Jan Faktor

Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag

Roman
Cover: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2010
ISBN 9783462041880
Gebunden, 637 Seiten, 24,95 EUR

Klappentext

Das sozialistische Prag hat in den Jahren von Georgs Jugend seinen Glanz verloren. In einer Stadt voller gewalttätiger Müllmänner, 50-ccm-Motorradcowboys, sexbesessener Fremdgänger und vieler anderer unsozialistischer Elemente nutzt Georg alle sich bietenden Freiräume, um auszubrechen: Er experimentiert mit hochexplosiven Substanzen, verbringt die Nachmittage mit wilden Jugendcliquen und findet im Kreis der Familie schließlich auch eine Geliebte. In einer Gesellschaft, die von den Rändern her vergammelt und sich von innen auflöst, bekommt das Körperliche eine befreiend-subversive Bedeutung. Georg mobilisiert alle Kräfte, um neben der Mutter auch dem stickig-klebrigen Vaterhaushalt zu entkommen, in dem er seine verhassten Wochenenden verbringen muss.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 18.03.2010

Insa Wilke stellt eine gesteigerte Fabulierlust männlicher Autoren vom "postsozialistischen Standpunkt" aus fest, wundert sich kurz über die "pikierte" Kritikerablehnung von Charlotte Roches "Feuchtgebiete" bei gleichzeitiger Bejubelung des vorliegenden Romans als "subversiven Coup gegen die eigene Geschmackspolitik" und wendet sich schließlich Jan Faktors Buch selbst zu. Trotz seiner keineswegs politisch korrekt denkenden Hauptfigur, einer "Lustigkeit", die nach kürzester Zeit Aggressionen schürt und dem hemmungslosen Herumwühlen in unappetitlichen Details gelingt es dem autobiografisch grundierten Roman, die Rezensentin zu begeistern, wie sie eingesteht. Denn mit seinem an Henry Miller und Grimmelshausen erinnerndem satirischen Roman fasst Faktor das beredte Schweigen über die Vergangenheit vor 1945, den "gesellschaftlichen Sumpf" und den tristen sozialistischen Alltag in Sprache und spiegelt damit auch ein Stück Gegenwart, wie Wilke lobt.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.03.2010

Jan Faktors tieftrauriges Buch hat Burkhard Müller glücklich gemacht. Dabei versteckt sich das schier unglaubliche Unglück, das hier versammelt ist, hinter ausufernder Komik, wie der Rezensent feststellt. Hauptfigur ist Georg, der in der Tschechoslowakei in den 50er bis 70er Jahren fast ausschließlich unter Frauen, die den Holocaust überlebt haben, aufwächst und der eine obsessive Beziehung zu Müll hat, wie der Rezensent zusammenfasst. Nicht nur bei der Schilderung erster sexueller Erfahrungen mit einer älteren Verwandten, auch bei der intensiven Darstellung allerlei Fäulnis- Verdreckungs- und Schimmelprozesse werden Ekelgrenzen unbekümmert überschritten, so Müller. Faktor gelingt mit diesem Buch, das zwar als Roman verkauft wird, aber laut Rezensent "höchstpersönliche Erfahrungen" des Autors verarbeite, eine überaus eindrückliche "Kultur-, Sozial- und Sittengeschichte" des Nachbarlandes. Und das "Glück", das der Rezensent bei der Lektüre empfindet, meint er auch dem mit diesem Buch für den Leipziger Buchpreis nominierten Autor unterstellen zu können, dem mit der Niederschrift die unglücklichen Erfahrungen zur "Erlösung" durchs Erzählen werden, wie Müller überzeugt betont.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 18.03.2010

Der Protagonist Georg geistert schon seit einigen Jahren durch das Werk des in Berlin lebenden Tschechen Jan Faktor, teilt Jörg Magenau in seiner ausführlichen Rezension mit. In dem vorliegenden Roman, der, wie es der Titel schon andeutet, in die Vergangenheit hinabsteigt, übernimmt Georg auch die Funktion des jugendlichen Alter Ego von Faktor. Die rückwärts gewandte Sorge erklärt sich aus dem "unerschütterlichen Glauben an eine helle Zukunft", mit dem der sich erinnernde Erzähler seit seinen Kindertagen ausgestattet ist. Georg wächst in Prag in symbiotischen Verhältnissen inmitten einer illustren Gesellschaft von Frauen heran, deren Biografien von Krieg und Holocaust gezeichnet sind. Als Jugendlicher dreht sich seine "Zentralsorge um den eigenen Penis", was einerseits alterstypisch, andererseits aber auch als Ausdruck "eines von Staat und Ideologie nicht kontrollierbaren Freiraums" zu lesen ist, so der Rezensent. Georg begegnet der Sexualität wie allen anderen Erscheinungen in seinem Umfeld: Aus dem Blickwinkel des Ingenieurs, der unablässig damit zu tun hat, "die Umwelt in der Phantasie zu reparieren", zitiert Magenau.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 18.03.2010

Dies sei nicht nur ein "autobiografisches Opus magnum", sondern als Fiktion auch ein "beträchtliches Stück Literatur", schreibt Ursula März begeistert über diesen Roman, in dem der seit 1978 in Deutschland beziehungsweise der DDR lebende Jan Faktor noch einmal in sein erstes Leben in der Tschechoslowakei zurückgekehrt sei. Der Beobachtungszeitraum sei die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die "Frostepoche" der 70er Jahre. Der Protagonist Georg habe bereits in früheren Faktor-Texten als Alter-Ego des Autors eine Rolle gespielt. Eine Figur aus dem "Geist des Absurden und Skurrilen" lesen wir, ein "Nachkömmling Hrabalscher Figuren". Trotz seines autobiografischen Ansatzes sei der Roman nicht chronologisch, sondern bewege sich "in konzentrischen Kreisen" um sein "stupendes Figurenensemble", entstehe der Glanz dieses Textes gerade durch seine mäandernde Form, weshalb sich die 600 Seiten so "leicht und amüsant" weglesen würden, dass man fast übersehe, wie ernst es diesem Autor in seinem "politischen Antiroman" mit dem angewandten geschichtsphilosophischen Protest des Schelmenprinzips sei.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.03.2010

Angst vor Leerlauf, das merkt Felicitas von Lovenberg rasch, muss sie bei diesem Autor und seinem immerhin 636 Seiten starken Coming-of-Age-Roman nicht haben. Voll weiser Komik und nicht ausgesteller, sondern, wie die Rezensentin betont, durchschimmernder Empfindsamkeit, hat die Geschichte des zwischen lauter jüdischen Tanten und Großmüttern im großbürgerlichen Prag der 60er Jahre aufwachsenden Georg für Lovenberg Anspruch auf den Titel "übermütigster Roman dieses Frühjahrs". Aber auch die autobiografisch ausgerichtete Psychoanalyse betreibt Jan Faktor laut Lovenberg im Stil höherer Fabulierkunst. Der Anekdote und der fröhlichen Enthemmtheit frönt Faktor, so hören wir aufmerksam, reichlich und mit Genuss. Gar eine Poetik der Indezenz, ein gesteigertes Interesse an "Nippeln, Hügeln und Spalten" attestiert ihm die Rezensentin, nicht ohne selbst dabei außer Atem zu kommen.
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