Vorgeblättert

Leseprobe zu Hans Christoph Buch: Baron Samstag. Teil 2

25.02.2013.
ERSTES BUCH


GOTT IN FRANKREICH


"... er entschuldigte seine Unbeständigkeit in einer Sache damit, dass er in einer anderen sehr beharrlich war ..." (Henry James)

1

Fünfzig Jahre, fünf Monate und fünf Tage nach seinem Aufenthalt in La Sainte Baume kehrte H. C. Buch an die Stätten seiner Jugend zurück - ohne zu wissen, warum. War es das Novemberwetter, der Tunnelblick auf immer kürzer und dunkler werdende Tage, der ihm das auf einer Hochebene gelegene Kloster als Stern von Bethlehem erscheinen ließ, von dem er sich Rettung erhoffte - Rettung von wem oder was? Die Hotellerie des Klosters, das er im Internet anklickte, hatte keinen Stern: La Sainte Baume war ein Hotel ohne Stern, eine Herberge, besser gesagt, mit brettharten Betten und Zimmern ohne Bad; das Fehlen von heißem Wasser wurde durch Wein wettgemacht - Rotwein und Rosé waren im Zimmerpreis inbegriffen. Das war schon vor fünfzig Jahren so: Nicht nur die Mönche, auch die Gäste des Klosters bekamen zu den Mahlzeiten mit Wasser verdünnten Wein vor- gesetzt.

"Sie haben dich zum Alkoholiker gemacht", sagte Buchs Ex-Frau, eine Ex-Feministin, mit der er sich seit der Scheidung wieder besser verstand: Mit sie meinte sie die französischen Katholiken. "Wie hieß der Orden doch gleich? - Dominikaner", fuhr sie nach einer Denkpause fort, in der sie vor dem Schlafzimmerspiegel ihre Frisur ordnete - auftuffen nannte sie das. "Die Jesuiten waren fürs Geistige zuständig, und die Dominikaner erledigten die Dreckarbeit: Ketzerverfolgung, Hexenprozesse, Inquisition. Man hat dich betrunken gemacht und sexuell missbraucht. Kein Wunder, dass du dich an nichts mehr erinnern kannst!"

Ende der fünfziger Jahre, als das Bonner Auswärtige Amt seinen Vater nach Marseille versetzte, hatte der ihn ins Kloster La Sainte Baume geschickt. Dort hatte Buch unter Anleitung eines Dominikanermönchs unregelmäßige Verben gepaukt, die er heute noch auswendig konnte - einschließlich subjonctif, imparfait, passé simple und futur antérieur. In seiner Erinnerung waren die Wochen auf der mit Felstrümmern übersäten Hochebene eine glückliche Zeit, überwölbt von einem strahlend blauen Himmel, durchzogen vom bitter-süßen Duft von Pinienharz, Lavendel und Thymian, und er erinnerte sich nicht daran, sexuell belästigt oder missbraucht worden zu sein. Aber der Erinnerung ist nicht zu trauen, sein Gedächtnis war ein breitmaschiges Netz, in dem nur das Gröbste hängen blieb, bis zur Unkenntlichkeit entstellt und verformt wie von einer Schrottpresse, die Limousinen auf das Format von Postpaketen zusammendrückt - selbst forensische Experten können die im Kofferraum versteckte Leiche nicht finden. Vielleicht hatte Buchs Ex-Frau doch recht gehabt. Judith hatte Jura und Psychoanalyse studiert und hielt seine partielle Amnesie für die Spätfolge eines Kindheitstraumas: Unzucht mit Abhängigen sei an der Tagesordnung gewesen in Priesterseminaren und Klosterschulen; erst kürzlich habe sich der Papst im Namen der Kirche für sexuellen Missbrauch entschuldigt - ob ihm das nicht zu denken gebe, sagte Judith, kniff das rechte Auge zusammen und zog den linken Lidschatten nach.

Ausschlaggebend für seine Rückkehr nach La Sainte Baume war nicht der Wunsch nach Aufarbeitung der angeblich dunklen Vergangenheit, die ihm im Rückblick von blendendem Licht durchflutet schien, sondern etwas anderes. Die Temperatur entspreche der Jahreszeit, teilte man ihm auf Anfrage mit: Morgens sei es empfindlich kalt, doch tagsüber scheine die Sonne, und nachts würden die Zimmer beheizt. Die Zentralheizung sei die einzige Neuerung in dem unter Denkmalschutz stehenden Gebäude, und er würde das Kloster so vorfinden, wie er es vor fünfzig Jahren verlassen hatte, schrieb der an der Rezeption Dienst tuende Mönch, der seine E-Mail mit "salutations fraternelles" unterzeichnete: Eine Grußformel, die Buchs Herz erwärmte und ihn zur Reise nach La Sainte Baume bewog.


2

H. C. Buch war kein religiöser Mensch, er war ungläubig wie viele Angehörige seiner Generation, die bei dem Wort Ostern nicht an die Kreuzigung Christi dachten, sondern an Protestmärsche gegen den Atomkrieg. Evangelisch getauft und konfirmiert, war er aus der Kirche ausgetreten aus Empörung über einen Pfarrer, den er auf einer Delegationsreise nach Moskau begleitet hatte - für Frieden und Entspannung, wie es damals hieß. Statt in der UdSSR verbotener Bibeln hatte der Entspannungspfarrer Strumpfhosen im Gepäck, mit denen er seine Moskauer Geliebte bei der Stange hielt - hier stimmte die Redensart; dass der KGB den Kuppler spielte, verstand sich von selbst. Der Entspannungspfarrer ließ durchblicken, er habe von Marx und Lenin mehr gelernt als aus dem Marcus-, Lukas- oder Johannes-Evangelium. Und als H. C. Buch "Ihr seid das Salz der Erde" ins Gästebuch eines Höhlenklosters schrieb, warf er ihm vor, die sowjetischen Gastgeber mit friedensfeindlichen Parolen zu provozieren.

Aber es gab auch Gegenbeispiele wie den Erzbischof von Monrovia, Michael Francis, der ein Programm zur Enttraumatisierung minderjähriger Mörder ins Leben gerufen hatte: Damit waren Kindersoldaten gemeint: Von Warlords zwangsrekrutiert, hatten sie Gräueltaten begangen, die ihnen die Rückkehr ins Zivilleben verbauten - von Folter und Vergewaltigung bis zum Kannibalismus.

Die Enttraumatisierung vollzog sich in drei Phasen: Entwaffnung, Verzeihung und Rehabilitierung. Hinterher wurden die ehemaligen Kindersoldaten von der Dorfgemeinschaft verprügelt - auf eigenen Wunsch, wie Michael Francis betonte, der in Turnschuhen und T-Shirt eher einem Laienprediger ähnelte als einem Erzbischof. Buch hatte ihn gefragt, wie er reagieren würde, wenn Rebel King, ein entlaufener Missionsschüler, der zwei italienische Nonnen sadistisch zu Tode gequält hatte, die verdiente Strafe ereilen würde: "Ich hätte kein Mitleid mit ihm, aber ich würde beten für Rebel Kings Seelenheil!"

Oder Fra Angelo - hieß er wirklich so? - ein Salesianer-Pater aus Rom, der seine von Moslemrebellen zerstörte Kirche in Rumbek, Südsudan, allein wiederaufgebaut und mit Fresken ausgemalt hatte, auf denen Johannes der Täufer, umschwärmt von Heuschrecken, in der Wüste zu sehen war. Als Farbe diente ihm rotbraune Erde, die er mit bloßen Händen auf die weißen Wände auftrug. Fra Angelo kochte Spaghetti auf einem Gaskocher - ohne Soße, weil es auf dem Markt von Rumbek kein Tomatenmark gab, und sagte, lieber würde er den Märtyrertod sterben, als sein Gotteshaus den Rebellen zu überlassen. Die Kirchenleitung hatte ihn nach Rom zurückbeordert, aber Fra Angelo ignorierte den Befehl und blieb gegen den Willen seiner Vorgesetzten im Sudan.

Buch hätte nicht zu sagen gewusst, warum ihn das Beispiel dieser Priester beeindruckte, die christliche Werte nicht bloß gepredigt, sondern gelebt hatten. Trotzdem hatte er es nie bereut, dass er aus der Kirche ausgetreten war - nicht, um Steuern zu sparen, sondern weil er die Mehrzahl der Protestanten für saft- und kraftlose Gutmenschen hielt, deren salbungsvolle Reden von Frieden und Umweltschutz nur zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens dienten: Selbstgerechte Pharisäer, die mit Luther nur noch der Buchstabe verband, nicht der Geist, und die statt Bach'scher Choräle kitschige Bluesweisen sangen - Pseudo-Jazz aus zweiter und dritter Hand.

Demgegenüber hatte er von seinem verstorbenen Vater, der mit zweitem Vornamen Maria hieß und gegen seinen Willen evangelisch erzogen und konfirmiert worden war, eine stille Liebe zur katholischen Kirche geerbt, wahrte aber trotzdem - oder gerade deshalb - eine heilsame Distanz.


3

Die Straße nach La Sainte Baume führte in Serpentinen bergan, höher und immer höher hinauf. Er hatte vergessen, wie kurvenreich der Weg und wie einsam die Gegend war - einzig eine Richtfunkantenne am Bergkamm und ein stillstehendes Windrad, bei dem es sich auch um ein Kruzifix handeln konnte, wiesen auf die Anwesenheit von Menschen hin. Nur einmal überholte er einen Radfahrer, der sich, tief über die Lenkstange gebeugt, abstrampelte, um die Steigung zu überwinden, nicht mit dem Mountain-Bike, sondern auf dem Rennrad: Im Schweiße seines Angesichts - hier passte die alttestamentarische Redensart. Buch dachte an Vater Vivie, genannt Vélocio, den Apostel der Radrennfahrer, an den eine Marmorplakette in La Sainte Baume erinnerte, gestiftet vom Marseiller Radsportverband am 11. September 1949: Ein geschichtsträchtiges Datum, wenn man sich klarmachte, was an diesem Tag sonst noch alles passieren würde, vom Militärputsch in Chile bis zum World Trade Center in New York. Ein mit Bauholz beladener Lastwagen bog um die Ecke, blendete auf und hupte, um entgegenkommende Fahrer zu warnen, und Buch stellte sich vor, wie Vater Vivie die Teilnehmer der Tour de France zum Christentum bekehrte, indem er den Radchampions Rosenkränze in die Hände drückte, obwohl Paul Vivie kein Priester, sondern Sportreporter gewesen war. 1949 hatte der Kalte Krieg begonnen, und in Buchs Phantasie wurde Vélocio zu einer Kreuzung aus Don Camillo und Peppone, eingeschreint ins Herz der Arbeiterklasse, wie es damals so schön hieß.

Einem Wegweiser folgend mit der Aufschrift DFCI, bog er von der Straße ab und parkte in einem windzerzausten Olivenhain. Er hatte keine Ahnung, was sich hinter der Abkürzung verbarg: Etwas wie RSVP oder VSOP - ein Glasfaserkabel oder eine Sprinkleranlage vielleicht? Er lief über einen mit Grillkohlen übersäten Picknickplatz und erleichterte sich am knorrigen Stamm einer Krüppeleiche. Lockeres Geröll rieselte den Berghang hinab, und Buch trat einen Schritt zurück: Vor ihm brach die Felskante abrupt ab, und zu seinen Füßen öffnete sich ein S-förmiges Tal, einmündend in eine sanft geschwungene Bucht. Die Sonne stand tief über dem Horizont, und trotz seines schlechten Gehörs drang der Verkehrslärm einer nicht sichtbaren Autobahn an sein Ohr. In der Tiefe des Tals flammten Lichter auf, vielleicht die Lichter von Aubagne, auf halbem Weg zwischen der Küste und dem Massiv von La Sainte-Baume. Erst jetzt begriff er, dass er auf den Ort herabblickte, an dem er die glücklichste Zeit seiner Jugend zugebracht hatte: Marseille.

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