Vorgeblättert

Leseprobe zu Aatish Taseer: Terra Islamica. Teil 3

18.01.2010.
Der Mann, auf den ich vor dem Starbucks in der Istiklal Caddesi wartete, war ein junger marxistischer Student. Er hatte angeboten, mir die Stadt in all ihren Facetten zu zeigen, als er hörte, was mich
interessierte. Wenige Minuten später stand er vor mir, die Hände in den Hosentaschen. Untersetzt und füllig, mit dunklem fettigem Haar, tiefblauen Augen und einem abgehackten, etwas schrillen Lachen. Eyüp redete nicht lange herum. Ein kurzes Lächeln, ein Gruß, und schon kam er zur Sache. "Wollen wir in dieses ultrareligiöse Viertel gehen?", fragte er, als gäbe es jede Menge Alternativen. Am Taksim-Platz gleich bei meinem Hotel winkte er ein Taxi heran und nannte dem Fahrer unser Ziel: das Viertel Carsamba im Stadtteil Fatih.
     "Die Leute dort sind sehr religiös, ihr Vorbild sind die arabischen Länder und der Iran", erklärte er mir. "Es ist eine Art Subkultur." Istanbul hatte viele Gesichter. Auf dem Weg nach Fatih Carsamba verwandelte es sich jedoch in eine völlig andere Stadt. Von einer Kreuzung zur nächsten verschwanden die schlanken türkischen Blondinen. Beleibte Frauen in langen dunklen Mänteln und beigefarbenen Kopftüchern waren stattdessen auf der belebten Straße unterwegs, wo Haushaltswaren und billige synthetische Kleidung verkauft wurden. Es fiel mir schwer, die grelle Reklame, die Autos und die Auslagen der Geschäfte mit dem Teil der Stadt in Einklang zu bringen, den wir soeben verlassen hatten. Auch die Architektur hatte sich verändert, die Häuser waren moderner, aber schlichter gebaut und recht heruntergekommen. Selbst der Menschenschlag schien ein anderer. Die Leute hatten derbere Gesichtszüge und waren ethnisch weniger gemischt, irgendwie arabischer. Dennoch hatte das, was ich hier sah, mit dem religiösen Viertel, zu dem wir unterwegs waren, rein gar nichts zu tun. Das hier war keine Subkultur.
     Wir zahlten das Taxi und gingen zu Fuß weiter. Und plötzlich passten wir mit unseren Jeans und Winterjacken nicht mehr ins Straßenbild. Eyüp war als Teenager schon einmal in Fatih Carsamba gewesen und hatte ungute Erinnerungen an das Viertel. Bald verstand ich auch, warum. Es begann so abrupt wie bedrohlich nach einer sanften Kurve auf der ansteigenden Straße. Plötzlich schien ein neues Gesetz zu gelten, demzufolge die Frauen komplett schwarz verschleiert zu sein hatten, bis auf eine dreieckige Öffnung für Nase und Augen. Die Männer trugen lange Gewänder und Vollbärte mit rasierten Oberlippen. Die Buchhandlungen, von denen es hier mehr gab als anderswo, hießen beispielsweise Dua, Gebet, und alle verkauften dieselben in grünes und rotes Leder gebundenen religiösen Bücher: Koranausgaben in allen Formen und Größen sowie Streitschriften - Jesus und der Islam, Der Islam und die moderne Wissenschaft, Die Stellung der Frau im Islam - , welche die typischen Fragen zum Islam vorwegnahmen. Aus anderen Läden drang der monotone Singsang von Koranrezitationen. Die CDs wurden in blank geputzten Schaufenstern ausgestellt, genau wie in der Istiklal Caddesi. Gewänder in gedeckten Farben mit Maschinenstickerei, schwarz auf schwarz, dunkelblau auf dunkelblau, hingen an Drahtkleiderbügeln in den Türen der Läden. Alle möglichen arabischen Kleidungsstücke waren im Angebot, von eng anliegenden Latex-Sachen, die man unter dem Schleier trug, bis zu weißen Scheitelkäppchen. Es war das islamische Pendant einer modernen Einkaufsstraße.
     "Subkultur", dachte ich, ist das richtige Wort dafür. Es beschrieb die Abweichung nicht nur von der urbanen Kultur Istanbuls, sondern auch vom traditionellen Islam der Türkei und brachte die Radikalität dieser neuen Glaubenspraxis treffend zum Ausdruck. Subkultur assoziierte ich mit Punks und Hippies, ja sogar mit den Neonazis. Doch der Begriff beschrieb auch die jungen radikalisierten britischen Pakistanis, denen ich in Nordengland begegnet war. Auch hier waren die Menschen nicht einfach nur auf traditionelle Weise religiös. Der Islam, den sie praktizierten, markierte einen radikalen Bruch mit allem Bisherigen.
     Wir zogen bereits feindselige Blicke auf uns, und Eyüp machte Anstalten, mich aus der Gegend wegzulotsen. Ich schlug vor, in einer Teestube zu beratschlagen.
     Eyüp war sichtlich nervös. "Es ist nicht ungefährlich", meinte er ahnungsvoll, als wir eintraten.
     Ein junger Mann mit hellbraunem islamischem Bart und dementsprechendem Gewand stand hinter der Theke und musterte uns. Als Eyüp Tee bestellte, reagierte er abweisend und gereizt, als hätten wir ihm die Chance verweigert, uns zu sagen, dass wir hier am falschen Ort waren. Während wir unseren Tee tranken und er die Theke wischte und die Kasse bediente, ließ er uns nicht aus den Augen. Das heiße zuckrige Getränk und die Düfte vom Herd machten die geruchlose Kälte draußen auf der Straße vergessen, als ich dem Mann eine Frage stellte und er doch noch seine Chance bekam. Es ging mir um seine Kleidung. Eyüp wirkte nervös, aber dann übersetzte er doch.
     Der Mann hielt in seiner Tätigkeit inne, und seine Miene verfinsterte sich. Als er, an Eyüp gewandt, zu Ende gesprochen hatte, wusste ich, dass die kurze Unterhaltung nicht gut verlaufen war.
     "Er sagt", begann Eyüp, erleichtert, in eine andere Sprache wechseln zu können, "wir sollten hier besser keine Fragen stellen, um keine gewaltsamen Reaktionen zu provozieren."
     Die Worte trafen mich kalt und hart, und sie schienen mir umso bedrohlicher, als ich sie aus dem Mund des unbeteiligten Eyüp hörte. "Er sagt: 'Wie wir leben ist allein unsere Sache, und es gehört sich nicht für Außenstehende, Fragen zu stellen. Wir kleiden uns nach dem Vorbild des Propheten Mohammed.'"
     Zwischen Eyüp und dem Mann ging es noch eine Weile hin und her, aber als der Wortwechsel beendet war, übersetzte mir Eyüp nichts mehr. Ich hatte das Wort "Pakistan" herausgehört.
     "Wir sollten besser gehen", meinte er. "Sonst passiert tatsächlich noch was." Es war vorbei mit Eyüps natürlicher Gelassenheit. Da er sich sonst nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließ, folgte ich seinem Vorschlag. Wir verabschiedeten uns, und der Mann brachte uns zur Tür.
     "Was hat er sonst noch gesagt?", wollte ich wissen.
     "Das erzähl ich dir später", erwiderte Eyüp. "Erst mal sollten wir hier verschwinden."
     Es war früher Vormittag, und die Straße erwachte erst langsam zum Leben. Immer mehr Geschäfte öffneten, und die Frauen, unterwegs in langen Gewändern, drehten uns ihre dreieckigen Gesichter zu, in denen sich Verwirrung zu spiegeln schien. Ich fragte Eyüp, ob es in kleineren Städten oder auf dem Land ähnliche Viertel gebe.
     "Nein", sagte er, "dort kleidet man sich anders."
     Während wir die Anhöhe hinuntergingen, blieb die abseitige Welt von Fatih Carsamba zurück. Das andere Istanbul kam wieder in den Blick, und die Welt der Subkultur verschwand so unvermittelt, wie sie aufgetaucht war. Es war nur eine Hügelspitze des Radikalismus, aber bevor sie endgültig hinter uns lag, erlebten wir noch eine faszinierende Szene. Es gab nämlich in dieser abgeschotteten, strengen Welt eine Schule, auf deren betoniertem, von einem hohen Maschendrahtzaun umgebenen Hof gerade Pause war. Das Schreien und Lachen der Jungen und Mädchen in Schuluniform passte so gar nicht zu der morgendlichen Grabesstille.
     Nach den vagen Drohungen des Mannes in der Teestube war der Anblick dieser Kinder ein unerwarteter Lichtblick. Jungen und Mädchen spielten Fangen und liefen wild durcheinander. Die Mädchen trugen Röcke, die Jungen Hosen, und sie schienen vollkommen natürlich und ungezwungen miteinander umzugehen.
     Außerhalb dieser Welt hinter dem Maschendrahtzaun verschwand soeben die letzte verschleierte Gestalt hinter dem Hügelkamm. Schlagartig wurde mir bewusst, dass diese Schüler die Kinder jenes Viertels waren. Die verschleierte Frau war womöglich die Mutter oder ältere Schwester eines der Schüler. Ob auch sie diese Schule besucht hatte? Und wenn ja, was für einen befremdlichen Übergang hatte sie vollzogen - aus der Freiheit in eine Welt der rigiden Reinheit und Geschlechtertrennung, für die ihre Kleidung stand.
     Als wir ein paar Schritte weitergingen, entdeckten wir am äußersten Ende des Schulhofs etwas, das dort so erschreckend wie lächerlich wirkte. Knapp einen Meter über dem Boden erhob sich eine Atatürk-Büste aus glattem, schwarzem Stein, die über den Pausenhof wachte - ein unwahrscheinliches, geradezu schimärenhaftes Objekt.
     Im Taxi dann erzählte mir Eyüp, was der Mann in der Teestube noch gesagt hatte. Fatih Carsamba sei "der einzige Ort, an dem wir wie Muslime leben können, und deshalb müssen wir ihn schützen.
Ein Außenstehender, ein Journalist oder auch ein Schriftsteller, könnte uns in Schwierigkeiten bringen. Die Polizei könnte kommen und das Viertel räumen." Er trage das Gewand des Propheten Mohammed. "Keiner unserer Politiker", sagte er, "hat sich so gekleidet, weder Atatürk noch sonst jemand."
     Damals war mir nicht klar, wie gewagt diese Bemerkung war. Atatürk genoss in der Türkei geradezu kultische Verehrung, und sein vom Militär gestützter, entschiedener Laizismus besaß die Macht, selbst die kühnsten Islamisten zum Schweigen zu bringen. Die abfällige Äußerung des Mannes in der Teestube bezüglich Atatürk, noch dazu einem Landsmann gegenüber, war eine Provokation, die ihn ins Gefängnis bringen konnte. Ein Vorgeschmack darauf, wie wichtig - insbesondere hinsichtlich der Beziehung des Islam zur modernen Welt - das äußere Erscheinungsbild im Verlauf meiner Reise noch werden sollte. Es war Teil jener Totalität, die der Islam zu gestalten beanspruchte. Dagegen hatte schon Atatürk gekämpft, und auch der Bärtige in der Teestube war bereit, auf diesem Feld seine Position zu verteidigen.
     Der Mann in der Teestube hatte Eyüp gefragt, ob ich Muslim sei. Eyüp kannte nur die Tatsache meiner Herkunft, und obwohl selbst kein gläubiger Muslim, zog er daraus - wie viele andere in den kommenden acht Monaten auch - den Schluss: Ist dein Vater Muslim, bist du es ebenso. Vielleicht hatte er nur kein Öl ins Feuer gießen wollen, aber er wusste auch, dass der Mann in der Teestube diese Information zu akzeptieren hatte. Diese Ebene des Muslimseins war wichtiger als alles, was danach kam, wichtiger als alle Detailfragen der konkreten Glaubenspraxis. Sie war das Grundlegende, mit der Geburt Vorgegebene und von allen Muslimen anerkannt, ob sie religiös waren oder nicht. "Er stammt aus Pakistan und ist Muslim", hatte Eyüp geantwortet. Der Mann, den seine Religion dazu verpflichtete, dies zu akzeptieren, beschied ihm: "Wenn ihr Muslime seid, dann wisst ihr ja, wie wahre Muslime sich kleiden."
     Diese Muslime lebten in einem islamischen Land und hatten dennoch das Gefühl, verfolgt zu werden. Der Bezug zur großen muslimischen Vergangenheit und die kulturellen Bindungen an die größere islamische Welt waren verboten und zerrissen worden. Die moderne Republik Türkei wollte Mitglied der Europäischen Union werden. Sie war eines der offensten muslimischen Länder, aber ihr Säkularismus war dogmatisch, ja er war fast eine eigene Religion. Der Staat hielt sich aus religiösen Angelegenheiten nicht heraus, sondern vereinnahmte sie. Er bereitete die Freitagspredigten vor, ernannte die Geistlichen und vertrieb diejenigen, die er für religiös erachtete, aus dem Establishment. Warum dieser Extremismus? In welcher Weise hatte Atatürk die islamische Identität als eine Bedrohung für seine moderne laizistische Republik empfunden?
     Seit der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 war es neben der gebildeten Elite Istanbuls die Armee, die diesen aggressiven Säkularismus durchsetzte. Die Bevölkerung war zunächst diesem Kurs gefolgt, doch in den letzten Jahren, mit der Migration vieler Menschen aus dem stärker religiös geprägten, konservativen Anatolien nach Istanbul, wuchs ihr Selbstbewusstsein und ihr Mut zum Widerspruch. Der streng islamisch geprägte Straßenzug im Istanbuler Stadtteil Fatih war die radikale Antwort einiger weniger; aber sehr viel mehr wollten wissen, warum sie kein Kopftuch tragen durften. Sie gründeten Unternehmen und investierten Kapital, "grünes Kapital", als Gegengewicht zur Macht der säkularen, reichen Oberschicht Istanbuls. Premierminister Recep Tayyip Erdogan war einer von ihnen. Die Stadt war voller Frauen, die mit Versace-Kopftuch am Steuer eines SUV saßen. Der Islam kam durch die Hintertür zurück. Mit tiefem Argwohn betrachteten diese Leute die Armee und die bürgerlichen Kemalisten.
     Aber was steckte tatsächlich hinter ihrem Bemühen, sich ihrer islamischen Identität zu vergewissern? Welche kulturelle Ganzheit war verlorengegangen, und um welchen Preis würde sie wiederherzustellen sein?


Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages

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