Tagtigall

Du richtest den Kopf hoch

Die Lyrikkolumne im Perlentaucher. Von Marie Luise Knott
27.10.2014. Wer erinnert sich noch an Uwe Greßmann, in dessen Versen die Straßenbahnen Geige spielten und "die Firma" Irma hieß? Der 1969 im Alter von 36 Jahren verstorbene Dichter galt in der DDR als Sonderling; im Westen, wo man damals auf "Ermittlungen" und "neue Schlichtheit" setzte, blieb er nahezu unbekannt.
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Wie ein Fluss, der sich aus unzähligen Quellen speist und auch die Erinnerung an Wiesen und Felsstürze mit sich führt, über welche seine Bäche einst plätscherten und sprangen, so nährt sich auch die Sprache der Dichtung aus Erinnerung und treibt ihrerseits neue Erinnerungen aus sich hervor, denn: nichts entsteht alleine. Das Neue trägt immer auch das Uralte in sich aus, und ab und an halten wir inne und horchen dem Fluss hinterher. "Man kann ja eine "Paradiessprache" suchen, aber das Hintergrundrauschen im Suchen gehört zu jedem Sprechakt", wusste Oskar Pastior.

In der jüngsten Ausgabe des Schreibheft. Zeitschrift für Literatur (83) hat Norbert Wehr gemäß der hauseigenen Maxime: "Ein Dichter muss mehr als einer sein, um einer sein zu können" ein Dossier zu dem Dichter Uwe Greßmann versammelt, mitsamt einer "Information" des Zeitgenossen Adolf Endler (verfasst 1969/ 70, mehr hier) und einem heutigen "Nachdenken" von Steffen Popp.

Jede Generation knüpft den Faden der Erinnerung neu, vielleicht auch aufgrund der Fragen und Nöte ihrer Zeit. Auch was zu Lebzeiten abseitig blieb, ist ja "in der Welt", kann zu anderen Zeiten von anderen Augen wieder oder neu entdeckt, gesehen und gelesen werden. Das "Weiterreichen der Glut" in Gedichten und Geschichten belebt das Heutige und beim Lesen des Dossiers erkennt man: die Erinnerung an das Werk des "DDR-Dichters" Uwe Greßmann (1933-1969) tut not.

Nur halb hat den grünen Becher geleert
Wer am Ende des Weges
Dem Trank noch nachtrauern will
Doch das dunkle Haus schon betreten muß


Sechsunddreißig Jahre ist Uwe Greßmann geworden, 20 Jahre davon war er lungenkrank. Die Welt seiner Dichtung siedelte im Land der Lebenden und im Reich der Toten, im Heute, mal bei den Urmunen (von Urmutter abgeleitet), mal in Schilda. "Den Vater sah ich nie, die Mutter etwa drei Wochen; sonst lebte ich unter Fremden." Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Waisenhäusern und Pflegeheimen. "Lebenslauf. Schlimm niemandes Kind zu sein und wie ein Anzug durch viele Hände zu gleiten. Gefalle ich nicht? Könnte ich mich an irgendwen halten. An einen Bügel etwa. Ich hänge an ihm wie an einem Vater."

Diese "Bügel"-Wirklichkeit, die gab es, und er beschrieb sie: die Ämter ("Und wer kennt nicht die Behörden / und die Rennereien mit dem Schein"), das "geometrische Idyll" oder die Parteitage ("In Mitte der Hauptstadt / Tagt die aufgehende Sonne"). In seinen "Modernen Landschaften" wuchsen "Stahlbäume" auf Bürgersteigen:

Und es zweigen die Drähte
Von Baum zu Baum. Darunter brüllen
Die elektrischen Tiere
Mit Menschen im Herzen vorüber.
Und so mancher gehet vorbei dort
Und findet nichts weiter dabei;
Denn die steinerne Landschaft
Ist ja auch seine Mutter.


Uwe Greßmann fand etwas dabei. Er fand sich nicht ab mit dem, was er sah und hörte. Er nahm sich die Freiheit, die sprachlichen Konventionen zu verlassen und - inmitten der modernen Wirklichkeit mit ihren rasanten technischen Entwicklungen - neben Kitsch, Romantik und Ironie auch den Kosmos als poetisches Erlebnis zu feiern und Sagenhaftes wie Phantastisches mitschwingen zu lassen. 1966 erschien als erster und einziger Gedichtband zu seinen Lebzeiten "Der Vogel Frühling".

Frühling, du lieblicher
Du richtest den Kopf hoch
Davon ist der Himmel so blau.

Und es wärmt uns alle dein gelbes Auge
Und du siehst uns an.
Und darum leben wir.


Der Band untermauerte Greßmanns bereits etablierten Ruhm in DDR-Dichterkreisen. Über die Mauer jedoch, nach Westberlin, gelangten seine Verse damals nicht. Vielleicht weil man im Westen nach Günther Eichs "Inventur", Paul Celans "Todesfuge" und Ingeborg Bachmanns "Anrufung des Großen Bären" in den 1960er Jahren auf "Publikumsbeschimpfung" (Handtke), "Ermittlungen" (Peter Weiss) und "neue Schlichtheit" (Enzensberger) setzte.

Greßmann ist ein Kind finsterer Zeiten. Geboren am ersten 1. Mai des neuen, angeblich tausendjährigen Reiches, arbeitete er später, in der DDR, u.a. als Montierer und Bote. Als Dichter war er ein Sonderling. Adolf Endler beschreibt das verbreitete Staunen: "Greßmann scheint nahezu voraussetzungslos ans Werk zu gehen oder doch seine Vorbilder in poetischen Landschaften zu finden, die heute kaum noch ein Mensch besucht." Endlers "Information", in den Schreibheften nachzulesen, vermittelt einem noch heute ein Gefühl für die damalige Wirkung dieses höchst befremdlichen hohen Tons, der sich so schroff am Alltäglichen brach. Nicht von ungefähr hat auch die Dichter-Kollegin Elke Erb ihm einen Nachruf verfasst, 1972 erschien posthum "Das Sonnenauto", 1978 "Sagenhafte Geschöpfe" und Richard Pietraß widmete Greßmann im selben Jahr ein Poesiealbum.

Wo wir uns der Welt dieses Dichters lesend annähern, merken wir: So frei sein Umgang mit der Überlieferung, so eigen der Ton, er ist (fast unmerklich für uns heute) fest in seiner eigenen Zeit verwurzelt, wo man sich schon viel zu lange daran gewöhnt hatte, wie er notiert, "auf die Hilfe der Heinzelmännchen" verzichten zu müssen.

Man denkt zwar oft der alten Tage in den Liedern der
Kulturvölker dort,
aber welcher Märchenprinz ist heute noch so einer,
wenn er den Stacheldraht durch will, Dornröschen aus dem
Rosenlager zu befreien.
Sagten die sagenhaften Leute von einst.


"Stacheldraht", "Rosenlager", "dort" - ob den Lesern damals auch die innerdeutsche Grenze vor dem inneren Augen gestanden hat? Greßmanns Gedichte sind Kassiber, die Sagenhaftes verbinden mit dem brennend Aktuellen seines Jahrhunderts. Ob er sich mit Reimwitzen wie "Irma heißt die Firma" den Staat auf Distanz halten wollte? Er selber betont, dass sich vertut, wer glaubt, die "in den Kurven Geige spielenden Straßenbahnen" seien lediglich in der heutigen Großstadt erlebbar, nur scheinbar gebe es keine Verbindung des Heute zur Überlieferung. Klang und Camouflage können so manches mittransportieren, das vielleicht nur langsam in die Leser und Hörer einsickert, unscheinbar und nachhaltig. Sein Gedicht "An Arkadia" handelt vordergründig von spielenden Kindern im elektrifizierten Stadt-Landschaftsidyll:

Die Straßen sind des Stadtbaums Äste,
Wie Blätter wogen die Lichter daran,
Vom Lärm zittert der Wald,
Der Mund eines Kindes, das Auto spielt.

Mitten in der Spielstube
Umarmen sich zwei wie in einer Haustür,
Als ob sie es schon ernst meinten;
Auch richtige Schaufenster gibt es da,
An denen wir Kinder vorbeigehen,
Aber niemand sieht das Glück.

Und die Kinder räumen das Gebirge weg
Und die Bäume und Wiesen die künstlich sind
Und holen den Baukasten,
In dem die Stadt von Morgen eingepackt ist
Und machen es den Erwachsenen nach
Und bauen tatsächlich eine Zivilisation auf.

Und da es Zeit ist, schlafen zu gehen,
Knattert der Erzieher wie ein Moped,
Das eine Straße fährt: Dein Spiel ist zu Ende,
Arkadia, wie schade um dich.


Diese Verse, diese Anrufung des Reichs der Poesie jenseits aller gesellschaftlichen Zwänge ("An Arkadia"), erweisen sich bei näherem Hinsehen als ein Gedicht über die Bedrohung der Kunst und der freien Imagination in Zeiten totaler Gängelung ("Arkadia, wie schade um dich"). Denn in einer Welt, in der die nachfolgenden Generationen nurmehr mit präfabrizierten Wiesen und präparierten Klötzen hantieren, und nur nachbauen können und dürfen, was die Erwachsenen ihnen vorgestanzt haben - in einer solchen Welt ist die Kunst von Auslöschung bedroht. Was bliebe, wäre Staat, Macht und Maschine. Arkadia, wie schade um dich.



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Zum Weiterlesen:
- Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 83, August 2014, Köln.
- Uwe Gressmann, Der Vogel Frühling, Halle 1966; Das Sonnenauto, Halle 1972; Sagenhafte Geschöpfe, Halle 1978; Poesiealbum 126, 1978; Lebenskünstler, 1982.
- Bei Planetlyrik, anlässlich des 80. Geburtstags des Autors am 1. Mai 2013

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