Essay

Jener tiefe Riss

Von Rüdiger Wischenbart
27.06.2016. Ein Blick auf die jüngsten Abstimmungen in Österreich und in Britannien zeigt: Nichts ist internationaler als die neuen nationalistischen Konvulsionen. Die Tendenzen gleichen sich zum Teil bis ins Detail. Dass es nur die Abgehängten sind, die gegen die Globalisierung stimmen, ist allerdings unrichtig, denn den Rentnern geht es heute besser denn je. Es hat mehr damit zu tun, was man sich von der Zukunft erhofft.
Bei der Brexit-Abstimmung in Großbritannien stand nicht "Europa" im Mittelpunkt, und letztlich nicht einmal "Immigration", sondern jener tiefe Riss, der sich in erstaunlich passgleichen Konturen durch alle Gesellschaften der "Alten Welt" zieht.

Als ich die Karte mit den regionalen Abstimmungsergebnissen vom vorigen Donnerstag vor mir hatte - London, Schottland und Teile Nord-Irlands mit klarer Mehrheit für "Remain" - konnte ich das Grundmuster mühelos auf die Ergebnisse der österreichischen Präsidentschaftswahlen von Ende Mai übertragen. London/Wien, Schottland/Vorarlberg, sowie weitere Mehrheiten in urbanen Wahlbezirken für die eine Seite, der Rest genau andersrum.

Eine breite Umfrage vom Abstimmungstag in Großbritannien lieferte dann noch viel verblüffendere Parallelen zwischen den beiden Ländern, die sonst noch nie im Verdacht der Übereinstimmung oder irgendwelcher struktureller Ähnlichkeiten gestanden hatten.

Für den Austritt Britanniens aus der Europäischen Union stimmten in klaren Mehrheiten Wählergruppen über 45 Jahre, mit niedrigerer Bildung und knapperen Einkommen, die sich selbst in überwältigender Mehrheit als "Engländer" sahen, und nicht als "Briten", und die finden, dass es ihre Kinder schlechter haben würden als die Elterngeneration, wie sich auch insgesamt das Leben in Britannien verschlechtert habe.

Mehrheitlich sahen die Brexit-Befürworter die Mischung der Kulturen, Feminismus, ökologische Bewegungen, die Globalisierung wie auch Einwanderung als negative Erscheinungen an.

Bemerkenswert war überdies auch noch, wie gespalten sich die Anhänger der beiden Großparteien manifestierten. Konservative Wähler (auf Basis der allgemeinen Wahlen von 2015) stimmten zu 58 Prozent für den Austritt, gegenüber 42 Prozent für ein Beibehalten der Teilnahme in der Europäischen Union. Bei den Sozialdemokraten war das Verhältnis 37 Prozent für den Austritt gegenüber 63 Prozent für ein Bleiben in der EU.

Zugespitzt formuliert haben die Alten gegen die Jungen, sowie jene, die ihr Leben enttäuscht betrachten, gegen die Zukunftsoptimisten gestimmt.

In Österreich brachte das Endergebnis eine hauchdünne umgekehrte Mehrheit. Aber alle weiteren Einzelaspekte, Nuancen, Muster und Trends sind weitgehend ident.

Österreich und Britannien sind so unterschiedlich, wie man zwei Ländern in Europa nur finden kann. Immer wieder gab es bemerkenswerte Gleichklänge zwischen dem kleinen, späten Nationalstaat Österreich, und der großen Nation Frankreich, oder auch zwischen der österreichischen, der deutschen und der schwedischen Sozialdemokratie in den 1970er Jahren. Demgegenüber galten die Unterschiede zwischen dem Süden (Spanien, Italien, Griechenland) und dem Norden (Deutschland, Niederlande, Skandinavien), oder zwischen "Alt-Europa" und den neuen Mitgliedern im Osten (insbesondere in der Haltung zum Irak Krieg) als feste Orientierungen. Britannien und Österreich teilen indessen höchstens einen manchmal nostalgischen Blick zurück auf geschrumpfte historische Größe.

Der aktuelle Aufstand der Rechten / Populisten / Nationalisten heute aber ist gesamteuropäisch einheitlicher ausgeprägt als vermutlich jeder andere politisch relevante Einzelfaktor unter den aktuellen Mitgliedern dieser Union.

Gewiss, dieser Gleichklang kann in naher Zukunft sehr rasch wieder dissonant werden, sobald diese Kräfte nicht mehr nur protestieren, sondern sich koordinieren müssen um ihre Ansätze in reale politische Entscheidungen zu gießen. Die Möglichkeit zur Umsetzung macht nun ja auch das Brexit-Votum zur singulären Zäsur. Im Augenblick aber bildet der Aufstand der Aussteiger eine massive Einheitsfront, mit erheblichem Potenzial zur Disruption.

Worin besteht aber der Kitt, der sie zusammenhält?

Die vergangenen gut drei Jahrzehnte haben durch die Kräfte der Globalisierung, und Digitalisierung eine so tiefgreifende Umwandlung aller gesellschaftlichen Rahmen gesehen, dass einem, sobald man etwas genauer hinsieht, der Atem stockt. Von weiter draußen betrachtet ist so einzigartig an dieser Verwandlung unserer Gesellschaften, dass dieser Prozess, zumindest innerhalb unserer Grenzen in Europa, bislang nicht katastrophisch ablief. Der größte Kataklysmus hat die islamischen Länder erfasst - und schlägt jetzt über, spät und bislang abgeschwächt, in Form der Fluchtbewegungen und mit vereinzelten Attentaten, über das Mittelmeer bis zu uns.

Aber von Portugal und Sizilien, von Irland bis ins Baltikum und an die EU-Außengrenze zur Ukraine ließen sich alle Spannungen über die nun so gescholtenen Bürokratismen, und deren Institutionen in Brüssel, irgendwie ausmendeln, oder genauer gesagt "wegverwalten".

Natürlich fällt mir als Österreicher hier historisch die Parallele von vor zwei Jahrhunderten ein, als der Josephinismus ein ähnliches - ebenso langweiliges wie erfolgreiches - Stück als Alternative zur Französischen Revolution vorführte, das für sehr lange Zeit ein Reich aus widerstrebenden Einzelteilen zusammenfügte, bis letztlich dessen interne Fliehkräfte dann doch die Kohäsionskräfte der zentralen Verwaltung einholten.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert trieben ebenfalls technische Modernisierungen - Eisenbahnen, Telegraphie, Mechanisierung der Landwirtschaft -, Umwälzungen voran, welche die Gesellschaften auf den Kopf stellten, als Millionen Menschen aus den Dörfern, von Sizilien bis Osteuropa, in die neuen Metropolen in Wien, Budapest, Berlin, London, und Paris, oder sogar bis nach Übersee flohen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Darüber entstanden dann die Arbeiterbewegungen wie auch die nationalistischen Massenbewegungen, inklusive der modernen Juden-Pogrome.

Deshalb ist die wichtigste Frage heute: Was ist, wenn rund die Hälfte der Menschen in unseren europäischen Gesellschaften, die in Österreich unlängst für einen radikal rechten Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer gestimmt haben, und nun in Großbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union votierten, ganz reale Gründe hätten, dies zu tun!

Der üble Fingerzeig auf die sogenannten "Modernisierungsverlierer", die dann natürlich gar nicht "wissen", dass sie "falsch" abstimmen, taugt genau so wenig als Pauschalerklärung wie deren vermeintlicher Hass auf die "Eliten". Denn die ersteren machen vielleicht knapp ein Drittel der Bevölkerungen quer durch Europa aus, und die letzteren vielleicht ein Fünftel.

Unter den 52 Prozent - nach den Daten aus der Brexit-Umfrage: Engländer (versus "Briten") über 45, mit negativer Einstellung zu Feminismus und Ökologie - zählen einfach zu viele zu den erheblich privilegierten Bevölkerungsgruppen mit einem höheren Einkommen in öffentlichen Diensten oder anderen Großorganisationen, deren Frustration offenbar groß genug angewachsen war, um das deutliche Risiko der wirtschaftlichen Katastrophe geringer zu bewerten als den Willen lauthals "Dagegen!" zu schreien.

Und umgekehrt fühlen sich die "besseren" 30 Prozent unterhalb der "Eliten" stabil genug aufgehoben als Mitglieder einer ("britischen") Mittelklasse, mit Urlaub nicht nur an der Costa Brava oder am Ballermann, und in der Zuversicht, die Abzahlung für Häuschen und Ausbildung der Kinder letztlich doch einigermaßen auf die Reihe zu kriegen.

In Österreich haben alle neun Landeshauptstädte klar gegen die FPÖ, und für den soigniert bürgerlichen Kandidaten van der Bellen gestimmt. Aber im öffentlichen Dienst, oder unter Pensionisten - deren Renten heute höher sind als die jeder früheren Generation - hatten die ehemaligen Volksparteien, also Konservative und Sozialdemokraten, galoppierende Einbrüche verzeichnet.

Auf einen sehr zugespitzt vereinfachenden Schlüssel gebracht stimmen hier jene, die sich aus den Veränderungen in Richtung Zukunft ausgeschlossen sehen, gegen die, die sich eine Chance ausrechnen, diese Zukunft zu gestalten.

Darüber formulieren sich aber ein sehr klarer Weckruf und ein Mandat an die Politik - nicht nur an die amtierenden Politiker, sondern an alle, die in Europa politisch etwas sagen wollen. Wenn es die aktuell gewählten Mandatare nicht hören, dann sollten Menschen diesen neuen Diskurs aufgreifen, die diese alten Mandatare zu ersetzen vermögen - und nicht nur solche, die den Protest jener herausschreien, die meinen, die Zukunft habe für sie nichts Erstrebenswertes anzubieten.

Ich habe mir, aus meinem Brotberuf als Beobachter kultureller Märkte, immer wieder folgende Frage gestellt: Was verbindet all diese Leserinnen und Leser von Krimis zwischen Stockholm und Catania, zwischen Graz, Krakau und Edinburgh, dass sie, wiederum im Bogen der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte, ein erzählerisches Genre zum Motor des Buchhandels gemacht haben, welches Mittelklasse-Alltagsgeschichten über den Trick der Spannung in große Heimatliteratur quer durch Europa verwandelte?

Mittlerweile ahne ich, dass diese zahllosen Leserinnen (und, wenn auch zu einem etwas geringeren Teil: Leser) schlicht sehr viel an gemeinsamen Lebenserfahrungen, Einstellungen und Perspektiven auf Gesellschaft, Werte, Aussichten vereint.

Ganz so, wie es ausgeblieben ist, in dieser Zeitspanne Angebote für eine gemeinsame Lebensperspektive - übrigens weder national, noch europäisch - aus Werten und Aussichten mit jenen aufzubauen, die außerhalb dieser Komfortzone ihre Leben und ihr Auskommen organisieren.

Politisch fatal ist, wie daraus eine große leere Zone entstehen konnte, die nun die radikal Rechten, die Populisten und Nationalisten, mit ihrem Lieblings-Fantom aufplustern, mit ihren Slogans einer reinen, schrillen, plakativen "Identität". Österreich! England! Deutschland! Und so fort.

Mit den vagen Angeboten, oder Phrasen, einer europäischen Identität ist da kein Blumentopf zu gewinnen. Mit Politik, die Zukunft denkt und auf breiter sozialer Basis organisiert, die also zum Beispiel jene Angebote verbreitert, die London und Wien ausgezeichnet haben, um diese nun aber für das ganze Land auszurollen, sind neue Mehrheiten eine realistische Ambition.

Rüdier Wischenbart