Essay

Rassismusbegriff ohne Rassen

Von Daniele Dell'Agli
17.08.2018. Im Laufe der neunziger Jahre wurde der Rassismusbegriff in den Chefetagen der neu gegründeten Institute für Kulturwissenschaft, alsbald sekundiert von den meinungsbildenden Medien, auf Vorbehalte gegenüber jeder Art von Fremdheit, sei sie ethnischer, kultureller oder religiöser Natur ausgedehnt -  sozusagen alltagstauglich gemacht und multivektoriell einsetzbar. Aber es gibt eine Dialektik der Begriffsaufblähung.
In letzter Zeit werde ich von Freunden gefragt, warum ich mich nicht zur Debatte über Diskriminierung von Zugewanderten oder ihren hierzulande geborenen Kindern äußere. Ich, Italiener, mit zwölf Jahren 1966 nach Deutschland gekommen - ernsthaft? Ja, insistieren sie, dein chronisches Scheitern beim Versuch, dich als Schriftsteller zu profilieren, muss etwas mit deiner Herkunft zu tun haben, "an deinen Sachen liegt es jedenfalls nicht." Nun ja, an dem Namen könnte es schon liegen, den haben die nie gemocht, schon weil sie ihn nie aussprechen konnten, das steht fest. Und vielleicht war in den Gedichten oder den Essays ein Gestus, ein Tonfall, eine Haltung, etwas, das den Zensoren fremd blieb. Andererseits: wird nicht gerade Fremdheit offiziell prämiert? Das alles bleibt vage und spekulativ. "Gibt es denn nichts Handfesteres? Wie war das mit dem Chamisso-Preis für Migrationsliteraten? Warum hast du den eigentlich nie gekriegt?"

Gute Frage, immerhin hat es lange Zeit kaum eine Handvoll Lyriker unter den zugewanderten Autoren gegeben und die Statuten dieses (2017 abgeschafften) Preises besagten nur, dass potenzielle Kandidaten Deutsch nicht als Muttersprache gelernt haben durften. Doch die wahren Auswahlkriterien erkennt man bekanntlich an den Preisträgern. Und diese zeichneten sich ausnahmslos dadurch aus, dass sie in ihren Texten von der Tragik des Heimatverlusts, den Mühen des Kulturwechsels und dem Kampf um Anerkennung in einer fremden Umgebung Zeugnis ablegten. Damit konnte ich in der Tat nicht dienen.

Worüber hätte ich klagen sollen? Dass man mich, 1966 nach Deutschland verfrachtet und ohne Sprachkenntnisse eingeschult, als "Spaghettifresser" hänselte? Sehr bald hatte ich gelernt, den "Kartoffelfresser" zurückzugeben. Als viel schmerzhafter sollte sich für mich das Label "Brillenschlange" erweisen, das meine Chancen bei Mädchen gegen Null mobbte. War das ausländerfeindlich? Natürlich nicht, es gehörte vielmehr ins eherne Repertoire pubertärer Grausamkeiten, für deren Bewältigung seit den Törless-Zeiten ein breites Spektrum pädagogischer, therapeutischer und publizistischer Instrumente zur Verfügung steht.

Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass ich paradoxerweise gerade wegen meiner "gelungenen" Integration wegsortiert wurde, und zwar von den schon damals (neunziger Jahre) rührigen Vertretern des heute omnipräsenten linksliberalen Paternalismus, denen ich nicht zum Betreuungsobjekt taugte. So wurde mir eine der ganz wenigen Chancen genommen, mir als Lyriker einen Namen zu machen. Das war bitter, aber Rassismus war das natürlich nicht, wie auch sonst die meisten Ausgrenzungen, Benachteiligungen oder Animositäten gegenüber Ausländern von keinen rassistischen Motiven angetrieben werden.

Die gegenwärtige Debatte verdankt sich vielmehr der schleichenden Aufblähung des Rassismusbegriffs selbst, der ursprünglich - mangels genetischer Evidenzen von Rassenzugehörigkeit - die Abwertung von Menschen mit abweichenden phänotypischen Merkmalen (Hautfarbe, Haare, Augen et cetera) aufgrund ihrer Herkunft bezeichnete. Im Laufe der neunziger Jahre wurde er in den Chefetagen der neu gegründeten Institute für Kulturwissenschaft, alsbald sekundiert von den meinungsbildenden Medien, auf Vorbehalte gegenüber jeder Art von Fremdheit, sei sie ethnischer, kultureller oder religiöser Natur ausgedehnt -  sozusagen alltagstauglich gemacht und multivektoriell einsetzbar ("Rassismus ohne Rassen") - bis der fortlaufend nachgerüstete Kampfbegriff als rhetorische Totschlagkeule selbst den Antisemitismusvorwurf überrundete und sich inzwischen anschickt, sogar die Islamophobie, die nach zahllosen Nachweisen ihres Widersinns (etwa hier) nicht mehr so recht zündet, abzulösen (der sachlich korrekte Terminus "Xenophobie" wird wegen seines niedrigen Empörungsindex tunlichst gemieden).     

In diesem Klima einer künstlich gezüchteten Paranoia konnte das Anspruchsdenken einer jüngeren Generation (mit und ohne Alteritätsappeal) narzisstisch aufblühen und ein Bewusstsein davon, dass das In-der-Welt-Sein auch gewisse unvermeidbare Lebensrisiken birgt - man nennt das Kontingenz - restlos verdrängen. So etwa die Trivialität, dass man sich nicht immer die Gesellschaft aussuchen kann, mit der man in Berührung kommt. "Sie sprechen aber gut deutsch." Ja, auch ich habe den Satz unzählige Male zu hören bekommen. Na und? Wie verzogen muss man sein, um sich über die mitschwingende Unterstellung zu beschweren, anstatt den gedankenlosen Spruch als das zu nehmen, was er, einmal ausgesprochen, nolens volens ist, nämlich ein Kompliment, mithin Ausdruck wohlwollenden Entgegenkommens, auf dem sich der begonnene Kontakt ausbauen lässt.

Ohne dieses Minimum an Coolness ist Zusammenleben im dichtest besiedelten Flächenstaat des Planeten (wieso wird dieses Argument in der Flüchtlingsdebatte unterschlagen?) unerträglich. Wohin soll die ständige Ausweitung des Diskriminierungsverdachts führen? Ich habe Jahrzehnte lang italienische Lebensmittel in deutschen Supermärkten missen müssen: wurde ich demnach ausgegrenzt, gar in meiner italianità beleidigt? Und was muss ich erst als Schriftsteller sagen, wenn ich für einen Manuskriptvorschlag eine Absage kriege? Auf Veröffentlichungen gibt es ebensowenig Rechtstitel wie auf diese oder jene Wohnung.

Das Lamento, dass man aufgrund von Namen, Herkunft oder Aussehen auf dem Wohnungsmarkt geringere Chancen hat, können mutatis mutandis Millionen hellhäutige Biodeutsche auch anstimmen: Familien oder Alleinerziehende mit Kindern, Senioren mit Haustieren, praktisch alle Geringverdiener oder Einkommensschwache, kurz ein Drittel der Bevölkerung. Im Kapitalismus, bemerkte Heiner Müller einmal finster, steht immer einer an der Rampe, der den Daumen nach oben oder nach unten dreht. Die Politik, die dafür verantwortlich zeichnet, dass der Daumen für immer mehr Menschen immer häufiger nach unten zeigt, wird seit Jahrzehnten mit vorhersehbarem Masochismus alle Jahre wieder an die Macht gewählt.

Längst hat die Dialektik der Begriffsaufblähung den kritischen Impetus entwertet: am Ende steht die Verwunderung über gute Sprachkenntnisse neben der verweigerten Wohnung und dem Anzünden eines Flüchtlingsheims unter demselben Rassismusverdacht. Dessen analytischer oder jenachdem polemischer Wert kann sich dann durchaus messen mit der Fleischfresserschelte aus dem Munde von Veganern. Die ganze Misere dieser halbgebildeten Aufgeregtheiten ermisst man aber erst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in den letzten Jahren Hunderttausende junger Südeuropäer - Italiener, Spanier, Griechen - nach Deutschland gekommen sind, ohne dass irgendjemand Anstoß daran genommen hätte. Obwohl sie nicht anders aussehen als die meisten Türken oder Araber (Syrer, Iraker) und daher ebenfalls prädestiniert gewesen wären, den xenophobischen Reflex auszulösen.

Die Gründe liegen auf der Hand: sie sind zu gleichen Teilen Männer und Frauen, gut ausgebildet, lernen schnell Deutsch, wenn sie nicht schon in ihrer Heimat Sprachkurse absolviert haben, pflegen europäische Lebensstile und Umgangsformen und vor allem: sie sind keine Moslems. Davon wollen aber die Wächter der politischen Korrektheit in Politik, Universität und (einem schwindenden Teil der) Medien nichts wissen: dass der angebliche deutsche Rassismus sich im wesentlichen auf ein massives Unbehagen gegenüber Angehörigen des islamischen Kulturkreises reduziert. Und dass es eine propagandistisch wohlfeile, wissenschaftlich unhaltbare Diskursfälschung ist, eine Religion, die - muss man daran erinnern? - viel mehr ist als Religion in unserem gängigen Verständnis, als Rasse zu betrachten, um damit die Kritik an ihr zu diskreditieren und Diskussionen über ihre Kompatibilität mit europäischen Werten und Lebensformen ein für allemal ein Ende zu bereiten.

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Über die zahlreichen Kulturschaffenden unter den selbsternannten Rassismusopfern kann ich mich nur wundern. Es gab eine Zeit, da war es für Künstler und Intellektuelle (egal welcher Provenienz) Ehrensache, Outsider zu sein, nicht dazuzugehören. Weltdistanz, Befremdung angesichts des Treibens der Zeitgenossen war geradezu Voraussetzung für produktive Erkenntnis, Antrieb für kreatives Anderssein. Dafür wurden auch Nachteile in Kauf genommen: Einsamkeit, mangelnde Anerkennung, Anfeindungen, miserables Einkommen. Der frenetische Inklusionswille, den sie heutzutage - mit und ohne M-Hintergrund - bekunden, ist peinlich, um nicht zu sagen beschämend. In welchem Verein wollen die vielen sprachmächtigen, nicht selten erfolgreichen Beschwerdeführer eigentlich Mitglied sein? Wann wird ihnen der letzte Stolperstein auf dem Weg dorthin aus dem Weg geräumt sein? Vermutlich nie. Die Unersättlichkeit ihres Anspruchsdenkens folgt dem Vorbild des feministischen, der seit langem vorführt, wie man, um die eigenen Claims immer weiter abzustecken, selbst offensichtliche Desinformationen wie pure Offenbarungen in den Medien erscheinen lässt. Wie das funktioniert sei abschließend und aus aktuellem Anlass anhand einer Vignette illustriert.

In der letzten Ausgabe des ARD-Kulturmagazins "TTT" (12. August) interviewt Moderator Max Moor die Präsidentin der Salzburger Festspiele Helga Rabl Stadler. Diese beschreibt ihren Einstieg in den Beruf so: "Ich habe gesagt ich will das und ich kann das. Und mir war nicht klar, dass ich damit zwei Tabus gebrochen habe.... Das ist ein Selbstbewusstsein, das man nur von Männern will." Seltsam, die Stelle hat sie doch gekriegt, oder? Was möchte sie uns damit sagen? Von den Mitarbeitern wird sie geschätzt, weil sie seit 23 Jahren (sic!) einen guten Job macht. Was beklagt sie dann eigentlich? "Und drum, ich möchte alle andern Frauen dazu ermuntern, bitte wagt es, zu euren Fähigkeiten zu stehen." Aha. Ich fasse zusammen: weil "man" (Berufungskomitees, Entscheidungsgremien, Personalräte) selbstbewusstes Auftreten nur von Männern schätzt, sollen Frauen selbstbewusst auftreten, damit sie in die Positionen kommen, die ihnen aufgrund dieses Tabubruchs versperrt bleiben müssten. Ergibt das einen Sinn? Ja! Den nämlich, einmal mehr die tausendfach widerlegte Mär von den Männerseilschaften, die Frauen den Aufstieg erschweren, aufgewärmt zu haben, einmal mehr aus der Perspektive einer hochdekorierten Leistungsträgerin, die schon mit ihrer Erfolgsgeschichte widerlegt, was sie erzählt. Wann hört das eigentlich auf? Wenn ausnahmslos alle prestigeträchtigen und lukrativen Posten dieser Welt von Frauen besetzt sind? Der Moderator jedenfalls ist beeindruckt, er ahnt nicht, dass er sich zum Agenten einer dreisten Irreführung gemacht hat. Fiat vanitas, pereat mundus.

Daniele Dell'Agli