Karl Schlögel

Im Raume lesen wir die Zeit

Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik
Cover: Im Raume lesen wir die Zeit
Carl Hanser Verlag, München 2003
ISBN 9783446203815
Gebunden, 567 Seiten, 25,90 EUR

Klappentext

Was sagt uns der Grundriss einer amerikanischen Stadt über den amerikanischen Traum? Wie haben Eisenbahn, Auto und Flugzeug unseren Sinn für Distanzen verändert? Auf solche Fragen geben herkömmliche Geschichtsbücher keine Antwort. Karl Schlögel findet sie an überraschenden Stellen: in Fahrplänen und Adressbüchern, auf Landkarten und Grundrissen. Er holt damit die Geschichte an ihre Schauplätze zurück, macht sie anschaulich, lebendig und wunderbar lesbar.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 20.10.2003

Rezensent Niels Werber zeigt sich, einigen kritischen Anmerkungen zum Trotz, im Großen und Ganzen zufrieden mit Karl Schlögels Buch über "Zivilisationsgeschichte und Geopolitik". Schlögel suche zu zeigen, dass Geschichte immer in einem spezifischen Raum spiele, dessen jeweilige Kontur an ihr mitschreibe. Gegen die Diskurse vom "Ende der Geschichte" und vom "Verschwinden des Raums" setze Schlögel eine "raumbewusste Historiografie", die, so Werber, "im Nacheinander geschichtlicher Sequenzen wie im Nebeneinander ihrer 'Schauplätze' gleichermaßen zu Hause ist". Ein Konzept, gegen das Werber nichts einzuwenden hat, auch wenn er es für "nicht gerade neu" hält. Wie er berichtet, besteht das Buch aus etwa 50 "kurzen, essayistischen" Texten, etwa über Humboldts Forschungsreise, den Fall der Mauer, den 11. September, das Bild eines Kartenzeichners von Vermeer, das Ghetto von Kowno und das Tor von Birkenau, Marx' Analyse des Weltverkehrs, amerikanische Autobahnen, Jeffersons Karte von Nord-Amerika und so weiter. Zwar sind die Essays zum Bedauern Werbers nicht immer frei von Widersprüche und Redundanzen. Doch sie entschädigen durch ihre "dichte Beschreibung" eines historischen Raums - für Werber die "eigentliche Stärke" des Buches. "Interessant" findet er Schlögels Studien Aber auch wegen ihrer Aufmerksamkeit für "die Gleichzeitigkeit der Erscheinungen vor Ort". Mit Geopolitik habe dies allerdings nur zufällig zu tun.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.10.2003

Jürgen Osterhammel ist im positiven Sinne erschüttert: "Schon lange ist den Historikern nicht mehr eine solch ernste Bußpredigt gehalten worden." Dabei trete Karl Schlögel nicht etwa als Richter und Streiter auf, sondern leiste, die "fahle Landschaft des geistlosen Lemurentums" links liegen lassend, etwas viel Gewichtigeres: Er zeigt, so Osterhammel, wie es besser geht, und tritt ein für eine "neue Haltung zu den Dingen, die sie als Dinge ernst nimmt, sie nicht als Fiktionen und Konstruktionen wegredet und sie nicht in Theoriemaschinen pulverisiert", eine Haltung, die vom Leben ausgeht und mit der es gelingen soll, "eine Geschichte Europas zu denken", die dieses historische Gebilde als "Schauplatz" betrachtet. Schlögel wolle den "Sinn für Schauplätze" wieder erwecken und zu einer neuen Vorstellung von "Raum" gelangen, jenseits von alter Geopolitik, die Raum nur in großen Einheiten betrachtete, und neumodischer Theorie, die Raum nur mehr im Diskurs vorfinde. Zu diesem Zweck, berichtet Osterhammel atemlos, schlägt Schlögel sogar die "literarische Kapriole", Herodot ins Moskau des Jahres 1937 und Benjamin in das Los Angeles der Vierziger zu versetzen - und landet sicher auf beiden Beinen. "Im Raume lesen wir die Zeit" ist nicht frei von Widersprüchen, resümiert Osterhammel, aber es "ist das Buch eines Autors, der seine Nase gleichermaßen in den Wind der Weltgeschichte, in alte Bibliothekskataloge und in die Affären aller möglicher nicht mehr lebender Personen zu stecken versteht. (...) Man kann sich von ihm belehren und unterhalten lassen, man sollte sich, die Historiker voran, selbstzweiflerisch ergreifen lassen." Dieses Buch, so der Rezensent, "glüht von innen".

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 07.10.2003

"Entzückt" ist Micha Brumlik von Karl Schlögels Zusammenstellung loser und indirekt verbundener "Essays und Vignetten", in denen der Osteuropa-Historiker eine "stark subjektiv" gefärbte Soziologie und Hermeneutik des Raumes vorstellt. Die fehlende Grundsystematik hat System: Schlögel möchte, weiß der Rezensent, die hermeneutische Richtung der Sozial- und Geschichtswissenschaften wiederbeleben und dabei die unmittelbare Anschauung als Erkenntnismethode stärken. Natürlich gelingt ihm das nicht, notiert Brumlik, aber Schlögels systematisches Scheitern könne "freilich den Reichtum und auch die Genauigkeit des Buches nicht schmälern". Der Autor betreibe eine "pointillistische" Geschichtswissenschaft auf hohem Niveau, jede der Einzelstudien sei für sich prägnant, lesenswert und aufschlussreich.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 06.10.2003

Mit diesem "essayistischen, erzählerischen und vielseitig zugänglichen" Werk, so der eingenommene Rezensent Ulrich Raulff, hat Karl Schlögel das "Traktat seiner Methode" vorgelegt. Der sonst so freundliche Schlögel, soviel schickt der Rezensent vorweg, hasst eines: das "Geraschel der Begriffe und Diskurse, das sich für die Wirklichkeit ausgibt". Dafür liebe er geradezu Forscher mit Appetit, wie seine "Helden" Humboldt und Herodot. In diesem Buch gehe es Schlögel im Grunde "um einen einzigen Gedanken", nämlich dass unser "Nachdenken über die Welt", und insbesondere das geschichtliche Denken, die Kategorie des Raumes vernachlässigt und sich ausschließlich der zeitlichen Dimension verpflichtet, was eine Art "Ortlosigkeit" zur Folge habe. Um diesen Gedanken, so Raulff, spinnen sich zwei Geschichten: eine "Verfallsgeschichte" - die von der "Welt als Fabel" handelt, was laut Schlögel dem Historismus und dem schnellen Denken zu verdanken ist - und eine "Hoffnungsgeschichte", die die jüngste "Wiederkehr des Raumes in vielfältiger Gestalt" begrüßt. Schlögel, der "umständliche Denker", der als "Flaneur" die Dinge "andächtig umkreist, betrachtet und belauscht", fordere im Grunde nichts anderes als eine "neue Beschreibungskunst". Am Besten gefällt er dem Rezensenten, "wenn er wirkliche Orte und Repräsentationen von Orten beschreibt". Und da Raulff so große Stücke auf ihn hält, schmerzt es ihn umso mehr, dass einige großen Theoretiker keine Erwähnung finden, allen voran Carl Schmitt und seine "Nomos-Theorie". Trotzdem sei, gerade in Hinblick auf die Kunsttheorie, noch viel von Karl Schlögel zu erwarten.
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