Bücher der Saison

Politik und Gesellschaft

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
09.11.2021. Jan Feddersen und Philipp Gessler untersuchen den Kampf der Identitäten. Frank B. Wilderson ergeht sich in Afropessimismus. Adam Tooze analysiert die Welt im Lockdown, Martin Steinhagen den rechten Terror. Und Maurus Reinkowski liefert eine brillante Geschichte der Türkei von Atatürk bis zur Gegenwart.

Gesellschaft

Cover: Kampf der IdentitätenKaum ein Tag vergeht momentan ohne identitätspolitischen Aufreger. Der Kulturkampf gegen Sexismus, Rassismus, Homo- oder Transphobie wird hart und rigoros ausgefochten, auch innerhalb linker Institutionen und Redaktionen. Die beiden taz-Journalisten Jan Feddersen und Philipp Gessler schreiben aus eigener Erfahrung, wenn sie in ihrem Buch "Kampf der Identitäten" (Bestellen) eine grundsätzliche Frage aufwerfen: Wie progressiv ist die neue Wokeness? Im Dlf weiß Wolfgang Stenke sehr zu schätzen, dass Feddersen und Gessler aus einer linksliberalen Haltung heraus schreiben, die den Kampf gegen Diskriminierung ernst nimmt, sich aber im Namen des Universalismus gegen eine Aufspaltung der Gesellschaft nach Gruppenidentitäten wehrt. Für ihn "ein grundvernünftiges Plädoyer für eine emanzipatorische Politik", die Soziallinke und Identitätslinke wieder versöhnen könnte. In der FR betont Harry Nutt, dass die beiden Autoren sich nie ins Einerseits-Anderseits flüchten, keine Spiele der Ambivalenz betreiben, sondern immer an einer konstruktiven Lösung dessen arbeiten, was sie vor allem für einen "innerlinken Generationenkonflikt" halten.

Cover: Ein nahezu perfekter TäterMit mehr Schärfe geht der französische Philosoph Pascal Bruckner in seinem Buch "Ein nahezu perfekter Täter" (Bestellen) mit der Identitätspolitik ins Gericht. Die Bissigkeit in Bruckners Duktus kann FR-Kritiker Harry Nutt aushalten, aber die Intellektualität imponiert ihm mehr. Entscheidend erscheint ihm die Intervention gegen ein Denken, das Biologie wieder zum Schicksal macht und Menschen in ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft und ihrem Glauben einsperrt. FAZ-Kritiker Thomas Thiel findet auch sehr instruktiv, wie Bruckner den Keim des Übels auf die Vernunftkritik des französischen Poststrukturalismus zurückführt, die sich an amerikanischen Universitäten mit Prüderie und der Tendenz zur Segregation aufgeladen hat, um nun als Wokeness zurückzukehren. Auch wenn Bruckner in der Verteidigung des alten weißen Mannes für Thiels Geschmack zu weit geht, schöpft er aus Bruckners Lob der europäischen Zivilisation mehr Hoffnung für den Ausgleich historischer und gegenwärtiger Ungerechtigkeit als aus zeitgeistig-opportunen Selbstgeißelungen. In unserem "Vorgeblättert" finden Sie eine Leseprobe aus dem Kapitel "Mit einfachen Ideen ins komplizierte Europa". 

Cover: AfropessimismusCover: Der Trubel um DiversitätIn der FAZ kann sich Literaturwissenschaftler Wolfgang Matz durchaus vorstellen, dass Frank B. Wildersons Schrift "Afropessimismus" (Bestellen) irgendwann zwischen Frantz Fanon und Eldridge Cleaver im Bücherregal stehen wird. Aber für eine kanonische Befriedung ist diese Mischung aus autobiografischer Erzählung, politischem Traktat, philosophischer Theorie noch zu wild, zu kompromisslos, zu herausfordernd, schreibt er. Denn Wilderson zufolge schließt der westliche Begriff des "Menschen" den "Schwarzen" grundsätzlich aus, der immer der Andere bleibe. Für Matz ist dieser Text Zumutung und Herausforderung zugleich. In den USA hat das Buch natürlich Furore gemacht, aber auch Kritiker auf den Plan gerufen, zum Beispiel Jesse McCarthy in seiner Besprechung des Buchs in der LA Review of Books: "Die Plantage ist überall und immer", seufzt McCarthy, der das als Einebnung jeder historischen Realität kritisiert. Dankbar haben taz und Jungle World auch Walter Benn Michaels' im Original bereits vor 15 Jahren erschienene Streitschrift "Der Trubel um Diversität" (Bestellen) aufgenommen. Der marxistisch geschulte Literaturwissenschaftler brandmarkt darin die Identitätspolitik und Diversity-Programme als neoliberales Ablenkungsmanöver, das nicht nur die Kluft zwischen Schwarz und Weiß vergrößere, sondern vor allem die Bindungskräfte zwischen reichen und armen Weißen vergrößere, schreibt Till Randolf Amelung in der Jungle World. Diversitätsförderung dagegen wird von kapitalistischen Unternehmen geliebt: Die Kosten verschmerzbar, der moralische Marktwert sehr hoch, wie Eva Berger in der taz resümiert. Nachdrücklich empfohlen wurde auch Aladin El-Mafaalanis "Wozu Rassismus?" (Bestellen), das klug - und zuversichtlich - die gesellschaftlichen Mechanismen und Funktionen von Unterdrückung und Diskriminierung untersucht.

Cover: UnbehagenCover: Die Grenzen der VerwaltungAuf Armin Nassehis Buch "Unbehagen" (Bestellen) haben wir bereits in unserem Bücherbrief im September hingewiesen. Der Soziologe erklärt darin, dass die Gesellschaft als Kollektiv keine Probleme mehr lösen könne, weil sie längst in einzelne Systeme mit eigenen Logiken aufgegliedert sei. De Pandemie hat es vor Augen geführt. Die Analyse finden die RezensentInnen von taz bis Zeit durchgängig einleuchtend, unterschiedlich bewerten sie allerdings Nassehis Lösungsansätze. Und apropos Systemtheorie: In der FAZ kann Julian Müller sowohl ihren Anhängern wie ihren Gegnern Niklas Luhmanns erstmals publizierte Schrift "Die Grenzen der Verwaltung" (Bestellen) empfehlen, die eine "präzise Ethnografie" des bürokratischen Alltags liefere und erklärt, dass für manche Probleme die Anonymität der Verwaltung durchaus eine Lösung sein kann.


Politik

Kein Thema, nicht mal der Klimawandel, prägte die Welt in den letzten zwei Jahren so sehr wie die Coronakrise. Es sind erste Bücher darüber erschienen, die die Krise international oder auch nur im Kontext deutscher Politik resümieren.

CoverDas interessanteste mag Adam Toozes "Welt im Lockdown - Die globale Krise und ihre Folgen" (bestellen) sein. Der New Yorker Wirtschaftshistoriker setzt mit seiner Gegenwartsanalyse zur Corona-Pandemie Maßstäbe für das Nachdenken über den Stand der Dinge, schreibt Tobias Straumann in der NZZ. Eine dreifache politische Krise konstatiere Tooze: eine ökologische Krise, eine Krise der Institutionen, die erst sehr schwerfällig, dann mit gewaltigen Summen intervenierten, und schließlich eine Krise der Weltordnung, da China mehr oder weniger unversehrt das Jahr 2020 überstanden habe. Auch der unermüdliche Herfried Münkler empfiehlt das Buch in der FAZ.

Cover: CoronabilanzCoverAuffällig ist, dass in Deutschland bei Corona vor allem über "Freiheit" diskutiert wird, ein Thema, das die deutsche Öffentlichkeit eigentlich sonst nicht so interessiert (wer hat hier etwa ein Problem, wenn VW Geschäfte mit China macht?). Über Freiheit schreiben denn auch zwei Verfassungsrechtler. Udo Di Fabio mit "Coronabilanz - Lehrstunde der Demokratie" (bestellen) und Hans-Jürgen Papier mit "Freiheit in Gefahr - Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können" (bestellen). Die beiden beziehen laut René Schlott konträre Positionen. Für Di Fabio steht mit der deutschen Demokratie alles zum besten, während Papier warnt. Vorsichtige Verwandte legen beide Bücher auf den Gabentisch.

CoverZu den weiteren politischen Neuerscheinungen, die zur Kenntnis genommen werden sollten, gehört Martin Steinhagens "Rechter Terror" (bestellen). So groß der Alarmismus gewisser linker Kreise über  die "Rechten" ist, so groß ist oft die Unkenntnis über die tatsächlichen rechtsextremen Milieus. Zehn Jahre ist es her, dass die Verbrechen der Terrorgruppe NSU ans Licht kamen, die eine eklatante Ignoranz der Behörden, aber auch der Medien an den Tag brachten. Um so nützlicher sollte da die Lektüre Steinhagens sein, der am Fall Walter Lübcke laut Rezensenten einen präzisen Blick auf die Täter, ihre Szenerie und ihr Herkommen wirft. Steinhagen zeigt laut Rezensenten im übrigen, wie bestimmte Diskurse extremer Rechte bis in die Mitte der Gesellschaft Widerhall finden.

CoverAuch bei politischen Büchern scheint der Blick über die Landesgrenze hinweg selten geworden zu sein. Immerhin: Maurus Reinkowskis "Geschichte der Türkei" (bestellen) von Atatürk bis zur Gegenwart half den Kritikern nach einhelligem Bekunden ein Land besser zu verstehen, das uns in politischer und sozialer Hinsicht doch recht nahe steht. Einfach brillant findet FAZ-Rezensent Stefan Plaggenborg, wie der Islamwissenschaftler Reinkowski den Unterschied zwischen säkularer und religiöser Türkei herausarbeitet, Atatürks Reformen und ihre Ambivalenzen einordnet und die politische Gemengelage nach 1960 dem Leser verständlich macht. Auch Susanne Güsten empfiehlt das Buch im Deutschlandfunk und lobt Reinkowski als profunden Kenner der türkischen Geschichte, der sich jedoch nicht in Details verliere, sondern Ereignisse und Entwicklungen in ihrer politischen Logik darstelle. Ingo Arend (dlf kultur) hätte sich nur ein zusätzliches Kapitel zur Kulturgeschichte des Landes gewünscht.

CoverCover: SortiermaschinenZu erwähnen ist auch George Packers viel besprochener Band "Die letzte beste Hoffnung - Zum Zustand der Vereinigten Staaten" (bestellen), eine journalistisch-essayistische Analyse der gegenwärtigen politschen Malaise in Amerika, die überallhin so starke Auswirkungen hat. Die Kritiker sind zwar zwiespältig, aber die Fragen, die Packer stellt und versucht zu beantworten, sind wichtig, betont Claus Leggewie in der SZ: Ihm leuchtet ein, wie der amerikanische Journalist die Demontage des amerikanischen Staates und der Zivilgesellschaft durch die Republikaner beschreibt, aber auch die Polarisierung des Landes durch die linke Identitätspolitik, die bisher zu keinen Verbesserungen, sondern nur zur "Verschärfung der politischen Tribalisierung" geführt habe. Wichtige Neuerscheinungen ist im übrigen auch Steffen Maus' "Sortiermaschinen - Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert" (bestellen), eine Phänomenologie der Grenzen, die im Zeitalter smarter Technologien immer mehr ins Innere der Länder verlegt werden, und Peter Pilz' offenbar auch sehr unterhaltsam zu lesendes Buch "Kurz - Ein Regime", zum stets viel dramolettfähigeren Nachbarn Österreich.