Tagtigall

Das Land, wo die Orangen blühn

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
12.09.2018. Ich habe mich an den Beschreibungen der Birken erfreut, mir schwarze Drosseln, Pfirsichblüten, Apfelbäume und so manche andere Dinge vor Augen geführt und bin mit Zviad Ratiani beim Rasieren gestanden.  Ich habe Kartoffeln geerntet und mir andere neue georgische Lyrik angesehen.  Ich musste einsehen, "dass man Gedichte vor der Liebe schreibt/und sie erst lesen wird, wenn sie vorbei ist". Kapitulation vor der georgischen Lyrik.
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Liebe Anja,

dies ist der Brief eines Scheiterns. Du hattest mir vier Bände mit Gedichten aus Georgien geschickt und mich aus Anlass der Buchmesse um eine Tagtigall gebeten. Ich habe die Bücher wieder und wieder zu lesen begonnen. Ich habe mich an den Beschreibungen der Birken erfreut, mir schwarze Drosseln, Pfirsichblüten, Apfelbäume und so manche andere Dinge vor Augen geführt und bin mit Zviad Ratiani beim Rasieren gestanden. Bei Adolf Endler habe ich Einblicke in die ältere georgische Poesie erhalten und bei Chekurishvili habe ich gelesen, dass Gedichte Burgen, Tempel und Gemächer sind. Zwischendurch habe ich immer wieder über das Gelesene nachgedacht, in mich hineingehört, und - wie bei jedem Lesen von Lyrik - versucht, einzelne Bilder, Klänge, Rhythmen sich entfalten zu lassen. Gedichte sind ja immer auch Räume, die man betreten muss.

Und doch: ich kapituliere vor solch einer Übersichtsaufgabe. Dabei habe ich mich über viele Zeilen, die mir begegneten, gefreut, etwa: "Schaut den Tag an, wie er wackelt", oder: "Großmutter stierte das Erblühen der Rosen / wie einen geilen Pornostreifen an." Man lacht. Und dann? So ging es oft. Lauter Fenster, keine Türen, wenn man so will. Dabei weiß man: Lyrik spielt in Georgien traditionell eine sehr wichtige Rolle. Es heißt, sie sei die Grundsprache Georgiens und werde bis heute weitaus intensiver gelesen als in Deutschland. Nicht zuletzt weil die Überlieferung der georgischen Geschichte in Versepen geschrieben sei. Und es stimmt. Die erwähnten Gedichte über Pfirsichblüten und schwarze Drosseln sind klassische Naturgedichte. Und wenn auf Lyrikline georgische Dichter lesen (zum Beispiel hier), hört man sofort, dass da eine enorme Kraft dahintersteckt. Nur: ich vermag kein Porträt davon zu schreiben.

Ich habe einmal eine Dada-Zeitung aus Tbilissi gesehen, sie stammte aus den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, glaube ich. Diese Moderne muss es auch in den Gedichten geben. Doch ich erkenne sie nicht. Das muss an meiner Unkenntnis liegen. Es fängt schon damit an, dass die Buchstaben für das in "lateinischer Ausgangsschrift" geschulte Auge auch bei mehrmaligem Betrachten von geheimnisvoller Schönheit bleiben, eine akkurate "Perlen"schrift, die mir nicht einmal einen kleinen Finger zum Verständnis entgegenstreckt. Aber das heißt ja eigentlich nichts.

Auch die Lehnworte aus dem Deutschen, die es ja wahrscheinlich gibt (wie in allen Sprachen), erkenne ich beim Lesen nicht. Wikipedia erklärt mir, dass der Name der Schrift, Mchedruli, Ritterschrift bedeutet und vor Jahrhunderten deshalb so rund geformt wurde, damit sie den Rittern leichter von der Hand gehe. Das passt ins Bild, das man von Georgien hat, genauer ins Vor-Bild: Georgien gilt als Land der Gesänge, Feste und Tänze, der freundlichen Menschen in einer überwältigenden Natur. Parallel assoziiert man Kriege, Bürgerkriege und Scharmützel verschiedenster Art. Abchasien, Aserbeidschan, Armenien, die Türkei - das alles, so stelle ich mir vor, wird sich in der Sprache wiederfinden.

Bei Literaturen aus Ländern, von denen man nicht viel weiß, braucht es immer Persönlichkeiten, die sich auskennen, sich irgendwann aus welchem Grunde auch immer angesprochen fühlen und sich dann mit ihrem eigenen Enthusiasmus aufmachen, das Fremde zu uns herüberzutragen. Manchmal sind es politische Gründe, warum das Augenmerk sich auf ein Land richtet, manchmal gibt es andere "Törchen" in die fremden Fiktionen, eine Liebe oder eine Verszeile vielleicht ...



Zu den hiesigen Türöffnern in die lyrische Szene Georgiens gehörten einst, Ende der 1970er Jahre,  Autoren wie Adolf Endler oder Rainer Kirsch. Später Clemens Eich. Heute ist es unter anderem der Dichter Norbert Hummelt, der sich engagiert. Unermüdlich wirbt er, dichtet nach und ediert. Grundlage für sein Tun sind offensichtlich gute Interlinearübersetzungen.

Ich bewundere solche Kunst. Die Gedichtbände, die er veröffentlicht hat, beeindrucken auch der vielfältigen Stimmen wegen. Zum Beispiel Shota Iatashvili, der in anderen Publikationen auch mal Schota Iataschwili geschrieben wird. Er hat ein Gedicht "Die Generation" verfasst, eine äußerst konkrete Angelegenheit und eine äußerst universelle Erfahrung: Wenn man heranwächst, ist man fraglos sein Alter, doch wenn man älter wird, entdeckt man dass man GENERATION ist

Da siehst du ganz lebendige Menschen
Durch irgendwelche Straßen laufen
Paris in den Zwanzigern
London in den Sechzigern
Oder auch Moskau oder Leningrad, wenn' sein muss
Und dann begreifst du's,
Wie grauenerregend dieses Wort ist:
Generation.
Was für ein lausiger
Tifliser du bist
Du - ganz neunziger Jahre,
Wie du rumläufst
Jemand hat dich irgendwo gefilmt
Oder doch nicht.
Aber du bist trotzdem nur ein Film
Du bist das Unwort Generation
Und machst den Abgang ...

Das Gedicht geht noch weiter; irgendwann macht eine nächste Generation den Abgang, und wieder eine nächste ....  Und doch gilt, wie es in der letzten Zeile heißt: "ohne das Wort wärst du gar nicht hier."

Viele der Gedichte, die ich bisher gelesen habe, zeichnen sich durch einen gewissen melancholischen Grundton aus. Ein radikales Bekenntnis zum Subjektiven durchzieht die Zeilen. Die meisten sind im freien Vers geschrieben, einige sind Anrufungen, Evokationen - ein Ich wendet sich an ein Du, manchmal ist das Du auch das eigene Ich. Was bedeutet solch adressiertes Sprechen? Kann oder soll man daraus Rückschlüsse ziehen auf eine starke lyrische Tradition? Auf eine unsichere georgische Existenzweise? Welche Wurzeln hat das Bedürfnis nach Zwiegespräch und welche die Melancholie? Einmal erzählt ein Dichter, Besik Kharanauli - als wolle er die poetische Grundstimmung erklären -, er habe als Kind oft seine Großmutter besucht und jedes Mal erfahren, wie diese von traurigen Geschichten nachgerade lebendig wurde. Daraus habe er geschlossen: "Einen Menschen traurig zu machen, ist wichtig, um ihn wach zu machen. Das Herz muss sterben, um wieder aufwachen zu können."

Hat man erst einmal angefangen sich umzuschauen, entdeckt man, wie viele Publikationen georgischer Lyrik es gibt - meist in kleinen Verlagen. Wie gerne würde man tiefer in das Werk Einzelner eindringen. Aber wie? Zum Beispiel Zviad Ratiani, der zu den "experimentellen" gerechnet wird. Er war gerade in Berlin bei einem deutsch georgischen Schriftstellertreffen (Berlinisi), und auf der Homepage gibt es ein Foto von ihm, einem Gemälde in altmeisterlichem Stile nachgebildet: Ein Mann sitzt am Küchentisch, Beine breit; vor ihm nichts als eine Orange. Kurz gesagt: Die Verklärung des einfachen Lebens im Land, wo die Orangen blühen. Doch wozu die Stilisierung?

Zviad Ratiani ist Autor und Übersetzer, er überträgt aus dem Englischen und aus dem Deutschen, u.a. Auden, Pound, Celan und Rilke, aber sicher noch viele Dichter mehr. Ich hatte gelesen, dass die Wiener Schriftstellerin Nino Idoidze, auch sie georgischer Herkunft, sich im Dezember 2017 für ihn eingesetzt hatte - aus Protest gegen seine damalige kurzzeitige Inhaftierung. Aber welches wäre der Grund, oder richtiger: welche Grundlosigkeit gibt es in seinem Werk, dass man davon ausgehen muss, dass die Polizei ihn aus politischen Gründen festsetzte? Hat er sich kritisch geäußert? Werden Schriftsteller in Georgien derzeit hinter Gitter gebracht?

"Vorsätze für Dichterkollegen für 2018" überschrieb Ratiani sein folgendes Gedicht:

Ex voto
Schreib, was dir keiner glauben wird.
Schreib, als wäre nichts dabei, schreib
über Geister, deren Existenz
du selbst bezweifelst, und doch.
Schreib, was keiner dir verzeihen wird.
Nicht unten hin, nein mitten auf das Blatt
Schreib, dass du selbst dir Heimat bist
und rein dein Herz.
Schreib, wofür man dich auslachen wird.
Warte nicht auf Beifall, schreibe ungehemmt
über die tägliche, gemeine Niedertracht
und über Gott, der dich nicht erhört.
Was noch? Schreib über Liebe, ja darüber auch
Und sag, du kennst nun ihr Geheimnis:
Dass man Gedichte vor der Liebe schreibt
und sie erst lesen wird, wenn sie vorbei ist.

Von der politischen Wirklichkeit ist nicht so oft die Rede in der Lyrik, die ich las. Oder ich erkenne die Hinweise nicht. Auch in dem Ex-Voto-Gedicht, das Hummelt nach einer Interlinearversion von T. Khachapuridze nachgedichtet hat, weiß ich nicht, auf was genau "Schreib, was dir keiner glauben wird" in Georgen anspielen könnte. Im Netz findet sich ein englisches Gedicht von ihm:

If I were entrusted with this city,
not even the whole city but just this street,
I would start with that shop window
requesting the owner to remove those glossy mannequins
I have never gotten used to after so many years:
whenever I pass by, I think that they are living.
What are they doing wrong? Nothing.
How could they do anything worse?

Dazu heißt es: translated from the Georgian by the author and Tim Kercher.

Du siehst, Anja, es gibt so einiges zu entdecken. Und das verdanken wir Übersetzern wie Tim Kercher, Sibylla Heintze oder Norbert Hummelt. Aber: ein Gedicht ist bekanntlich aus Sprache gemacht, und zu dieser eigenen Dimension des Gedichts, dem Umgang mit dem Material der Sprache, dringe ich, zumal bei solchen Überblicks-Versuchen, nicht vor. Insofern habe ich nach einer Weile kapituliert und sende Dir statt einer Tagtigall meinen Kapitulationsbericht. Ich könnte Dir noch Verse von anderen Dichtern zitieren, jungen, die wir alle auf der Buchmesse im Oktober hoffentlich sehen und hören werden, etwa Lela Samniashvili. Doch in welcher Sprache werden wir sie danach befragen, was sie in ihrer Dichtung mit der Sprache anstellt? Erzählen könnte ich auch, und damit will ich schließen, von dem jungen Paata Shamugia, geboren 1983, dem ersten georgischen Dichter, der den SABA-Literaturpreis des Landes bereits zwei Mal erhielt. Im Netz bei Lyrikline fand ich folgendes Gedicht, das mir wie ein Schlusswort für diesen Brief erscheint:  

La-sang
We must understand
that poetry
is just a relocation of the objects
and nothing more is required of it
and when we want more,
it becomes more,
but - less, than a poetry.

Translated by Saba Lekveishvili


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Zum Weiterlesen und Weiterhören:

--- Georgische Autoren bei Lyrikline
--- Bela Chekurishvili, Wir, die Apfelbäume. Gedichte, aus dem Georgischen von Norbert Hummelt,  Wunderhorn, Heidelberg, 17. 90 Euro
--- Aus der Ferne,  Neue Georgische Lyrik I, Hg. von Matthias Ungerer, Nachdichtungen Norbert Hummelt, Linolschnitte Hans Scheib,  Corvinus Presse (nur noch antiquarisch)
--- Die Kartoffelernte, Neue Georgische Lyrik II, Hg. von Matthias Unger, Zeichnungen, Dieter Goltzsche, Nachdichtungen Norbert Hummelt und Sabine Schiffner, Corvinus Presse (ab dem 26.10.2018)
--- Adolf Endler, Kleiner kaukasischer Divan. Von Georgien erzählen, Hg. von Brigitte Schreier-Endler,  Wallstein Verlag, 2018, 22 Euro 
--- Clemens Eich, "Aufzeichnungen aus Georgien", in Gesammelte Werke 1, Hg. von Elisabeth Eich und Ulrich Greiner,  S. Fischer, 29, 90 Euro
--- Zug nach Tbilissi, Ein Lesebuch, Hg, von Alexander Kartosia und Eduard Schreiber, Suhrkamp Verlag, 25 Euro