltung fort. Ich erinnere mich, dass ich meine Anfänger-Fahrerlaubnis mit fünfzehneinhalb bekam und sie als logische Bevollmächtigung verstand, nach dem Abendessen von Sacramento nach Lake Tahoe zu fahren, was zwei oder drei Stunden Fahrt auf Serpentinenstraßen durch die Berge bedeutete und, wenn wir dann einfach umdrehten, und nichts anderes taten wir, da wir alles, was wir trinken wollten, bereits bei uns im Auto hatten, zwei oder drei Stunden Rückfahrt. Dieses Verschwinden ins Herz der Sierra Nevada, was auf eine Nachtfahrt mit Trunkenheit am Steuer hinauslief, blieb von Seiten meiner Mutter und meines Vaters unkommentiert. Ich erinnere mich, wie ich etwa im selben Alter oberhalb von Sacramento während eines Raftings auf dem American River in eine Stauschwelle geriet, dann das Raftingboot stromaufwärts zog und dasselbe noch einmal machte. Auch das blieb unkommentiert.
     Alles vorbei.
     Heute so gut wie unvorstellbar.
Auf dem Terminplan der "Erziehung" bleibt keine Zeit mehr für die Toleranz gegenüber einer so bedenklichen Freizeitbeschäftigung.
     Stattdessen messen wir, die Nutznießer dieser Art von gütigen Versäumnissen, das Gelingen darin, inwieweit wir es fertigbringen, unsere Kinder unter Beobachtung zu halten, sie anzuketten, an uns zu binden. Als Judith Shapiro Präsidentin des Barnard-Colleges war, wurde sie aufgefordert, für die New York Times einen Gastkommentar zu schreiben, in dem sie Eltern empfahl, ihren Kindern gegenüber etwas mehr Vertrauen zu zeigen und damit aufzuhören, ihnen jeden Aspekt des Collegelebens abnehmen zu wollen. Sie führte den Vater an, der sich ein Jahr von seiner Arbeitsstelle hatte beurlauben lassen, um die Vorbereitungen seiner Tochter für die Collegebewerbung zu überwachen. Sie führte die Mutter an, die ihre Tochter zu einem Termin beim Dekan begleitet hatte, um ein Forschungsvorhaben zu besprechen. Sie führte die Mutter an, die mit der Begründung, dass sie die Studiengebühr bezahle, verlangt hatte, das studentische Stammblatt der Tochter zugeschickt zu bekommen.
     "Wenn Sie fünfunddreißigtausend Dollar im Jahr zahlen, dann wollen Sie auch Dienstleistungen", teilte der Direktor des "Elternbüros" am Northeastern College in Boston Tamar Lewin von der New York Times mit, ein Büro, das sich der Elternpflege widmete, die ein nahezu allgegenwärtiger Bestandteil der Campusverwaltung geworden war. Für einen Artikel über die Verringerung des Generationsunterschieds auf dem Campus, der vor einigen Jahren in der Times erschienen war, sprach Ms Lewin nicht nur mit denjenigen, die sich um die Elternpflege kümmerten, sondern auch mit Studenten. Eine von ihnen, Studentin an der George-Washington-Universität, gab zu, dass sie mehr als dreitausend Handyminuten pro Monat dafür verwende, mit ihrer Familie zu telefonieren.
     Sie schien ihre Familie als zitierfähige wissenschaftliche Quelle zu betrachten. "Es kommt vor, dass ich meinen Papa anrufe und frage: 'Worum geht's bei den Kurden?' Es ist viel einfacher, als es nachzuschlagen. Er weiß eine Menge. Ich würde fast alles glauben, was mein Papa sagt." Als eine andere Studentin der George Washington gefragt wurde, ob es ihr je in den Sinn gekommen sei, dass ihre Verbindung zu ihren Eltern zu eng sein könne, schien sie darüber nur erstaunt zu sein: "Sie sind unsere Eltern", hatte sie gesagt. "Sie sind dazu da, uns zu helfen. Das ist so was wie ihr Job."
     Wir begründen diese verstärkte Einflussnahme auf unsere Kinder zunehmend damit, dass sie essentiell sei für ihr Überleben. Wir haben sie auf Kurzwahl. Wir sehen sie auf Skype. Wir verfolgen jede ihrer Bewegungen. Wir erwarten, dass alle unserere Anrufe beantwortet werden, jede Änderung des Plans mitgeteilt wird. In jeden ihrer unbeaufsichtigten Kontakte phantasieren wir uns beispiellose neue Gefahren hinein. Wir erwähnen Terrorismus, wir tauschen besorgte Ermahnungen aus: "Heute ist alles anders." - "Es ist nicht mehr das, was es mal war." - "Man kann sie heute nicht mehr das machen lassen, was wir noch gemacht haben."
     Dabei gab es schon immer Gefahren für Kinder.
     Fragen Sie jeden, der in der angeblich idyllischen Dekade Kind war, die uns als Wiedergutmachung des Zweiten Weltkriegs angepriesen wurde. Neue Autos. Neue Geräte. Frauen in hochhackigen Pumps und gerafften Schürzen, die Backbleche aus Herden zogen, die in den "Herbst"-Farben der Nachkriegszeit emailliert waren: Avocado, Gold, Senf, Braun, Bräunlich-Orange. Sicherer als das konnte es nicht sein, nur war es nicht sicher: Fragen Sie jedes Kind, das während dieser Nachkriegsherbstphantasie den Bildern von Hiroshima und Nagasaki ausgesetzt war, fragen Sie jedes Kind, das die Bilder der Vernichtungslager sah.
     "Ich muss darüber Bescheid wissen."
     Das sagte Quintana, als ich sie in ihrem Bett in Malibu dabei erwischte, wie sie, überrascht, ungläubig, mit einer Taschenlampe in der Hand, unter der Bettdecke versteckt ein Buch mit alten Fotos der Zeitschrift Life studierte, das sie irgendwo aufgetrieben hatte.
     Blauweiß karierte Gingham-Vorhänge hingen an den Fenstern ihres Zimmers in Malibu.
     Ich erinnere mich, dass die Vorhänge wehten, als sie mir das Buch zeigte.
     Sie zeigte mir die Fotos, die Margaret Bourke-White für Life von den Öfen in Buchenwald gemacht hatte.
     Das war es, worüber sie Bescheid wissen musste.
     Oder fragen Sie das Kind, das sich für den größten Teil des Jahres 1946 nicht erlaubte, einzuschlafen, weil es befürchtete, dass es dasselbe Schicksal ereilen würde wie die sechsjährige Suzanne Degnan, die am siebten Januar jenes Jahres aus ihrem Bett in Chicago entführt, in einer Spüle zersägt und in kleinen Stücken in der Kanalisation im entlegenen Norden entsorgt worden war. Sechs Monate nach Suzanne Degnans Verschwinden wurde ein siebzehnjähriger Student der Universität von Chicago namens William Heirens verhaftet und zu einer lebenslänglichen Haftstrafe im Zuchthaus in Marion verurteilt.
     Oder fragen Sie das Kind, das neun Jahre später die kalifornienweite Suche nach der vierzehnjährigen Stephanie Bryan mitverfolgte, die verschwand, als sie von ihrer Junior Highschool in Berkeley über den Parkplatz des Claremont Hotels lief, ihre gewöhnliche Abkürzung, und mehrere Hundert Kilometer von Berkeley entfernt in den nördlichsten Bergen von Kalifornien in einem flachen Grab beerdigt wiedergefunden wurde. Fünf Monate nach Stephanie Bryans Verschwinden wurde ein siebenundzwanzigjähriger Student des Rechnungswesens an der Universität von Kalifornien verhaftet, des Mordes angeklagt und innerhalb von zwei Jahren verurteilt und in den Gaskammern von San Quentin hingerichtet.
     Da sich die Ereignisse, die das Verschwinden und den Tod sowohl von Suzanne Degnan als auch von Stephanie Bryan betreffen, innerhalb des Verbreitungsgebietes aggressiver, zum Hearst-Imperium gehörender Zeitungen abspielten, wurde über beide Fälle ausgiebig und grell berichtet.
     Die Lektion, die die Berichterstattung erteilte, war klar: Kindheit ist der Definition nach gefährlich. Kind zu sein heißt klein, schwach, unerfahren zu sein, das letzte Glied in der Nahrungskette. Jedes Kind weiß das oder wusste das.

*

Mit freundlicher Genehmigung des Ullstein Verlages
(Copyright Ullstein Verlag)

Informationen zum Buch und zur Autorin hier