Intervention

Rot an der Ampel

Von Daniele Dell'Agli
12.02.2021. Die populäre Philosophin Svenia Flaßpöhler hat bei "Markus Lanz" leichtfertig behauptet, unsere Gesellschaft würde in der Coronakrise in Zustände regredieren, die an Hobbes' "Leviathan" erinnern. Das ist Unsinn. Ich muss mich in Pandemiezeiten nicht vor dem Anderen als Menschen - mit diesen oder jenen Eigenschaften, Absichten oder Befugnissen - schützen, sondern vor seiner potenziellen Virenlast.
Manchmal wünscht man sich, Talkshows würden erst lange nach Mitternacht ausgestrahlt, zum Schutz der Bevölkerung vor abwegigen oder gefährlichen Botschaften. "Markus Lanz", definitiv der Pandemiegewinner unter den seriellen Aufmerksamkeitsmagneten des Fernsehens, versammelt zu später Stunde immer noch durchschnittlich 1,6 Millionen Zuschauer vor der Kiste (wird Karl Lauterbach angekündigt, steigt die Quote noch signifikant). Soviele waren zugegen, als vergangenen Mittwoch Svenia Flaßpöhler, Deutschlands prominenteste Nachwuchsphilosophin, eine Kritik des Lockdown-Managements vortrug, die das Zeug hätte, sich wie eine self-fulfilling prophecy unter der Bevölkerung zu verbreiten, wüssten es die Adressaten - von einigen "Querdenkern" abgesehen -  instinktiv nicht besser.

Unwidersprochen durfte sie - in einer ansonsten philosophiefern qualifizierten "Expertenrunde" - die Ansicht verbreiten, das Krisenmanagement der Corona-Politik würde das Vertrauen, das Menschen sich gegenseitig entgegenbringen und damit die Basis unseres Zusammenlebens unterminieren, indem sie uns daran gewöhnt, den anderen als Virenträger und damit als potenziell tödliche Bedrohung zu betrachten.

Damit, so die Philosophin, würde unsere Gesellschaft in Zustände regredieren, die an die späte Neuzeit erinnern, als Thomas Hobbes mit dem "Leviathan" einen autoritären Staat konzipierte, der kraft seines Gewaltmonopols in der Lage sein sollte, die Individuen daran zu hindern, sich gegenseitig - homo homini lupus - an die Gurgel zu gehen. Nun, sehen wir davon ab, dass Hobbes sein Hauptwerk unter dem Eindruck eines dreißigjährigen europäischen Bürgerkriegs verfasste, also unter historisch denkbar weit entfernten Voraussetzungen, so entbehrt der sozialanthropologisch vertiefte Verdacht jeder Grundlage. 

Ich muss mich in Pandemiezeiten nicht vor dem Anderen als Menschen - mit diesen oder jenen Eigenschaften, Absichten oder Befugnissen - schützen, sondern vor seiner potenziellen Virenlast. Das ändert nichts an meinem "Grundvertrauen", dass dieser Mensch in der Regel kein Interesse daran hat, mir zu schaden, ja mir höchstwahrscheinlich sogar zu Hilfe kommen würde, wenn ich plötzlich in seiner Gegenwart zusammenbräche. Es bedarf schon der begründeten Unterstellung, dieses bestimmte Individuum wolle mir persönlich - also bösartig und intentional - Leid zufügen, damit ich mich bedroht fühle. Doch als mögliche Virenträger sind wir Erdenbewohner derzeit ausnahmsweise gleichgestellt und wissen, dass wir zu unserem Schutz und dem der anderen bestimmte Umgangsregeln beachten und vor allem Kollisionen vermeiden müssen, das haben wir im übrigen als Autofahrer von Kindesbeinen an gelernt. Jeder Autofahrer stellt eine unpersönliche Bedrohung für andere Verkehrteilnehmer dar, niemand stellt deswegen das Grundvertrauen in Frage, das uns diese Mobilitätsform ganz selbstverständlich nutzen lässt. Wir schließen dabei von uns auf andere und unterstellen ihnen, dass sie ebenfalls, schon aus Selbsterhaltung, diesen generalisierten Vertrauensvorschuss nicht missbrauchen. Und, nebenbei bemerkt, das wäre aber eine andere Diskussion: Niemand fühlt sich in seinen Grundrechten eingeschränkt, wenn er sich gezwungen sieht, bei Rot an der Ampel zu halten.

Die "philosophisch" beschworene Paranoia-Gefahr mutet umso absonderlicher an, wenn man bedenkt, dass es tatsächlich genug Anlass gibt, Menschen als Gegner oder als Feinde, mithin als Bedrohung wahrzunehmen, nämlich überall dort, wo um knappe Ressourcen konkurriert wird. Die Mitwerber um eine Wohnung, einen Arbeitsplatz oder um Sexualpartner sind selbstredend Rivalen; am Verhandlungstisch beäugt man sich misstrauisch, an den Monitoren des Börsenkasino wird jede unerwartete Zuckung eines Diagramms als mögliche Kampfansage bewertet, kurz: überall, wo es um Geld, Macht oder um den Zugang zu einem begehrten Gut geht, übernimmt ein alarmierter Egoismus die Steuerung des Sozialverhaltens. Als charakteristisch für die Corona-Pandemie darf man bislang allenfalls den - zumindest in Deutschland - erbitterten Wettlauf ums Klopapier registrieren, eine Panikreaktion gleich zu Beginn, die sich bald wieder gelegt hatte.

Das obrigkeitsstaatliche Gewaltmonopol allein würde im übrigen nicht reichen, das friedliche Zusammenleben der Menschen gleichsam im Schatten strafrechtlicher Sanktionen zu regeln. Es ist vielmehr der komplementären Steigerung von Wohlstand und sozialstaatlichen Absicherungen zu verdanken, dass nur noch in Ausnahmefällen Individuen in jene Verzweiflungsspirale getrieben werden, die sie alle humanistischen, christlichen oder rechtstaatlichen Prinzipien vergessen lässt. Dies zu verhindern allerdings ist das Gebot der Stunde, da in ganz Europa die versprochenen Staatshilfen für die am stärksten betroffenen Branchen des Dienstleistungssektor ausbleiben oder viel zu schleppend ausgezahlt werden. Erst wenn dieses Kompensationssystem versagt, sollten wir anfangen, hinter der einen oder anderen Maske eine Bedrohung zu vermuten.

Daniele Dell'Agli