Im Kino

Ausgewachsener Weltenbrand

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
09.08.2017. Lisa Azuelos hat mit ihrem Biopic "Dalida" das ultimative Popmusikmelodram gedreht: einen Film über die Ausschließlichkeit der Liebe. In Ceyda Toruns Dokumentation "Kedi" geht es vielleicht weniger um Katzen, als um unsere Projektionen auf sie, und um die Türkei.


Wenn man sich "Dalida" ansehen will (und es gibt, gleich vorweg, viele gute Gründe, das zu tun), dann sollte man sich dafür entscheiden, zumindest für die Dauer des Films an die Popmusik zu glauben. Und zwar, das kommt erschwerend hinzu: an Popmusik in ihrer banalen, sentimentalen, uncoolen Spielart. An tränenseligen Mainstreampop, an mechanisch erzeugte, dick aufgetragene Gefühle, an Tränen, die in Strömen fließen, weil sie in Strömen fließen sollen. Man sollte daran glauben, dass Musik manchmal genau so sein muss, weil sie nur so etwas zu fassen bekommt vom Leben in der modernen Welt. Noch schlimmer: Man sollte bereit sein, an die durch und durch synthetischen Gefühle des Mainstreampop auch dann noch zu glauben, wenn sie einem im Gewand des Europudding-Mainstreamkinos präsentiert werden, verpackt in Bilder, die verdächtig nach Parfümwerbung ausschauen, verkörpert von Akteuren, denen der paneuropäische Fernseh- und Filmförderalltag fast alle Individualität ausgetrieben hat (einzige echte Ausnahme: Nicholas Duvauchelle ist ein hervorragender Idiot mit Fönfrisur).

Wenn man zu all dem bereit ist, dann kann man an "Dalida" seine helle Freude haben. Denn Lisa Azuelos' Biopic über das Leben der italienischstämmigen, in Ägypten geborenen Sängerin, die in den 1960er Jahren von ihrer französischen Wahlheimat aus mit ihrer Musik die Welt eroberte, ist Pop mit Haut und Haaren. Das beginnt damit, dass er die Texte der großzügig über den Film verteilten Dalida-Songs beim Nennwert nimmt und sie eins zu eins auf den Lebenslauf der Porträtierten überträgt. Er kann da sozusagen beidseitig aus dem Vollen schöpfen: Zum einen lebte Dalida ein geradezu exemplarisch tragisches Popstarleben, in dem die glitzernden Oberflächen von den seelenzerfetzenden Abgründen nicht zu trennen sind - bevor sie sich 1987 selbst das Leben nahm, hatten gleich drei ihrer Liebhaber (ob nun mehr oder weniger ihretwegen) Selbstmord begangen. Und zum anderen findet sich für wirklich jede Lebens- und vor allem Liebessituation etwas Passendes im schier unerschöpflichen Repertoire der Sängerin, die über drei Jahrzehnte lang Schallplatten aufgenommen hatte. Im Film passt kein Blatt Papier zwischen Dalida und ihre Musik. Einmal kippt die Hierarchie zwischen Leben und Kunst sogar komplett: Für "Il venait d'avoir 18 ans", eines der schönsten Dalida-Lieder, beschenkt Azuelos die Sängerin mit einer weiteren, diesmal (vermutlich) fiktiven Liebesgeschichte.



Die französische Regisseurin setzt in "Dalida" alles auf eine Karte: Alles, was sich nicht ins überlebensgroße Popmelodram fügt, auf das der Film hinaus will, wird gnadenlos an den Rand gedrängt. Wer sich zum Beispiel Einblicke in die europäische Unterhaltungsindustrie der 1950er bis 1980er erhofft, muss auf einen anderen Film warten. Auch mit einer hochinteressanten Episode aus den letzten Lebensjahren der Künstlerin, als Dalida nach Ägypten zurückkehrte, um mit dem großen Regisseur Youssef Chahine einen Film zu drehen, kann Azuelos sichtlich wenig anfangen. Auch allgemeiner ist "Dalida" als period piece völlig uninteressant - was vielleicht auch nur daran liegt, dass europäische Produktionen weder das Geld noch die Routine haben, um mit den satten, detailreichen Texturen der Hollywood-Biopics zu konkurrieren. Vor allem aber ist Popmusik, wie der Film sie zelebriert, eine Kunst, die Zeit suspendiert. Zumindest in einem bestimmten Sinn. Die Sehnsüchte, die Verzögerungen, die Dalidas Lieder wieder und wieder anrufen (das ewige "zu spät" des Melodramas), verweisen nicht auf historische, sondern auf affektive Nachzeitigkeit.



Was bleibt? Ein Sturm im Wasserglas, den man doch immer wieder mit einem ausgewachsenen Weltenbrand verwechseln kann. "Dalida" ist ein Film, der zeigt, dass man die Landkarte des Kinos immer wieder neu zeichnen muss, dass es auch in den vermeintlich uninteressantesten, glattgebügeltsten Produktionszusammenhängen Schätze zu bergen gibt. Ein gleichzeitig hoffnungslos steriler und erbarmungslos niederschmetternder Film über eine in vieler Hinsicht unlesbare Frau (Sveva Alviti, die Hauptdarstellerin, ist offensichtlich vor allem auf Ähnlichkeit hin gecastet), die junge, schöne Männer liebt. Und zwar liebt Dalida die Männer mit einer fast schon klinisch reinen Wucht, einer Ausschließlichkeit, die letzten Endes nicht nur die Männer (einige davon sind, aber darum geht es höchstens nebenbei, recht fragwürdige Gestalten), sondern auch sie selbst vernichtet.

Gelegentlich beweist der Film sogar ein erstaunliches Gespür für Details. Einer der wenigen Getreuen, die stets zu der existenziell einsamen Dalida halten, ist ihr Bruder Orlando (Riccardo Scamarcio). Der scheint, wie ein paar andere Verwandte, die mit ihr in dunklen, stillen, toten Wohnungen ausharren, sie von der Welt abschirmen, sein Leben ganz in den Dienst der berühmten Schwester gestellt zu haben. Es gibt dann aber eine Szene, eigentlich nur eine einzige Einstellung, eine agile Kamerafahrt durch einen schwulen, erotisch vibrierenden 1970er-Jahre-Discoraum, die klarstellt, dass Orlando, anders als Dalida, eine Möglichkeit gefunden hat, Popmusik, Liebe und Leben auf eine nichtmelodramatische Weise miteinander zu verbinden.

Lukas Foerster

Dalida - Frankreich 2016 - Regie: Lisa Azuelos - Darsteller: Sveva Alviti, Riccardo Scamarcio, Jean-Paul Rouve, Nicolas Duvauchelle, Alessandro Borghi, Valentina Carli - Laufzeit: 124 Minuten.

---



Zwischen Hunde- und Katzenliebhabern tut sich ein tiefer Graben auf, der nicht nur mit der bloßen Vorliebe für einen bestimmten Vierbeiner zu tun hat. Vielmehr scheint es dabei um einen Kampf unterschiedlicher Weltanschauungen zu gehen. Während die einen behaupten, nur zu Hunden könne man eine innige Beziehung aufbauen und so etwas wie Dankbarkeit erfahren, sehen die anderen genau das als blinde Unterwürfigkeit und preisen das Launenhafte und Unberechenbare der Katzen. Leicht kann diese Meinungsverschiedenheit zur politischen Grundsatzdiskussion werden, in dem das Verhältnis zwischen Mensch und Tier zum Symbol für die Haltung des Einzelnen zur Obrigkeit wird. Ceyda Toruns "Kedi" verzichtet zwar auf diese Opposition, widmet sich dafür aber umso leidenschaftlicher den unzähligen Qualitäten der Katzen. Dabei überrascht es nicht, dass der Dokumentarfilm in Istanbul gedreht wurde. Jeder, der schon einmal in der Bosporus-Metropole war, dürfte mitbekommen haben, wie die Bevölkerung die unzähligen wilden Katzen verhätschtelt - während Straßenhunde nicht selten mit einem Fußtritt davon gejagt werden.

Am schönsten ist "Kedi", wenn man ihn als spektakuläre Leinwandversion der zahlreichen Katzenvideos versteht, die es in Massen auf YouTube gibt. In diesen Momenten begnügt sich der Film damit, die Tiere in ihrem Alltag zu beobachten. Jede noch so banale Handlung wird zum Ereignis, sieht mal doof, mal erhaben und dann wieder voll süß aus. Die Kamera bleibt oft auf Augenhöhe mit den Katzen, wechselt wie beim Parkour sprunghaft zwischen verschiedenen Ebenen und ermöglicht dadurch eine andere Wahrnehmung der Stadt. Vor allem ist sie ganz nah dran, auch wenn es zu Streitigkeiten unter Artgenossen kommt oder Ratten gejagt werden. Dass man nicht sieht, wie die Katzen ihre Beute erwischen, ist ein bisschen bezeichnend für den Film, der seine auf Niedlichkeit ausgerichtete Comfort-Zone nie ganz verlassen will. Torun zeigt die Tiere zwar bei fast allen erdenklichen Tätigkeiten, jedoch nie, wie sie kacken, töten oder selbst in den Straßen verenden. Aber "Kedi" ist eben auch weniger ein Film, der die wahre Natur der Katzen einfangen will, als ein Film darüber, was der Mensch in den Vierbeinern sieht.



Die eigentlichen Protagonisten wirken fast wie ein Vorwand, um von unseren Sehnsüchten zu erzählen, die sich im Umgang mit ihnen manifestieren. Wir wollen beschützen und beschützt werden, suchen dankbare Projektionsflächen und am Ende vielleicht auch eine emotionale Bindung, die uns unter Artgenossen verwehrt bleibt. Zugleich bleibt der Mensch nur in Bezug zu den Tieren interessant, während es sich umgekehrt schon anders verhält. Von den zahlreichen Gesprächspartnern, die ihre persönlichen Anekdoten erzählen, sieht man oft nur Hände, Füße oder Rücken. Die Stimme - also genau das, was den Katzen fehlt - ist umso präsenter. Es sind schöne und treffende Beobachtungen zu hören, jedoch auch viele abgeschmackte Lebensweisheiten. Gerade weil man in Katzen zwar viel hinein interpretieren kann, sie sich aber einem psychologischen Zugriff entziehen, bleiben sie am Ende interessanter als die fragmentarischen, jedoch allzu eindeutigen Erzählungen der Zweibeiner.

Obwohl "Kedi" mit den Schwärmereien der Interviewten und der sanften Xylophon-Musik oft verträumt und sentimental wirkt und sich auch nicht dafür schämt, offensiv tierische Schauwerte und Istanbuler Sehenswürdigkeit ins Bild zu rücken, gibt es eine versteckte Ebene, die den Film in einer weniger romantisierten Wirklichkeit verwurzelt. Torun hat sicher keine politische Allegorie im Sinn gehabt, aber es fällt schwer, überhaupt keinen Bezug zur aktuellen Lage in der Türkei zu sehen. Die Schauplätze sind ausnahmslos urbane, westlich geprägte Stadtviertel wie Cihangir, in denen die Zweibeiner ebenso Querköpfe sind wie die Katzen. An diesen fast schon utopischen Orten werden noch Werte wie Individualität, Diversität und Freiheit hochgehalten - also all das, was in der türkischen Gegenwart wieder mehr denn je verteidigt werden muss. So wirkt es weniger esoterisch als entschieden kämpferisch, wenn der Film mit der Bemerkung endet, dass der Mensch von diesen eigensinnigen, starrköpfigen und unverwüstlichen Tieren einiges lernen kann.

Michael Kienzl

Kedi - Türkei 2016 - Regie: Ceyda Torun - Laufzeit: 79 Minuten.