Im Kino

Detailintensitäten

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
18.04.2012. Bertrand Bonello entwirft in "Haus der Sünde" ein Luxusbordell als samtene Hölle auf Erden. Josh Trank stülpt in "Chronicle" den Superheldenfilm mit wenig Geld auf Indie-Ästhetik um.


Zwei Schnitte mit einem Rasiermesser durch Wangenfleisch: Madeleine war vorher die "Jüdin", hinterher wird sie, nach den Narben, die sich von ihren Mundwinkeln in Richtung der Ohren fortsetzen, die "Lachende" genannt. Ein Freier hatte Madeleine gebeten, sie ans Bett fesseln zu dürfen, sie hatte eingewilligt, hatte dem Freier damit auch noch das letzte gegeben, was sie ihm vorher vorenthalten hatte: ihr Vertrauen. Der Film umkreist diesen einen Gewaltakt, der metonymisch steht für die strukturelle Gewalt von Prostitution, eine Gewalt, die kein Vertrauen zulässt, er nähert sich diesen Schnitten durch die Wange mehrmals an, weicht immer wieder vor ihnen zurück, verdrängt sie, nur um sie als Verdrängte um so unnachgiebiger wiederkehren zu lassen.

Bertrand Bonellos "Haus der Sünde" ist ein Film über ein Luxusbordell an der Schwelle zum 20. Jahrhundert: Der erste Teil des Films spielt im Jahr 1899, der zweite im Jahr 1900. Eine Welt, in der die Frauen nur Vornamen haben und höchstens noch kurze, beschreibende Attributsnamen: Die "Araberin", die "Neue". Oder eben die "Jüdin", die "Lachende". "Wenn ich hier raus bin, werde ich nie wieder mit einem Mann schlafen", sagt eine der Prostituierten einmal. Aber einen Weg hinaus gibt es nicht; anstatt ihre Schulden mit Sexarbeit zu bezahlen, häufen die Frauen weitere an. Eine Welt, in der die Frauen nur Prostituierte sind (anstatt, das wären die Alternativen: Wäscherinnen, Bäckerinnen, Haushälterinnen; auch das hieße hart arbeiten, ausgebeutet werden, Schulden machen) und die Männer nur Freier. Und eigentlich spielen die Männer gar keine Rolle, in die Welt des Bordells driften sie hinein und heraus wie Unbeteiligte, kaum einmal werden sie einzeln von der Kamera fokussiert, schon gar nicht nach ihrer Motivation befragt, sie werden wie Umwelt genommen, denn immer dann, wenn die Frauen sie wie Menschen, wie ihresgleichen, nehmen, wird es gefährlich. Eine Welt, in der Nacktheit (und in "Haus der Sünde" wimmelt es von nackten Frauen) das Gegenteil von Freiheit ist, eine Welt, in der Schönheit (und "Haus der Sünde" ist ein ausgesprochen schöner Film) nichts ist als eine Ware.

Der Film bleibt fast komplett in den Räumen des von Kerzenlicht illuminierten Bordells, die Welt verschwindet hinter milchigen Fensterscheiben. Wenn die Belegschaft dann doch einmal, ziemlich genau nach der Hälfte der Laufzeit, einen Ausflug unternimmt, an einen Badesee, macht dieser eine Flash von Grün und Blau und Freiheit alles nur noch schlimmer. In manchem, auch in diesem Verhältnis von einem erdrückenden Innen zu einem entwirklichten Außen, erinnert der Film an eines der großen Außenseiterwerke der deutschen Filmgeschichte: "Utopia" von Sohrab Shahid Saless, eine Höllenvision aus dem Inneren eines Westberliner Bordells der achtziger Jahre, ein Film, in dem irgendwann schon harmlose Geräusche wie das Klingeln der Freier an der Haustür bodenlosen Schrecken verbreiten. Ein Film wie ein Riss durch den Alltag. Benedikt Erenz schrieb damals in der Zeit über "Utopia": "Es ist unmöglich, anschließend noch ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen und drüber zu reden."



Auch "Haus der Sünde" zeigt Prostitution als Hölle auf Erden; das Bier hinterher wird einem trotzdem noch schmecken. Bonellos Hölle ist eine samtene, dekadente. Strukturiert wird sie nicht vom Formterror des Gegenwärtigen, sondern von den geschmeidigen Erinnerungsbildern einer perversen Nostalgie. Bonello erzählt nicht linear, er kombiniert kleine, anekdotenhafte Erzählungen, meist ohne klaren Anfang und Ende und er sammelt Detailintensitäten, die sich gar nicht mehr an einzelne Personen heften: das herabfallende Blütenblatt einer Rose, eine Hand, die sich beim Sex an den Bettpfosten klammert. Die Kamera schwebt sanft durch die Räume, mehrmals teilt sich das Bild in elegante Splitscreen-Kompositionen, die nicht auf Gleichzeitigkeit, sondern auf Gleichwertigkeit abzielen. Einen hypnotischen Sog entwickeln diese immer neu und doch immer wieder ähnlich gestaffelten, von einem eklektischen Soundtrack unterlegten Kaskaden aus mal rosig-natürlicher, mal blass gepuderter nackter Haut, süßlich-melancholischer Gefühlsschwere und morscher, insektenbefallener Kitschdeko, einen Sog, der einen mitreißt, in den man sich auch einmal wie ziellos dahintreiben lassen kann, der einen dann aber doch immer wieder mit den Schnitten durch die Wangen Madeleines konfrontiert und damit auch gewissermaßen mit dem Preis des eigenen Genießens.

Auch die Welt draußen, die Welt, die man nicht sieht, verändert sich. Das Bordell wird selbst Opfer der Veränderung werden, die Mieten steigen, das auf einer Verschränkung von Solidarität und Ausbeutung beruhende Geschäftsmodell des Bordells - die Chefin ist selbst eine ehemalige Prostituierte und sie behält Madeleine auch nach derer Verletzung bei sich, obwohl sie, zumindest im Normalbetrieb, unverkäuflich geworden ist - kann sich am Markt nicht halten. Ein harter Schnitt in die längst Gegenwart gewordene Zukunft beschließt den Film.

Lukas Foerster

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Vielleicht braucht es das wirklich: Eine Art dritten Weg, wie man Superheldenfilme drehen könnte, neben den glattpolierten Kaugummi-Filmen, wie sie die Marvel Studios derzeit am laufenden Meter auf den Markt werfen und den weltenschweren Wagner-Opern, in denen sich die DC-Gallionsfiguren Superman und Batman in den letzten Jahren im Kino positionierten. Der dritte Weg, den "Chronicle" vorschlägt, ist - wohl auch: aus Kostengründen - keiner Comicvorlage geschuldet, sehr diesseitig in der Welt orientiert (genauer: recht glaubhaft in dem spezifisch amerikanischen Soziotop zwischen Provinz und Metropole rund um die High-School-Partyszenen und den angeschlossenen sozio-okönomischen Hierarchien und Ausschlusslogiken angesiedelt), eher am Potenzial von Mystery- und Awesomeness-Serien wie "Lost" und "Heroes" als an überschaubaren Weltenbrand-Szenarien interessiert (mit einem gewissen Schuss Manga- und Anime-Irrsinn gegen Ende) und arbeitet, schlussendlich, mit der zuletzt sehr populären Handkamera- und Found-Footage-Ästhetik, die die raumgreifenden Allmachtsfantasien des Superheldenstoffs mit der Fragilität (wenn auch pseudo-)dokumentarischer Bilder durchkreuzt.

Der Film bezieht Reiz aus seinen ganz buchstäblichen Potenzial-Auslotungen: Ein großer - und ohne weiteres auch der schönste - Teil des Films beobachtet, wie ein Haufen High-School-Kids, nachdem sie in einer im Wald versteckten Grube auf ein mysteriöses, wohl auch mit Blick auf ein mögliches Sequel unerklärt bleibendes Artefakt gestoßen sind, nach und nach ihre sich in Folge dieses Abenteuers entfaltenden Superheldenkräfte entdecken, erproben und im Gebrauch perfektionieren. Gerade wie hier das Wunderbare in eine zunächst ganz reale Welt einsickert, von Jungs-Blödeleien beim Baseballspielen über zuvor kaum mögliche Prankster-Witze auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt und sich wie von Zauberhand aufbauende, fantastische Lego-Bauten bis hin zum jubelnden Flug über den Wolken (mit allen witzigen bis fast dramatischen Unfällen), wird hier auf derart herzlich menschliche Art eingefangen, dass jede Spinnenmann- und Hulk-Akrobatik im Vergleich zur bloßen Pflichtübung verblasst. Wenn Legosteine ganz unbekümmert ihren Weg zueinander finden, die Distanz zum festen Grund erst auf zwei, dann drei, bald auf hunderte von Metern anwächst, dann staunt und lacht man darüber ebenso wie die Protagonisten, die ihr Glück gar nicht fassen können und die Welt am liebsten umarmen wollen: "Jackass" trifft "Goonies" könnte man diese Methode vielleicht nennen. Und schließlich emanzipiert sich der Film im Zuge der telekinetischen Welterschließung auch ein gutes Stück vom herrischen Diktat der Ich-Perspektive: Die Handkamera, die einer der drei Jungs stets mit sich führt, umschwebt bald selbst, im Griff nur noch rein mentaler Hände, das Geschehen als steter Begleiter, der dabei ganz nonchalant auch Perspektiven findet, wie man sie aus dem üblichen Kino kennt.



Die Fallhöhe aus solchen wolkigen Sphären ist enorm, der jauchzende Griff nach den Sternen weicht rasant, aber stimmig, einem kataklysmischen Szenario: "Chronicle" beschreibt genauso Superhelden- wie Supervillain-Genese. Den Nährboden bilden übliche Dramen der Pubertät: Der drohende Verlust der Mutter, ein strafender Vater, soziale Ausgrenzungen in der Teenie-Welt und nicht zuletzt das sexuelle Versagen beim spontanen Party-Sex im Vollsuff mit der angesagtesten Braut der ganzen Schule, gefolgt von allseitigem Hohn und Spott in den Schulgängen führt hier für den nerdigsten der drei Jungs nicht zur Werther-Lektüre im stillen Kämmerlein samt angeschlossenem Philosophie-Studium, sondern zur radikalen Weltabkehr, schlimmer noch: zur mit Schopenhauer- und Nietzsche-Versatzstücken philosophisch verbrämten Weltabscheu und blanken Gewalt. Aus Superfreunden werden Supergegner, den auch ballistisch hochdramatischen Showdown über den Hochhausdächern der Stadt inklusive.

Nicht zuletzt für eine gebeutelte, orientierungslos gewordene Filmindustrie, die sich auf die Attraktivität schwergewichtiger Multimillionendollar-Blockbuster nicht mehr ohne weiteres verlassen kann, ist "Chronicle" eine dankbare Alternative: No-Name-Darsteller, nach Südafrika ausgelagerte Dreharbeiten (nicht, dass man es dem Film ablesen könnte) und das im (wohl allein deshalb gewählten) Handkamera-Konzept cachierte Niedrigst-Budget stülpen den Blockbuster-Stoff auf Indie-Ästhetik um. Die vergleichsweise lachhaft wenigen, im Produktionsprozess überdies nur kurzfristig gebundenen Millionen sind an der Kasse ruckzuck eingespielt, das Verhältnis zwischen Investition und Profit ist atemberaubend hoch. Auch deshalb dürfte dieser dritte Weg in Zukunft noch häufiger begangen werden.

Thomas Groh

Haus der Sünde - Frankreich 2011 - Originaltitel: L'Apollonide, souvenirs de la maison close - Regie:Bertrand Bonello - Darsteller: Hafsia Herzi, Céline Sallette, Jasmine Trinca, Adèle Haenel, Alice Barnole, Iliana Zabeth, Noémie Lvovsky, Xavier Beauvois - Länge:125 min.

Chronicle - Großbritannien / USA 2012 - Regie: Josh Trank - Darsteller:Michael B. Jordan, Alex Russell, Dane DeHaan, Michael Kelly, Ashley Hinshaw, Anna Wood, Joe Vaz, Luke Tyler, Matthew Dylan Roberts - Länge: 84 min.