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In ihrem besten Zwirn

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
14.07.2023. Die Ausstellung "Trace" im Münchner Haus der Kunst bietet eine Mischung aus Konfrontation und Konjunktion, Positionen aus Europa und den USA werden Positionen aus Afrika und Asien (dabei vor allem China) gegenüber gestellt. Einige seltene Kostbarkeiten sind zu sehen, etwa Beispiele aus Kohei Yoshiyukis legendärer Serie "Der Park" (1971/72). Und hinreißend sind Seydou Keitas Porträts von Menschen aus Bamako. Beeilen Sie sich, die Ausstellung läuft nur noch bis 23. Juli.
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Im letzten Fotolot habe ich auf die Ausstellung "Trace" im Haus der Kunst in München hingewiesen und sie als "wohl bedeutendste" des ersten Ausstellungshalbjahres bezeichnet. Nach einem zweiten Besuch hat sich das mit der Bedeutsamkeit ein wenig relativiert, dennoch ist die Ausstellung angesichts dessen, was sie alles aufbietet, unbedingt sehenswert.

Wer umwelt- und brieftaschenbewusst mit einem Deutschlandticket aus größerer Entfernung anreist, kann zudem ein in Kunstkreisen gerade angesagtes "Reenactment" betreiben und der tiefen Wahrheit des Spruchs "Per aspera ad astra" nachspüren. Senecca zugeschrieben, passt er nicht nur wunderbar auf diverse christliche Passionserzählungen, sondern auch auf die Fortbewegung mit der Deutschen Bahn.

Haus der Kunst, Foto: Maximilian geuter



Im Haus der Kunst angekommen, werden durchschnittlich geplagte Reisende schon im ersten Raum für ihre Mühen belohnt.

Karl Blossfeldts
ästhetisch wertvolle, fotografische Pflanzenkunde wird einer (ebenso analogen und schwarzweißen) Serie von J. D. Okhai Ojeikere gegenübergestellt, der 1968 begann, die offenbar unendlich vielfältigen Flecht-Frisuren nigerianischer Frauen in Rückenansicht zu dokumentieren. Zwischen beiden Serien hin- und herblickend, kann man als Betrachter nicht anders als beglückt lächeln.

Diese Form - eine Mischung aus Konfrontation und Konjunktion - wird auch in den nächsten Räumen beibehalten, Positionen aus Europa und den USA werden Positionen aus Afrika und Asien (dabei vor allem China) gegenüber gestellt.

Ich lasse die so einem Konzept unausweichlich innewohnende (in diesem Fall jedoch nicht aufdringliche) kuratorische Volkspädagogik beiseite (nicht nur Bahnreisende werden mir dafür danken) und werfe einfach ein paar sommerliche Schlaglichter auf das Ganze.

Einer stattlichen Auswahl von August Sanders beinah schon ins kollektive Unbewusste übergangenen "Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts" stehen Seydou Keitas Menschen aus Bamako gegenüber. Keita ist so etwas wie der Ahnherr der afrikanischen Fotografie nach 1945, zumal der Porträtfotografie. Nachdem er 1948 ein Fotostudio in Bamako eröffnete, warfen sich bald darauf alle (mal mehr, mal weniger) wichtigen Menschen in Schale, um von ihm fotografiert zu werden. Ohne es eigens ansprechen zu müssen, ist es natürlich auch ein Statement gegen die Verkürzung Afrikas und seiner Bewohner auf den kolonialen europäischen Blick.

Unabhängig davon sind der große Ernst, mit denen die Menschen in ihrem besten Zwirn vor Keita posieren, und die Mühe, die sie sich geben, urbanen Schick zu verkörpern - regionalfranzösisch "Bamakois" genannt - berührend.

1948 ist übrigens auch das Geburtsjahr von Artur Walther, dessen Sammlung die ausgestellten Werke angehören. In Burlafingen/Neu-Ulm geboren, war er bis 1994 Investment Banker an der Wall Street und arbeitete unter anderem für Goldman Sachs. Die Fama will es, dass er eine Neigung für Fotografie besaß und gut mit Bernd und Hilla Becher bekannt war. Als Hilla in seiner Dunkelkammer in New York ihre Fotos entwickelte, begleitet von Gesprächen über Fotografie, wurde die Neigung zu einer Leidenschaft. Das serielle Element, das Bechers Werk prägt, ist neben dem Porträt der zweite große Leitfaden sowohl in Artur Walthers Sammlung als auch in der Ausstellung.

Walthers Anliegen war es immer zu zeigen, dass es in den Jahrzehnten nach 1945, in denen der Fokus immer auf der westlichen Kunst lag, sie als Maßstab für alles galt, auch in Afrika und Asien KünstlerInnen gab, die zu klassischen Genres wie "Porträt" oder "Landschaft" Maßgebliches geleistet haben - diese große Überblicks-Ausstellung bringt dies noch mal auf den Punkt.

© Seydou Keïta. Courtesy The Pigozzi Collection, Geneva und The Walther Collection, Neu-Ulm / New York.


Richards Avedons berühmte, in schwarzweißer Contact Sheet-Ästhetik gehaltene Serie von 69 Vertretern der US-Politprominenz fällt gegen Keita und Sander ein wenig ab (was aber auch an mir liegen kann, ich konnte Avedon im Gegensatz etwa zu Penn noch nie viel abgewinnen). Leider hat man Zanele Muholis Schwarzweiß-Porträts von LGBTQ-AktivistInnen ausgerechnet neben Keitas Fotos platziert, wo auch sie im Vergleich ein wenig untergehen.

Aber in dieser Ausstellung geht es zum Glück nicht darum, wer besser oder schlechter (platziert) ist, auch nicht, wen ich mehr oder weniger mag (auch wenn sich das nie ganz verbergen lässt und ich das auch gar nicht will), sondern um einen gemeinsamen Geist, eine gemeinsame Sache.

In einer anderen Sektion, die Aspekte des Raums zeigt (von Geopolitik über Stadtplanung bis hin zu seiner konkreten Inbesitznahme durch den Menschen), gibt es großformatige Aufnahmen von Guy Tillim, die den Verfall der einstigen Prachtstraße von Kinshasa "Avenue Patrice Lumumba" einfangen, deren Bauten auf spektakuläre Weise Kolonialismus, Postkolonialismus, westliche Wolkenkratzer-Ästhetik und sowjetischen Brutalismus in sich vereinen.

Diese Fotos werden den Aufnahmen aus Mich Epsteins Serie "American Power" gegenübergestellt, die gestochen scharfe, mittelformatige Panoramen urbaner Stadtlandschaften wie in Las Vegas zeigen, und durch ihre Größe den unglaublichen Verbrauch von Ressourcen nicht nur sicht-, sondern förmlich erlebbar machen, der zu ihrer Errichtung und Aufrechterhaltung nötig ist.

Eine echte Entdeckung sind Aida Silvestris unscharfe Porträts äthiopischer Migranten, die es nach London geschafft haben - sie hat den Bildern die jeweilige Fluchtroute der Menschen mit einem Faden  eingenäht.
Interessant auch der Gegensatz zwischen Samuel Fossos Selbstinszenierung als Angela Davis oder Malcolm X im Vergleich zu Jo Ractliffes sowohl fotografisch als auch menschlich außergewöhnlicher Zurücknahme in ihrer Dokumentarfotografie.

Alles akribisch aufzuzählen, das in der Ausstellung verhandelt wird, würde den Rahmen sprengen - zudem ist heute nach heißen Tagen in Wien wieder mal ein linder Abend, der Heurige und der Weiße G'spritzte rufen, ich bitte also um Nachsicht.

© Steidl Verlag, The Walther Collection  Neu-Ulm/New York


Was mich selbst besonders gefreut hat, war das Wiedersehen mit den kompromisslosen Künstlern des Pekinger East Village der neunziger Jahre um Rong Rong. Sein "Diary Beijing East Village" ist 2019 bei Steidl erschienen - dringende Kaufempfehlung!

Zum ersten Mal überhaupt an einer Wand gesehen habe ich Teile von Kohei Yoshiyukis legendärer Serie "Der Park" (1971/72). Yoshiyuki fotografierte in Tokio Paare, die nachts in öffentlichen Parks Sex hatten. Aber nicht nur diese: Die Paare zogen ganze Scharen von Voyeuren an, die sich in ihrer Schaulust so weit an die Paare heranschlichen, dass sie sie förmlich berühren konnten, wie Yoshiyukis meist mit einem Blitz aufgenommenen Fotos belegen. Eine irre Serie, die nach ihrer Ausstellung 1980 einen derartigen Skandal verursachte, dass Yoshiyuki sie fünfundzwanzig Jahre nicht mehr zeigte.

Das alles und noch mehr gibt es noch bis zum 23. Juli in München zu sehen - also per aspera ad astra und nichts wie hin.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de