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Vom Tanzsaal in den Kreißsaal

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
07.09.2023. Man muss es so sagen: Gundula Schulze Eldowy hat mit "Berlin in einer Hundenacht" schlicht die großartigste Serie von Fotos aus und über Berlin nach 1945 gemacht. In Wien widmet sich das neue "Foto Arsenal" mit einer spektakulären Ausstellung dem kühnen Frühwerk Schulze Eldowys. Und setzt mit einen weiteren Ausstellung der ebenso faszinierenden Mari Katayama gleich einen weiteren aufregenden Akzent, der auf die Zukunft hoffen lässt.
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Am 31. August ging in Wien die offizielle Eröffnung des neuen "Foto Arsenals" über die Bühne. Da seine zukünftige Heimat - ein Gebäude in unmittelbarer Nähe des Belvedere und des Hauptbahnhofs - noch für den neuen Verwendungszweck umgebaut wird, fand die Einweihungsparty in den Räumlichkeiten des Wiener Museumsquartiers statt.

Die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler setzt große Hoffnung in das "Foto Arsenal". Es soll der traditionell im Schatten von Oper, Theater, Kunsthistorischem Museum und Sammlung Leopold stehenden Foto-Szene neue Impulse geben. Kaup-Hasler geht es über die Fotografie hinaus um eine nachhaltige, internationale Anbindung von Teilen des Wiener Kulturbetriebs abseits der großen Tanker, wie das etwa im Fall von Impuls Tanz mit der Zeit und wachsendem Zuspruch des Publikums gelungen ist.

Michelle Cotton, die als Programmleiterin am Mudam, dem nationalen Museum für zeitgenössische Kunst in Luxemburg, einen hervorragenden Job gemacht hat, soll künftig die notorischen Probleme der Kunsthalle Wien lösen, dabei vor allem den massiven Publikumsschwund rückgängig machen, der unter dem Zagreber Kollektiv WHW um sich griff, dessen proklamierter feministischer und aktivistischer Schwerpunkt in der Stadt von Valie Export und Elfriede Jelinek schlicht langweilte. Schwierigkeiten gab es aber schon unter seinem Vorgänger Nicolaus Schaffhausen, der sich dazu dem Problem gegenüber sah, dass er als Deutscher in Wien unter verschärfter Beobachtung  steht, jeder (vermeintliche) Fauxpas kulturpolitisch doppelt schwer wiegt und medial ausgeschlachtet wird.

Ein Problem, mit dem auch der Direktor des "Foto Arsenals" zu kämpfen haben wird. Lange Zeit wurden Posten wie diese in Österreich für gewöhnlich unter der Hand vergeben, entscheidend waren dafür etablierte Seilschaften oder überhaupt der Besitz des entsprechenden Parteibuchs (Besetzungen wie die von Claus Peymann als Burgtheaterdirektor waren da nur die spektakuläre Ausnahme von der Regel). Auch im Fall des "Foto Arsenals" wurde lange ein bestimmter Name genannt, es schien, als stünde die Entscheidung längst fest - als sich der langjährige Chefkurator und Mitbegründer von C/O Berlin, Felix Hoffmann, kurzfristig noch bewarb. Sein Weggang vom C/O Berlin kam für viele überraschend - aber nicht anders als ein Fußballer, der lange beim selben Verein gespielt und beachtliche Erfolge erzielt hat, suchte er schlicht eine neue Herausforderung. In Wien kann Hoffmann im Rahmen seiner Möglichkeiten vielleicht sogar ein wenig Goldgräberstimmung verbreiten.

© Gundula Schulze Eldowy, Foto Arsenal Wien

Zwar gibt es in der Stadt durchaus über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Adressen - etwa die Galerien Westlicht und Anzenberger oder das Magazin Eikon -, allzu tief darf man aber nicht bohren, so einiges stünde (nicht anders als in Deutschland) ohne langfristige Förderungen von Stadt und Bund auf verlorenem Posten. Der Grund dafür ist in unseren Breitengraden mehr oder weniger immer der gleiche: der Fokus auf traditionelle Kunstformate und dafür notwendige Gebäude sowie mit der Erhaltung und Programmierung dieser Häuser bestellte Beamte und deren Mitarbeiter. Ein Alien auf ethnologischer Mission hätte einigen Grund zur Annahme, der deutschsprachige Kulturbetrieb sei über weite Strecken eine originelle Form von Ahnenkult, der von einer hierarchisch aufgebauten Kaste organisiert und medial beschworen wird.

In diesem Eurodisney für Klassikfreunde, wie ich Wien letztes Jahr im Fotolot genannt habe, hat Hoffmann seine Direktion mit einer Doppelausstellung eröffnet, die es in sich hat und auf Kommendes neugierig macht. Die beiden Protagonistinnen der Ausstellung sind herausragende Vertreterinnen ihrer Generation, auf die ich schon eingehend hingewiesen habe (etwa hier und hier): Gundula Schulze Eldowy und Mari Katayama.

Mari Katayama (Jahrgang 1987) leidet an einer Knochenschwäche, die mit der Zeit zu Missbildungen und Bewegungsunfähigkeit führt, so dass sie sich im Alter von neun Jahren beide Unterschenkel und ein Kniegelenk amputieren ließ, um mit Hilfe von Prothesen weiter aufrecht gehen zu können. Ihre Form der Bewältigungsarbeit geht jedoch darüber hinaus: Sie transformiert die Besonderheit ihres Körpers und die - nicht selten negativen - Erfahrungen, die sie damit macht, in ein positives, künstlerisches Narrativ und erschafft mit der Zeit hybride Ich-Konstruktionen, die von ihrem persönlichen Schicksal wegführen und offen werden für Zuschreibungen von außen.

© Mari Katayama, Foto Arsenal Wien

Sie verziert kunstvoll ihre Prothesen, färbt sich die Haare und rasiert sich die Augenbrauen. Außerdem entwirft sie Kleider und Objekte, die sie um ihr hybrides "Ich" herum gruppiert. Spitze. Kristalle. Blumen. Muscheln. Figuren aus gefüttertem Stoff. Marmeladegläser, gefüllt mit unterschiedlichen Ingredienzien, die in Formaldehyd schwimmen. Am Ende ist ihr ganzes Studio voll davon, sodass es nicht nur ein konkreter, realer Raum ist, sondern auch ein Traumreich, eine sich mit der Zeit immer wieder verändernde Installation, in der Katayama eine lebendige Skulptur ihrer selbst ist. In Wien sind in "Mine and Yours" durch Ausstellungen auf der Paris Photo oder der Biennale von Venedig sowohl bestens bekannte als auch neue Werke zu sehen, die reduzierter sind, mit Hell und Dunkel, Licht und Schatten arbeiten, wo bisher eine präzise, detailbesessene Opulenz herrschte.

Um Wunden unterschiedlicher Art geht es auch in "Schattenwinde", einer Ausstellung von Gundula Schulze Eldowys Frühwerk aus den Jahren 1979 bis 1990, die sich aus den Serien "Der große und der kleine Schritt" sowie "Tamerlan" speist. Schulze Eldowy (Jahrgang 1954) hat sich, nachdem sie 1972 von Erfurt nach Berlin gezogen ist, nicht etwa in die intellektuelle Kreativszene Ostberlins aufgemacht, sondern die armseligen Lebensverhältnisse der Kriegsgeneration in direkten, ungeschminkten Fotos festgehalten (dabei immer in offenem Austausch mit ihrem Gegenüber), dass Betrachtern schlicht der Mund offen bleibt. Lagerarbeiter, Gemüsehändler, Briefträgerinnen sowie Pensionistinnen und Arbeitsunfähige, die in seit Kriegsende nicht renovierten Mietshäusern wohnen und von ihrer kargen Kriegshinterbliebenenrente oder der Mindestsicherung kaum vernünftig leben können.

Die Würde des Menschen ist antastbar, lernt man aus diesen Fotos, die zugleich immer wieder von einem kurz aufflammenden Überlebenswillen künden. Es versteht sich von selbst, dass diese Lebensumstände vom SED-Regime totgeschwiegen wurden und ihre Darstellung unerwünscht war - bereits in Schulze Eldowys erster Ausstellung mussten Bilder abgehängt werden, und eine Stasi-Akte wurde angelegt.

Nach ihrer legendären Serie "Berlin in einer Hundenacht" - schlicht die großartigste Serie von Fotos aus und über Berlin nach 1945 - begann Schulze Eldowy 1982 mit Farbe zu arbeiten. Auch der Blick der Fotografin auf die Welt verändert sich, ist nicht mehr abhängig von zufälligen Begegnungen und Entdeckungen beim Streunen durch die Straßen und Hinterhöfe Berlins. Die Fotos haben prinzipiellen, zyklischen Charakter, beginnen mit einer Geburt im Krankenhaus und enden mit Siechtum und Tod wiederum dort. "Vom Tanzsaal ging ich in den Kreißsaal, vom Anatomiesaal in den Schlachthof, von dort in die Oper, die Fabrikhalle und auf den Friedhof", sagt Schulze Eldowy später.

Übergeordnetes Thema ist die Entfremdung des Menschen in der modernen Zivilisation, nicht zuletzt die Desillusionierung von der Utopie des Sozialismus, gegen die vor Ort anzugehen oder vor der in den Westen zu fliehen (lebens-)gefährlich sein kann. Der Zeitraum, in dem die Bilder entstehen, 1982 bis 1990, entspricht nicht zufällig dem Zeitraum, in dem sich die DDR auflöst. Dem von Schulze Eldowy dokumentierten äußeren Zerfall der Städte und Institutionen korrespondiert eine aus der Kombination von  Desillusionierung und verordneter Mangelwirtschaft resultierende Verhärtung der Menschen.

© Gundula Schulze Eldowy

"Fleisch" steht nach Schulze Eldowy visuell im Mittelpunkt der Serie: Das Fleisch des betrogenen, klein gehaltenen, verletzten und geschundenen Menschen. "Während einer Krebsoperation fotografiere ich ein Ärzteteam und sehe den apfelgroßen Tumor im Magen einer Frau. Jedes Mal, wenn ein Stück Fleisch aus dem Herd gebrannt wird, zischt es, und der Geruch verbrannten Fleisches steigt in meine Nase. Sie legen den Tumor in eine Schale. Ich fasse ihn an. Es ist ein Klumpen verhärteten Fleisches. Härte und Gewalt in materialisierter Form." Eine Situation, aus der sich Schulze Eldowy 1990 endgültig befreit, nachdem eine Anklage gegen sie als CIA-Agentin mit dem Ende der DDR fallengelassen wird und sie einer Einladung Robert Franks nach New York folgt.

Die Kombination Schulze Eldowy / Katayama ist ein wohl durchdachtes, griffiges kuratorisches Statement von Felix Hoffmann - noch dazu eines, zu dem ich gerne eine einführende Rede gehalten habe. Dennoch wird es an der Zeit, Schulze Eldowy vom Nimbus der rigorosen Chronistin der letzten Jahre der DDR zu befreien und endlich ihr ganzes Werk in den Fokus zu nehmen, das nach langen Jahren in New York, Ägypten und Peru mit dem Frühwerk ästhetisch nur wenig gemein hat. In New York erschafft sie mit Mehrfachbelichtungen und Überblendungen zwischen spiegelnden Wolkenkratzern und Museen ein neues Selbst-Bild. In Ägypten gelingen geradezu halluzinatorische Aufnahmen in der Wüste und von Mumien im Pharaonensaal des Ägyptischen Nationalmuseums.

Dass Schulze Eldowys Arbeit in Deutschland einen partiell immer noch ungehobenen Schatz darstellt, ist zwei Umständen geschuldet. Erstens: Den radikalen frühen Arbeiten schlug in Deutschland nie die Stunde. In der DDR nicht, und auch nicht in der Euphorie nach der Wende oder der neoliberalen Aufbruchszeit der sozialdemokratischen Genossen der Bosse. Und zum Besitzstand wahrenden Moderations-Modus der Merkel-Ära passten sie auch nicht. Zweitens: Schulze-Eldowy lebt seit 2001 an der Seite ihres indigenen Mannes Javier in Peru, war oft jahrelang nicht in Europa und kümmerte sich nicht groß um die öffentliche Wahrnehmung ihres Werks - kein Wunder, wenn man in "geradezu paradiesischen Verhältnissen", wie sie sagt, an der peruanischen Pazifikküste lebt. Nun lebt sie seit 2021 wieder in Berlin, neben der Ausstellung im Foto Arsenal ist eine Publikation über die Mumien bei Spector Books geplant. In der Akademie der Künste in Berlin wird es eine Ausstellung zur Beziehung von Robert Frank und Schulze Eldowy geben, und das Busch-Reisinger Museum der Harvard Universität hat ein Konvolut aus "Berlin in einer Hundenacht" angekauft. Im meinem Essay über Schulze Eldowy habe ich mich gefragt, warum sich in ihrem Atelier Kuratorinnen und Sammler nicht die Klinke in die Hand geben - wenn nicht alles täuscht, hat sich diese Frage erledigt.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher,.de

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