Marlene Streeruwitz

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Roman
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S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006
ISBN 9783100744326
Gebunden, 476 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Selma (49) ist zu ihrem Vater zurückgezogen. Die Wohnung riecht wie in der Kindheit, von der Mutter sind aber nur noch die Blumen da. Aus dieser Welt von vorgestern bricht Selma auf, um es noch einmal zu versuchen. Jeder Schritt führt in immer neuere und stärkere Sinneseindrücke. In einer solchen Verlorenheit ist das Fremde erträglicher als das Bekannte. Marlene Streeruwitz hat eine heutige Odyssee geschrieben und ihr Projekt des Subjekts im Neoliberalen weitergedacht. In einem virtuos komponierten Kaleidoskop in 31 Abschnitten beleuchtet der Text jeden Augenblick des Abenteuers der Heldin. Die Sprache zeichnet die scharfen Umrisse der Suchenden gegen die Welt, die sie zu verschlingen droht.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 28.09.2006

"Was für ein zäher Text, was für ein quälender Handlungslauf!", stöhnt Rezensent Eberhard Falcke und schreibt der Protagonistin dieses Romans einen langen Brief, in dem er ihr sein Mitgefühl ausspricht, ausgerechnet "Diskursdomina" Streeruwitz in die Hände gefallen zu sein. Denn allzu vorsätzlich habe die Autorin ihre Heldin Selma, eine verlassene Ehefrau aus besseren Kreisen, "auf den Knien ihres Selbstbewusstseins" durch den Roman rutschen lassen. Zu kalkuliert blase sie jede Kleinigkeit zur "verletzenden Anstößigkeit" auf. Trotz "sehr gescheiter, ätzender Durchblicksgedanken" fehlt der Figur aus seiner Sicht jede "gedankliche Spielfreiheit". Denn die Autorin hat sie, so sieht Francke das, rein zu Demonstrationszwecken "platt gemacht": um an ihrem, noch nicht mal besonders originellen Schicksal, ihren "sadomasomäßigen Kapitulationsfeminismus durchzuziehen". Überraschend ist in diesem Kontext dann das Lob, dass der Rezensent plötzlich der spezifisch Streeruwitzschen Sprache zollt: das habe was, sagt er, und lässt sich zu einem "küss die Hand, gnä Frau!" hinreißen. Wahrscheinlich um die "Diskursdomina" mit männlicher Herablassung abzustrafen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 30.08.2006

Ina Hartwig ist vom jüngsten Roman von Marlene Streeruwitz begeistert. Literarisch dem Nouveau Roman nahe stehend, dürfe man die Geschichte der Job und Ehemann gleichermaßen verlustig gegangenen Selma keinesfalls als pure feministische Klage lesen, betont die Rezensentin. Die frisch gefeuerte Chefdramaturgin reist in der Hoffnung auf eine neue Aufgabe nach London, gerät in die Bombenattentate vom Juli 2005 und irrt verwirrt durch die Stadt, erklärt Hartwig, die Selmas Beobachtungen ihrer Umgebung und ihrer selbst trotz der extremen Kleinteiligkeit und Akribie erstaunlich fesselnd findet. Die Rezensentin preist das Geschick der österreichischen Autorin, mit dem sie den politischen Hintergrund in ihren Roman einarbeitet, ohne auf billige Effekte zu zielen. Am Ende hat sich die Heldin gewandelt, vielleicht winkt sogar "Erlösung", spekuliert Hartwig, die angesichts der Virtuosität, mit der dieser Roman konstruiert sei, geradezu ins Schwärmen gerät.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 21.08.2006

Man merkt Burkhard Müller die Mühe an, die er mit Marlene Streeruwitz' neuem Roman "Entfernung" gehabt hat, und er findet ihn nicht nur in literarischer, sondern auch in moralischer Hinsicht unbefriedigend. Es geht um die 49-jährige Selma, die gleichzeitig ihren Job als Festspiel-Organisatorin und ihren Mann verliert, der sie für eine Jüngere verlässt. Selma reist nach London, um sich freiberuflich zu etablieren, was allerdings erwartungsgemäß nicht gelingt. Wie es sich für Streeruwitz gehört, gleicht sich der Satzbau dem Charakter der Protagonistin an, was aber in diesem Fall besonders quälend sei, weil Selma über die Spritzigkeit eines in Kälteschock gefallenen Reptils verfüge und zudem unentwegt als Opfer von gesellschaftlichen Verhältnissen und ungünstigen Umständen stilisiert werde. Hier setzt auch Müllers Kritik an der moralischen Aussage der Geschichte an, denn er findet, dass die Protagonistin schlicht nicht die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen bereit ist. Und so hat sie alles, was ihr zustößt, auch "redlich verdient", wie Müller ohne jede Sympathie urteilt.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 29.07.2006

Rezensent Jörg Magenau hat einiges Verständnis für das Projekt der Autorin, den Alltag von Frauen literaturfähig zu machen und gibt sich viel Mühe, Plot und Heldin unparteiisch vorzustellen und zu erläutern: Eine unglückliche Wiener Dramaturgin, der von ihrem Ex, einem Intendanten, gekündigt wurde, weil der lieber mit einer Jüngeren zusammenarbeiten will. Jene Selma zieht Magenau zufolge nun nach London und auch die "peinigend minutiös" beschriebene Reise macht er noch tapfer mit. Aber irgendwann muss es dann heraus: diese Prosa "ist ein Schlachtfeld", stöhnt er, und setzt aus seiner Sicht außerdem "die Innerlichkeits-Frauenliteratur der Siebziger Jahre mit anderen sprachlichen Mitteln fort". Der Zerstörung des weiblichen Ich entspreche bei Marlene Streeruwitz die Fragmentierung der Syntax. Doch über 470 Seiten weitgehend verbfrei Gehacktes hält selbst der stärkste Rezensent nicht aus, der außerdem auch inhaltliche Einwände gegen diesen, für ihn "längst zu einer leer laufenden Manie" gewordenen Stil hat. Im Übrigen ist aus Magenaus Sicht bei aller Extravaganz auch Streeruwitz nicht davor gefeit, "in schrecklichlichen Kitsch abzugleiten".