Im Kino

Frustriertes Versprechen

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Nikolaus Perneczky
11.04.2012. Joe Carnahans todesverliebter Männerfilm "The Grey" setzt Liam Neeson in Alaska aus und hetzt eine Horde hungriger Wölfe auf ihn. Sean Durkin setzt seinen Debütfilm "Martha Marcy May Marlene" aus Erinnerungsbruchstücken zusammen und weigert sich, seine Figuren durchzuerklären.


Auf Abstürze versteht sich der Mann: In "The A-Team" (2010) ließ Regisseur Joe Carnahan noch einen ganzen Panzer aus heiterem Himmel zu Boden stürzen, natürlich ohne dabei den Leuten darin auch nur ein Haar zu krümmen, gemäß den Auflagen des familientauglichen Popcorn-Blockbusters und der Vorabend-TV-Serie, die als Vorlage figuriert und den Ruf besitzt, noch aus wildesten Scharmützeln alle Beteiligten mit dem Leben davonkommen zu lassen. Ganz anders sieht die Angelegenheit in seinem neuen Film "The Grey - Unter Wölfen" aus, der sehr konsequent und sehr eindringlich auch die Verwundbarkeit selbst noch robustester Männerkörper zum Thema hat: Mit einiger affizierender Wucht und mit deutlichem Augenmerk auch auf die traumatisierenden Ausmaße inszeniert Carnahan hier frühzeitig im Film einen Flugzeugabsturz über der Eiswüste Alaskas, der als diabolus in machinam sogar noch den Film selbst samt Tonspur ins Stocken geraten lässt.

Wenige Überlebende gibt es neben vielen Leichen dann aber doch: Harte, um Derbheiten nicht verlegene Arbeiter fürs Grobe eines Ölkonzerns, an deren Spitze sich bald Ottway (Liam Neeson) stellt, ein Jäger, der die Arbeitskohorten bereits beim Einsatz in Alaska mit dem Gewehr beschützt hat, ein brummiger Alpha-Mann, der mit dem Leben eigentlich schon längst abgeschlossen hat und sich nun dazu gezwungen sieht, Verantwortung für andere zu übernehmen. Dies zumal, da das viele Blut der Absturztoten im Nu ein ausgehungertes Wolfsrudel zur Unglücksstelle lockt, gegen das sich mit dem Wenigen, was noch zur Verfügung steht, schlechterdings kaum zur Wehr setzen lässt.

Es ist ein langes, trauriges Sterben vor kalt-grauer Kulisse, das Carnahan hier gedämpft in Szene setzt, ein Stück rohes Survival-Männerpoesie mit Hemingway'schem Unterton in Ottways Rückblenden, in denen er sich an seine gestorbene Frau einerseits, an den von Weltkriegserfahrungen traumatisierten Vater andererseits erinnert. Hoffnungsschimmer, Momente des Aufatmens gibt es wenige: Einmal gelingt es, einen Wolf der Gegenseite zu erlegen, beim Lagerfeuer erzählen die Männer einander mit jener Form von abgeklärtem Humor, die sich der Ausweglosigkeit der Situation bei allem wegschiebenden Gelächter mehr als bewusst ist, vom Wunsch, nochmal eine Nacht mit einer Frau zu verbringen.



"The Grey" ist vielleicht nicht ganz auf Augenhöhe mit den großen Klassikern des existenzialistisch-todesverliebten Männerkinos Marke Peckinpah, aber nicht weit davon entfernt. Und es ringt einigen Respekt ab, wie stilsicher und konsequent Carnahan hier seinen Weg vom so kunterbunten wie herzlich irrelevanten Actioneinerlei des "A-Team"-Films zu jener Form des effizienten No-Nonsense-Kino zurück findet, in der er vor 10 Jahren mit seinem tollen Copthriller "Narc" reüssierte. Dass es ihm dabei eher um die mythopoetischen Qualitäten des Genrekinos geht als um eine umfassend realistische Darstellung einer drastisch existenziellen Naturerfahrung, liegt auf der Hand: Die Wölfe, die hier im Dunkeln lauern, entspringen mit ihren wilden Haarbüscheln, gefletschten Zähnen und tollwütig stierenden Augen weit weniger der Wildnis Alaskas, als vielmehr dem Repertoire des Horrorkinos, auf das sich hier das Abenteuerkino so unbekümmert wie effektiv umstülpt. Die Art und Weise des strategisch-militärischen und überdies hinsichtlich der Gegenseite recht kommunikativen Vorgehens dieser Wölfe lässt zwar jedem Biologen die Haare steil zu Berge stehen, sie verdeutlicht aber auch in aller Konsequenz, dass der verbindliche Realismus des Films sich zwar sehr für die Belastbarkeit und Zerbrechlichkeit von Menschenkörpern im Genrekino interessiert, ganz gewiss aber nicht im geringsten für eine naturalistische Darstellung von Wölfen. Spätestens im Finale des Films, wenn Alphatier und Alphamann im Duell einander gegenüber stehen, wenn sich im Moment der letzten Konfrontation ein Leben im Rückblick in einen existenziell entscheidenden Augenblick sinnhaft verdichtet, befindet man sich höchstens noch pro forma in Alaska - die staubige Hauptstraße einer beliebigen Western-Stadt muss man sich zur aufpeitschenden Musik im Geist dazudenken.

Thomas Groh

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Martha flüchtet durch einen Wald, wird von ihrer Schwester an einer Raststätte aufgelesen und in Sicherheit verbracht. Im Haus der Schwester und deren Mannes, das an einem pittoresken See in Connecticut gelegen ist, brechen die vergangenen Ereignisse in Form von Flashbacks über Martha herein. Um eine sektenartige Gemeinschaft, die auf einem Gehöft in den Catskills sich verschanzt hat, geht es in Sean Durkins Langfilmdebüt "Martha Marcy May Marlene" und um eine junge Frau namens Martha (Elizabeth Olsen), die Aufnahme findet in dieser Sekte. Der erste Schritt besteht in der - im Titel aufgehobenen - Änderung ihres Namens, die, wie sich noch herausstellen wird, mehr als nur symbolischen Charakters ist.

Visuelle Signatur von "Martha Marcy May Marlene" ist ein langsames Zoom-in aus der Breitwandtotalen hin auf Martha, das jedoch nie ankommt bei einer Nahaufnahme, sondern im Halbnahen stehenbleibt: ein angedeutetes, frustriertes Versprechen. Eine solche unfertige Annäherung an seinen Gegenstand ist der ganze Film, nur von der entgegengesetzten (der induktiven) Richtung herkommend: "Martha Marcy May Marlene" reiht Erinnerungsbruchstücke von Marthas Aufenthalt in der Sektengemeinschaft aneinander, die sich zu einem Gesamtbild nur bedingt fügen wollen - Wahrnehmungsintensitäten, die sich spröde machen gegen ihr Erinnertwerden.

Was mit sonderbaren Tischsitten beginnt, springt - ungeachtet einiger weniger Zwischenglieder - fast ohne jede Vermittlung zu ritueller Vergewaltigung, und von dort zum Mord. Man möchte dankbar dafür sein, dass Durkin seinen Figuren solche Sprünge zumutet, anstatt sie restlos zu erklären. Zwar sind die einzelnen Stufen der Eskalation ein bisschen arg thesenhaft geraten - als Gewähr für ihre immer tiefere Verstrickung schauen wir Martha in einem Flashback-Fragment etwa dabei zu, wie sie mit Hand anlegt bei der brutalen Initiation, die sie zuvor selbst durchlitten hatte. Im Einzelnen aber bewahren die Mitglieder der Sekte und ihr Anführer Patrick (der ansonsten famose John Hawkes in einer Rolle, mit der er nichts anzufangen weiß) ihr Geheimnis.

Ob das Vage hier wirklich Wagnis, also gewollt, oder dem Regisseur ohne Absicht unterlaufen ist, lässt sich mitunter nur schwer entscheiden. Zumindest Kameramann Jody Lee Lipes muss sich bei der in sich konsistenten Wahl seiner Mittel etwas gedacht haben. Die erwähnten Zooms gehen eine glückliche Verbindung ein mit entleerten, oft dezentrierten Kadragen und dem forcierten Einsatz des Teleobjektivs, das noch nahen Objekten die widersprüchliche Qualität des Unfasslichen, Fernen einschreibt.



Unfasslich und fern ist auch Elizabeth Olsens eindrückliches Spiel, nur dass dieses noch von einer anderen Seite her (über)determiniert ist. Das jemalige Scheitern des Versuchs, ihrer Figur näherzukommen, ist nicht nur dem übergreifenden ästhetischen Kalkül (geschweige denn irgendeinem Unvermögen des Drehbuchs) geschuldet, sondern korrespondiert Marthas labiler Stellung als junger Frau zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter. Wiederum bereitet es Schwierigkeiten, Reflex und Reflexion zu scheiden: Wird das sexistische Stereotyp des ephemeren Mädchens lediglich reproduziert? Oder besteht hier an seiner Nicht-Identität in der Zeit des Übergangs ein tiefer gehendes, ernst zu nehmendes Interesse? Dass der Film Olsens Körper, und insbesondere ihrer Oberweite, eine auffällige Präsenz zueignet, muss als Verdachtsmoment zumindest festgehalten werden.

Ein bisschen zu fachmännisch, zu sehr auf der sicheren Seite hat Durkin seinen Erstling angelegt, sodass es gerade diese unentscheidbaren, nur halb gewollten Momente von "Martha Marcy May Marlene" sind, in denen der Film über das Sundance-affine Qualitätskinomilieu, dem er im Übrigen zurechnet (das Drehbuch entstand im Rahmen des Sundance Lab), hinausgeht.

Nikolaus Perneczky

The Grey - Unter Wölfen USA 2011 - Originaltitel: The Grey - Regie: Joe Carnahan - Darsteller: Liam Neeson, Frank Grillo, Dermot Mulroney, Dallas Roberts, Joe Anderson, Nonso Anozie, James Badge Dale, Ben Bray, James Bitonti - Länge: 117 min.

Martha Marcy May Marlene - USA 2011 - Regie: Sean Durkin - Darsteller: Elizabeth Olsen, Sarah Paulson, Hugh Dancy, John Hawkes, Christopher Abbott, Brady Corbet, Maria Dizzia, Julia Garner, Louisa Krause, Adam Thompson, Lauren Molina - Länge: 101 min.