Im Kino

Aufgehobene Zeit

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Ekkehard Knörer
19.08.2009. In seinem Film "Memelland" sucht der große Dokumentarist Volker Koepp das einstige östlichste Ende Ostpreußens auf. Um Homosexualität, Schneckenhäuser und Melancholie geht es in Bohdan Slamas Film "Der Dorflehrer".
Das erste Bild von Volker Koepps neuem Film "Memelland" zeigt einen Weg vor einer Baumreihe, dahinter Wasser. Von links kommt eine Frau ins Bild, nicht sehr groß im von der Landschaft bestimmten Tableau. Die Kamera, die zuvor ruhig war, setzt sich in Bewegung, folgt der Frau auf dem Weg nach rechts, beschleunigt und schwenkt nach rechts, an der Frau vorbei , die nach links aus dem Rahmen verschwindet, die Kamera schwenkt weiter, nun über menschenleere Landschaft, man sieht eine Weggabelung und rechter Hand dann ein Haus, auf das der Blick der Kamera, nun zur Ruhe kommend, fällt.



Mensch, in der Landschaft verortet: Das ist das Prinzip der dokumentarischen Filme des Volker Koepp. Sie entwerfen, mit scheinbar einfachen Mitteln, Tableaus, in die der Raum und die Zeit und die Menschen in Zeit und Raum eingetragen sind, ohne je ganz zum Zentrum zu werden. Wenngleich Koepp die Städte nicht völlig meidet, ist doch die Weite der Landschaft und ihre longue duree das, was ihn in erster Linie fasziniert. Nicht weil er ein Natur- und Idyllenmaler wäre, im Gegenteil. Nicht das Überzeitliche will er darstellen, sondern Geschichtlichkeit. Und Mal für Mal beweisen seine Filme aus westöstlichen Grenzgebieten, dass Geschichte dort im weitesten Rahmen erfassbar ist, wo die Zeit beinahe stehengeblieben scheint. (Vielleicht sollte man grundsätzlicher sagen: Wo die Zeit in seltsame Aggreggatzustände gerät. Wo sie nicht recht vorankommt oder wo die Zukunft sich nicht einmal am Horizont zeigen will. Wo alles halb in der Vergangenheit, halb in der Zukunft steckt. Wo die Landschaft die Zeit in sich aufnimmt, wo der Mensch sich immer schon verbunden mit der Landschaftszeit zeigt.)

Memelland ist der deutsche Name für ein Gebiet am äußersten östlichen Rand des ehemaligen Ostpreußen. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel der gut 140 km lange Streifen Land an der Ostseeküste an Litauen, Hitler annektierte es 1939 und 1944 wurde es zum Bestandteil der Litauischen SSR. Inzwischen ist das Gebiet Teil des seit dem Zerfall der Sowjetunion unabhängigen Staates Litauen, mit einer scharfen Grenze im Westen zum zu Russland gehörigen Kaliningrader Bezirk. Trotz aller Fluchten und Vertreibungen und Umsiedlungen sprechen manche der heute hier lebenden Alten noch immer zwei Sprachen, Litauisch und Deutsch. So etwa die drei Schwestern Edith, Erna und Berta, Bäuerinnen, die Koepp bei der Arbeit zeigt, aber auch auf dem Friedhof, die er erzählen lässt aus ihrem Leben. Ihres ist das Haus, auf dem die Kamera am Anfang zu ruhen kommt, sie sind die Figuren im Film, deren Geschichte am weitesten zurückweist in die Vergangenheit dieses Landstrichs.



Zum stillen Pathos dieser Filme gehört es, dass sie sich, wie manche alten Landschaftsgemälde, leise öffnen auf allegorische Lesarten. Eine sehr junge Frau im Wald, die erzählt, dass sie vor allem eins will vom Leben: das Glück, ist beinahe ganz Zukunft. Ein Mann, sich mittlerem Alter nähernd, war Gründer einer ersten großen litauischen Werbeagentur. Nun aber ist er ausgestiegen, hat im Memelland aus alten, vom Kaliningrader Gebiet über die Grenze geschafften Ziegeln ein glänzend am Wasser stehendes Hotel namens Sturmu bauen lassen: In ihm, seiner Lebensgeschichte, dem neuen Hotel aus altem Material, seiner Liebe zur Hafflandschaft, verkörpert sich etwas wie die Vermittlung von damals und heute.

Auch eine Historikerin tritt auf, Leiterin eines Museums vor Ort, Tochter einer Frau, die aus dem Memelland stammt und nach Sibirien deportiert war. Sie kehrte in den Fünfziger Jahren wieder zurück, ihre Tochter, die in der Hauptstadt Geschichte studiert hatte, ist im Memelland aufgewachsen. Ganz langsam fährt das Auto auf einem Landweg in das Dorf ihrer Kindheit. Die Frau erzählt, von damals, von heute, unmerklisch fast schieben sich damals und heute in dieser Fahrt ineinander. So wird Geschichte darstellbar in Koepps Filmen: als paradoxe Erfahrung, im Erzählen von Erlebtem und in der zugleich sichtbar werdenden Nichtwiederholbarkeit alles Gewesenen. Und stets werden diese Material einsammelnden dokumentarischen Kapitel eingebettet in die Aufnahmen von Land und Wasser und Wolken und Luft von Koepps Kameramann Thomas Plenert, einem der großen Landschaftsfilmer des Gegenwartskinos.




Wie Zeit und Vergangenheit in die Gegenwart eingelagert sind, darum geht es recht eigentlich. Und deshalb kommen immer auch Stimmen aus der Vergangenheit selbst zu Wort. Als alte, andere Namen von Städten, als Stimmen von Dichtern - und in diesem Fall sogar dadurch, dass Koepp selbst inzwischen zum Träger einer Jahrzente schon währenden Erfahrung mit den Gebieten des einstigen Ostpreußen ist. In den frühen Siebziger Jahren, ganz zu Beginn seiner Laufbahn als DEFA-Dokumentarist, war er bereits einmal hier, auf den Spuren des großen Dichters Johannes Bobrowski. Die Bilder von damals sind in kurzen Ausschnitten in den Film von heute geschnitten. Einen Fischer hat Koepp einst porträtiert, an den sich, er ist längst gestorben, manche der für "Memelland" Befragten erinnern. Koepp lauscht immer in mindestens zwei Richtungen: das eine Ohr offen zur Gegenwart, an das andere hält er die Vergangenheit wie eine Muschel. Seine Filme vermitteln das Rauschen und und sind doch zugleich der Gegenwart zugewandt.

Ekkehard Knörer

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"Sehr traurig", sagt die Bäuerin, eine Frau mittleren Alters und alleinerziehende Mutter, als sie die Kopfhörer des jungen Mannes, der da in ihrem Heu liegt, aufsetzt und in seine Musik rein hört. Ein Trauergesang ist zu hören, eine Elegie, der es als einziger vorbehalten ist, "Der Dorflehrer" musikalisch zu untermalen. Immer wieder, an genau bestimmten Stellen, fließt sie als Score in den Film ein und gibt sich dann doch meist als Musik zu erkennen, die Teil der Filmwelt ist, die sie umspielt und einwattiert. "Der Dorflehrer"- ein melancholischer Film.


Der da im Heu liegt und Musik hört ist Peter (Pavel Liska), ein von Prag aufs Land geflohener Lehrer, der seiner Umwelt so fremd bleibt, dass er, wenn er sich zu Beginn seiner Klasse vorstellt, so verschüchtert wie ein neuer Mitschüler wirkt, der unbeholfen um Einlass in die Gemeinschaft bittet. Was ihn aufs Land zog, was im Innersten des verschlossenen Mannes vor sich geht, bleibt solange unklar, bis es ihm, vor seiner Mutter, die ob solcher Plötzlichkeit ebenso erstaunt ist wie der Zuschauer, herausplatzt: "Ich bin homosexuell."




In einem Winkel bei der Bäuerin Marie (Zuzana Bydzovska), untergekommen, macht er bald Bekanntschaft mit deren Sohn, Lada (Ladislav Sedivy), der mit typischer Spätpubertät beschäftigt ist: Erstes Knutschen mit der Freundin, erste Unsicherheiten, Eifersucht, Trennungsschmerz und profundes Desinteresse an allem Schulischen. Dass Peter dem Heranwachsenden unter die Arme greift, ist nicht allein pädagogische Verpflichtung: Sein trauriger Blick verrät die heimliche Zuneigung, die seine Hände in einer alkoholisierten Nacht die Grenzen um die entscheidenden Zentimeter überschreiten lassen.

Viel mehr als um menschliche Katastrophen und tragische Exzesse geht es Regisseur Bohdan Slama um eine melancholische Grundhaltung, eine Art milder, die eigene Traurigkeit kultivierenden Blick auf das Leben, dem eine hoffnungsvolle Note zuweilen nicht abgeht. Ob es sich bei Peters Fehlgriff um eine Vergewaltigung handelt, interessiert ihn im Grunde ebenso wenig wie die Beschädigungen, die Lada, der im Anschluss an die Nacht den Hof verlässt und auf der Suche nach seiner Freundin durchs Land streift, mutmaßlich mit sich trägt. Sein Film ist behutsam, Schritt für Schritt erzählt, in langen, seine Welt sorgsam abtastenden, fast abwartenden Einstellungen, die den sich bemerkenswert frei bewegenden Figuren folgen, sei's in die Höhe, sei's in die Tiefe oder in einer Drehung der Kamera um sich selbst. Schnitte, die das Geschehen dramatisieren, finden sich selten und fast ausschließlich nur dann, um einen Ortswechsel zu markieren."Der Dorflehrer" ist eine Beobachtung, oder besser noch: Eine Übung in Entschleunigung, die Dinge zunächst geschehen lässt.


Wenn man, was selten, fast nie der Fall ist, Peter beim Klassenunterricht sieht, spricht der Biologielehrer meist über Schneckenhäuser. Wie man an ihnen ablesen kann, was deren einstige Bewohner in ihrem Leben durchgemacht haben. Hier die Windung, da wurde die Schnecke das entscheidende Gran älter, jene Narbe, da mag ein Stein das Gehäuse gesplittert haben, doch die Stelle wuchs wieder zu. Jeder Schwung eine Episode im Leben, mit Spuren und Verwerfungen. Dieser Logik der wehmütigen Beschaulichkeit eines fließenden, sich windenden Lebens ordnet auch Slama die Ereignisse im "Dorflehrer" unter: Menschen, denen im einzelnen ein Stein auf die Schale drückt. Am Ende des Films wird ein Kalb geboren, es wird, wie Peter, Marie und Lada, Dinge erlebt haben, auf die sich zurückblicken lässt, im Guten wie im Schlechten.

Thomas Groh

Memelland. Deutschland 2008. Regie und Buch: Volker Koepp - Darsteller: (Mitwirkende) Viktorija, Edith, Erna, Berta, Ceslovas, Asta

Der Dorflehrer. Tschechien / Frankreich / Deutschland 2008 - Originaltitel: Venkovskyucitel - Regie: Bohdan Slama - Darsteller: Pavel Liska, Zuzana Bydzovska, Ladislav Sedivy, Tereza Voriskova, Milos Cernousek, Zuzana Kronerova