Tagtigall

Was nun? Was nun?

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
20.12.2023. "das gedicht gibt es nicht. es / es gibt immer nur dies gedicht das / dich gerade liest", schrieb einst Oskar Pastior. Die Gedichte von Larrry Eigner und Jan Wagner lesen uns und sie lesen uns die Welt.
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In Hudson am Hudson River, einem ehemaligen Walfängerort, wo John Ashbery lebte und wo die Trottoirs und Promenaden im Sommer von New Yorkern bevölkert sind, treffen sich auch nach der Saison regelmäßig Dichter aus der Umgebung. Jüngst stellte der Language Poet Charles Bernstein die Biografie des hierzulande immer noch viel zu unbekannten Dichters Larry Eigner (1927-1996) vor. "Sustaining Air" lautet der Titel in Anlehnung an Eigners ersten Gedichtband gleichen Titels, der 1953 erschien.

Eigner, einer der Black Mountain Poets, war aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung spastisch gelähmt und saß zeitlebens im Rollstuhl. Man verstand ihn nur schwer, und auch das Tippen mit zwei Fingern war ihm mühsam - in Filmeinspielungen konnte man an dem Abend in Hudson zusehen, wie die Buchstaben aus der Schreibmaschine einzeln auf das Papier fallen. Er holte sich die Welt aufs Papier und durchwanderte sie.



          

Es stimmt, dass Poesie keinen "Gesellschaftsvertrag mit der Wirklichkeit" (Adorno) hat, doch sie hat die Kraft, sich mit allen Sinnen der Wirklichkeit zu besinnen. Darauf zu beharren, dass das Leben nicht aus geraden Linien gemacht ist. Dafür stehen auch Eigners Verse. Unter dem Titel "Wörter im Raum"  haben ihm Jürgen Brôcan und Lena Dahlbüdding jüngst ein Dossier in der Nummer 101 der Zeitschrift  Schreibheft gewidmet, das neben Übersetzungen einzelner Gedichte und Zyklen auch eine poetische Selbstaussage sowie ein Interview enthält, das Peter Bates mit Eigner geführt hat. Die Dichter Charles Bernstein und Richard Olsen würdigen seinen Einfluss auf heutige US-Dichter.

Unmittelbar erkennt man beim Lesen seiner Verse, wie viel Luft Worte brauchen, um sich drehen und wenden zu können.  



Beim Schreiben musste Eigner das Gesicht nahe über die Maschine beugen. Buchstabe für Buchstabe hackte er die Worte aufs Papier. Dort angekommen suchen sie sich zunächst wie Archen selbst zu verorten, bevor sich Konstellationen zeigen, luftige Verbindungen mit anderen auf dem Papier Vorhandenen. Von Arche zu Arche. Silben, Worte, Halbsätze spinnen Fäden des Hörens, Denkens und Sehens über Zeilen hinweg, gehalten werden sie von jenem Luft-Weißraum, auf dem sie schweben.

Larry Eigner, dem die Welt nicht sehr zugänglich war, war sich der Welt, in der er lebte und die ihn umgab, immer bewusst. In den 1960ern engagierte er sich neben der Dichtung auch für die Rechte der Behinderten. Er habe zwar nie in den Slums gelebt und könne fast nichts gegen sie unternehmen, sagt er in dem im Schreibheft abgedruckten Interview, aber es sei falsch, die Augen zu verschließen und nicht "so viel wie möglich" dagegen zu tun. Was aber wäre "so viel wie möglich", und vor allem, was ist der Dichtung möglich?

Laut einer Studie im Netz fand der Mord an Martin Luther King von 1967 ebenso Eingang in seine Verse wie das große Erdbeben in Alaska von 1964; aber bereits 1953, mitten in der McCarthy Zeit wendet er sich in "Night of Execution" gegen die Hinrichtung der beiden mutmaßlichen kommunistischen Atom-Spione Ethel und Julius Rosenberg.
         


Jetzt ist alles vorbei damit, beginnt Eigner. Der Punkt am Ende der Zeile verstärkt die Aussage; die Trauer, die Endgültigkeit. Alle "you"s dieser Welt konnten nun, so schreibt er, erkennen, was das Ganze bedeutete, Eisenhowers Ablehnungen der telegrafischen Gnadengesuche mit dem Hinweis auf Kongress und Gesetz.

Charles Bernstein, der language poet, der in Hudson von Eigner erzählte, bezeichnete dessen lose Fragmente als "verwirklichte Demokratie" aus lauter Einzelwesen. Viele der Gedichte sind schütter, doch jedes Wort, jede Zeile ist verdichtete Konzentration.  In "# 71, On my eyes, 1955" finden sich folgende Zeilen:



Was wird, wenn die Menschheit stirbt? fragt er, oder vielleicht meint der erste Satz auch: Was macht es schon, wenn die Menschen aussterben? Dann haben allerdings auch Vögel, das Krächzen und das Pfeifen keine Zukunft. oder? No future. Stille, Leere. Doch die Worte gehen weiter und in dem doppelten "so what" der nächsten beiden Zeilen hört man nicht nur einen fernen Vogelruf, sondern auch eine Wende der ersten Frage. "was nun? was nun?" Gibt es etwas nach dem Ende?

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Jan Wagner ist bekannt für seine "techne", seine poetische Formkunst. In seinem Werk finden sich unter vielem anderen Sestine, Villanellen und Sonette. Form sei Dank, könnte man sagen, verströmen so manche Verse eine ganz eigene Leichtigkeit, als ob gerade die Fessel der Form die Worte ins Freie triebe. Das ist eine, seine große Kunst.

Jüngst ist mit "steine & erden" ein neuer Gedichtband erschienen. Der Titel verdankt sich dem letzten Text: "steine & erden". 7 Strophen, die allesamt aus 8 Zeilen bestehen; und jede Strophe ist so gebaut, dass auf 6 ungereimte Verse jeweils 2 gereimte Zeilen folgen; es ist, als laufe jede Strophe darauf zu, wie auf eine Erlösung.

und irgendwann kommt der moment
auf dieser reise nach vineta,
wo man von trauer oder schuld
gejagt, es hinterm firmament
von toten fliegen auf der wind-
schutzscheibe sieht, das alte schild
neben der koppel mit den zwei pferden,
steine & erden, steine & erden

Das Spiel setzt sich fort, und so heißen weitere Strophenenden etwa:

leichter die längst vertrauten beschwerden,
dank steinen & erden, steinen & erden

oder

aus beirut, bayreuth, verdun oder verden
bei steinen & erden, steinen  & erden

und dann am Ende:

was immer wir waren, was immer wir werden,
(steine & erden, steine & erden).

"erden" reimt sich hier so selbstverständlich auf "werden", dass der ungewöhnliche Plural von "erden" fast unbeachtet bleibt. Sind hier etwa seltene Erden gemeint? Oder wird hier auf den "Gast auf Erden" angespielt? Im Gedicht jedenfalls sieht ein Mann auf der Reise zu jenem sagenumwobenen Vineta am Rande der Koppel ein Werbeschild, welches das Handels "&" im Namen trägt. Wofür wird dort Werbung gemacht? In Deutschland gibt es einen Industriezweig "Steine und Erden", der sich der Verwertung gewisser Rohstoffe des Erdreichs verschrieben hat, so wie Wagner virtuos so einige poetische Rohstoffe verarbeitet - Buchstaben, Worten, Rhythmen, Klängen.

"Seit dem tod des freundes sah er krähen, / wohin er sah. Schon vorher waren krähen", beginnt ein anderes Gedicht, die "krähenghasele". Die Ghasele ist eine vorislamische arabische Liedform, der Text ist in zweizeilige Einheiten gegliedert. Die Form gibt vor, dass sich die ersten beiden Zeilen reimen und alle folgenden Zweizeiler diesen Reim jeweils wiederholen. Wagner hat "Krähen" zum Reimwort gewählt, sodass wir das tun, was das "er" im Gedicht in seiner Trauer tut: wir hören und sehen Krähen, wohin wir schauen. Krähen und ihr Krächzen. Ghaselen sind großartige Rohstoff-Verarbeiter: Als wolle Wagner dem Freund ein Krähengeleit singen. Man hört Schuberts Winterreise, man beobachtet "Krähen in Kästen", und auch "krähen als ärmel", bei denen ich automatisch an die sieben Brüder denke. Kurz vor Ende des Gedichtes kauert der "er" sich dann noch unter Krähen in "burgruinen". Düstere Bilder.

Poetische Rohstoffe ermöglichen Verwandlung, so auch das japanische Haiku, dessen "Wesensnatur" es sei, so sagte es Roland Barthes einmal, in der Kürze die Metasprache zum Schweigen zu bringen. "Ich ist immer ein Rest", so Barthes weiter; schließlich leben, spüren, tun und sinnen wir nicht nach Gesetzmäßigkeiten. Hier ein doppelter Haiku aus dem Band:

streichholz

i
eines klappert noch
in der schachtel, gehütet
wie ein erster Zahn.

ii
dann angerissen
in dichtestem dunkel. ah!,
hier bin ich. war ich.

Sechs Zeilen, von enormer Intensität. Man hört eine Variation auf A - klappert, schachtel, zahn, angerissen, war - und mittendrin das "ah!", das die Erscheing des Lichts inszeniert. Des Lichtes und jedes einzelnen Lebens.


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Zum Weiterlesen

Schreibheft, Zeitschrift für Literatur, Heft Nummer 101, Hg. von Norbert Wehr,  Rigodon Verlag, Essen, 16,50 Euro
Jan Wagner, Steine & Erden. Gedichte, Hanser Verlag Berlin, 112 Seiten, 22 Euro