Intervention

Die Friedensmacht

Von Richard Herzinger
24.12.2020. Vor die Entspannung, die zu  Weihnachten verdient ist, aber auch mal der Name einer Politik war, ist eine Erkenntnis zu setzen: Die historische Lehre, dass Gutgläubigkeit und Nachgiebigkeit gegenüber Aggressoren die Gefahr eines Krieges nicht vermindert, sondern im Gegenteil erhöht, bleibt auch unter den heutigen Umständen unvermindert gültig.
In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag vergangene Woche in Berlin pries UN-Generalsekretär António Guterres Deutschland als eine "Friedensmacht". Kaum ein anderes Lob wird hier so gerne gehört wie dieses. Denn die Überzeugung, dass nichts wichtiger sei als der Frieden, hat in Deutschland den Rang eines unantastbaren Glaubensbekenntnisses.

So viel stimmt daran ja auch: Kein vernünftiger Mensch würde sich jemals Krieg wünschen, und alles zu tun, um den Frieden zu erhalten, ist ein grundlegender Imperativ der demokratischen Zivilisation. Demgemäß basiert die Gemeinschaft der europäischen Demokratien auf der Maxime, dass die Anwendung kriegerischer Gewalt kein Mittel der Konfliktlösung darf. Speziell in Deutschland mit seiner furchtbaren kriegerischen Vergangenheit ist die heutige hohe Wertschätzung des Friedens eine kostbare Errungenschaft.  

Doch gerade, weil das Wort "Friede" bei allen Menschen guten Willens einen solch unbestritten positiven Klang hat, eignet es sich wie kein anderes für den propagandistischen Missbrauch durch Kräfte, die ganz anderes im Sinne haben als die gewaltfreie Regelung der menschlichen Verhältnisse. "Krieg ist Frieden", lautet eine der Leitsätze des totalitären Systems, das George Orwell in seinem Roman "1984" beschrieben hat. Orwells Beobachtung, dass der totalitären Gleichschaltung die rhetorische Aneignung hoher humanitärer Ideale und die Umkehrung ihrer Bedeutung ins Gegenteil vorausgehen, gehört zu den tiefsten Einsichten in die Abgründe des 20. Jahrhunderts.

Gerade in Deutschland, das sich gerne damit rühmt, die richtigen Lehren aus seiner dunklen Geschichte gezogen zu haben, scheint diese Erkenntnis jedoch kaum noch präsent. Nur wenige erinnern sich daran, dass sich die Nationalsozialisten in den ersten Jahren ihrer Herrschaft als inbrünstige Verteidiger des Weltfriedens ausgaben, um die westliche Öffentlichkeit über ihre wahren Absichten zu täuschen. "Käme ein Krieg, er wäre das größte Unglück für die Welt", heuchelte Propagandaminister Joseph Goebbels 1933 mit tief besorgter Miene in die Kamera, "und wie er ausgehen mag - sowohl die Sieger als die Besiegten würden nur schwerstes Unglück und Not dadurch ernten können."

Mit dieser verlogenen "Friedens"-Rhetorik gelang es der NS-Propaganda, den Westen derartig einzulullen, dass er auf rechtzeitige Aufrüstung verzichtete und Hitler die "friedliche" Annexion Österreichs, des Sudetenlandes und schließlich des übrigen tschechischen Gebiets ungestraft durchgehen ließ. Persönlichkeiten wie Winston Churchill, die früh vor fatalen Illusionen in Hitlers vermeintliche Friedensbereitschaft warnten, wurden von der NS-Propaganda als "Kriegshetzer" denunziert. Die verständliche Sehnsucht der westlichen Demokratien nach Erhaltung des Friedens führte zur Verleugnung und damit zur Vergrößerung der realen Kriegsgefahr.

Noch konsequenter als das NS-Regime machte der sowjetische Totalitarismus den Ruf nach "Frieden" zum Kernstück seiner ideologischen Vernebelungsstrategie. Ob es der Pakt mit Hitler 1939 mit der daraus folgende Annexion Ostpolens und des Baltikums oder ob es die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 und Prag 1968 sowie der Bau der Berliner Mauer 1961 war - stets gaben die kommunistischen Führer ihre Gewaltpolitik als "Friedenssicherung" gegen die vermeintlichen  Kriegsabsichten des westlichen "Imperialismus" aus.

Während des Kalten Kriegs initiierten und steuerten die Kommunisten in der westlichen Welt "Friedensbewegungen", um die Verteidigungsbereitschaft der Demokratien zu unterminieren. Gewiss waren damals bei weitem nicht alle Friedensdemonstranten Anhänger oder Sympathisanten des Sowjetregimes. Doch weil ihnen der demagogische Charakter der kommunistischen Friedensrhetorik nicht bewusst war, durchschauten viele von ihnen nicht, dass ihre guten Absichten für Propagandazwecke missbraucht wurden.
Angesichts des gewaltsamen Bruchs der europäischen Friedensordnung durch Putins Russland an diese Zusammenhänge zu erinnern, heißt nicht, den russischen Staatschef mit Hitler oder Stalin gleichzusetzen. Geschichte wiederholt sich nie in derselben Weise. Doch die historische Lehre, dass Gutgläubigkeit und Nachgiebigkeit gegenüber Aggressoren die Gefahr eines Krieges nicht vermindert, sondern im Gegenteil erhöht, bleibt auch unter den heutigen veränderten Umständen unvermindert gültig.

Leider aber scheint sie in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit insgesamt vergessen zu sein. Propagandisten Putins und Anhänger einer Beschwichtigungspolitik gegenüber dem neuen Kreml-Autoritarismus spekulieren nicht ohne Erfolg auf diffuse Kriegsängste und pazifistische Reflexe. So machen sie die angeblich zu harte Haltung des Westens für die Verschlechterung der Beziehungen zu Moskau verantwortlich und warnen davor, einen "Krieg zu provozieren" - als sei es nicht Putins Russland, das ihn in der Ukraine und in anderen Teilen der Welt längst führt.

Auch andere antidemokratische Ideologien nutzen bevorzugt die Strahlkraft des Schlagworts "Frieden", um ihre aggressiven Ziele zu tarnen. So verbreiten radikale muslimische Organisationen mit Vorliebe die Parole, der Islam sei eine "Religion des Friedens". Sie versuchen damit den Eindruck zu erwecken, islamistische Gewalttaten hätten mit ihnen und den authentischen Inhalten ihres Glaubens nichts zu tun. In Deutschland führt dies dazu, dass Organisationen, die den Muslimbrüdern oder anderen extremistischen Kräften des politischen Islam nahestehen, von der Regierung als Kooperationspartner bei der "Integration" muslimischer Bürger anerkannt werden - obwohl diese Gruppierungen in Wahrheit langfristig die Unterwerfung der westlichen Gesellschaften unter einen totalitär ausgelegten Islam anstreben.

Wem die Doppeldeutigkeit des Rufs nach "Frieden" nicht bewusst ist, der droht auf Gewaltideologen hereinzufallen die ihn allein zum Zweck der Täuschung im Munde führen. Den Frieden tatsächlich verteidigen kann nur, wer allen Feinden von Demokratie und Menschenrechten mit Konsequenz und  Stärke entgegentritt.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. D.Red. Hier der Link zur Originalkolumne.