Hans Christian Andersen

Ja, ich bin ein seltsames Wesen...

Tagebücher 1825 bis 1875. Zwei Bände
Cover: Ja, ich bin ein seltsames Wesen...
Wallstein Verlag, Göttingen 2000
ISBN 9783892444015
Gebunden, 800 Seiten, 65,45 EUR

Klappentext

Ausgewählt, herausgegeben und übersetzt von Gisela Perlet. Rund 4.500 Seiten Tagebuch hat der dänische Dichter Hans Christian Andersen der Nachwelt hinterlassen, geschrieben während des halben Jahrhunderts zwischen 1825 und 1875. Eine Veröffentlichung hatte er selbst nicht beabsichtigt, obwohl er eine Vielzahl seiner Eintragungen, die bis etwa 1860 auf Reisen und zu besonderen Anlässen, später fortlaufen entstanden, auch als Material für Reisebücher, Romane, Märchen und Briefe nutzte. Er ist ein sensibler und genauer Beobachter der bereisten Länder und der ihm begegnenden Zeitgenossen, darunter Fürten und Könige, Künstler wie Tieck, Chamisso, Liszt, Mendelssohn-Bartholdy, Balzac, Heine, Dickens, Rossini und Reuter.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 17.03.2001

Hansjörg Graf ist begeistert. Hans Christian Andersens Märchen hat er gerne gelesen. Nun auch zu wissen, wer sich hinter diesen Märchen verbirgt, wie sie entstanden sind und wie Andersen zu Weltruhm gelangte - das könnte keine Biografie oder Autobiografie besser vermitteln als die repräsentative Auswahl seiner Tagebücher, lobt der Rezensent. 4500 Seiten hat Gisela Perlet ausgewertet und "vorbildlich" ediert, so Graf. Vergleicht man Andersens Märchen mit seinen Selbstzeugnissen, so könnte man der Versuchung erliegen, hier finde eine Zerstörung der Mythen statt. Denn die realistischen Aufzeichnungen stehen im Widerspruch zu den romantischen Erzählungen. Von Komplexen des Autors ist hier die Rede, von einem, der gezeichnet war von Hypochondrien und Hysterien, berichtet der Rezensent. Die Tagebücher geben aber nicht nur Einblick in das Psychogramm des Autors, sondern sind gleichzeitig ein Reisejournal. 29 Auslandsreisen innerhalb Europas und nach Kleinasien unternahm der Erzähler, stets gehetzt und auf der Jagd nach Prominenten wie Jacob Grimm oder Bettina von Arnim, mit denen er sich gern umgab, auch wenn dieser Wunsch nicht immer auf Gegenseitigkeit beruhte, informiert Graf. Die Tagebücher in Perlets "kongenialer Übersetzung" hält er nicht nur für die "radikalste Fassung aller Lebenszeugnisse" des Dänen, sondern auch für eine wichtige Ergänzung für die Lektüre von Andersens Märchen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 01.02.2001

Die allerletzten Geheimnisse aus der Dichterwerkstatt offenbaren die Tagebücher Andersens erwartungsgemäß nicht, aber der Rezensent Guido Graf findet in ihnen den "Kinderblick, die verwunderte wie verwundete Perspektive" wieder, die auch charakteristisch für viele Geschichten Andersens sei. Ansatzpunkt für eine Revision der deutschen Forschung zu Andersens Märchen und Geschichten bieten die Tagebücher aber nach Graf allemal: Sie lassen das Bild eines einsamen, zerrissenen Mensch auf der Suche nach Anerkennung entstehen. Ausdrücklich hebt der Rezensent das Verdienst von Gisela Perlet hervor, die die vorliegende Auswahl getroffen, übersetzt und mit "klugen und hilfreichen Stellenkommentaren" sowie mit einem "sorgfältigen Personenregister" versehen hat. Wenn es also auch nicht die letzten Geheimnisse sind, die der Leser über Andersen Dichtung erfährt, so erfährt er viel Aufschlussreiches über den Märchendichter, verspricht der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.12.2000

Ludwig Harig hat die Tagebücher dieses "ruhelosen Zeitgenossen" gelesen. Für ihn sind sie weder Arbeitsjournal, noch Werkstattbericht oder Reportagen. Er bezeichnet sie vielmehr als "Ansätze, manchmal nur Entwürfe, in einigen Fällen konkret gewordene Wünsche von künftigen Erzählungen". Wie gesagt: alles verwoben. Und das so meisterhaft, "hellsichtig", zerrissen und modern. Man merkt Harig seine Begeisterung für Andersens sprachliche Fähigkeiten und Fantasien deutlich an - und das ist schön!

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 09.09.2000

Sehr psychoanalytisch ist die Herangehensweise des Rezensenten Michael Rutschky an die Tagebücher von Hans Christian Andersen, die eine Zeitspanne von 50 Jahren abdecken. Sie beginnen mit Erinnerungen an qualvolle Schulzeiten und enden mit seinem vom Pfleger dokumentierten Tod. Aus einer recht persönlichen Perspektive - so beschreibt er, welche Gefühle Andersens Märchen bei ihm hervorgerufen haben - versucht Rutschky die Tagebuchaufzeichnungen Andersens mit seinen Märchen in Verbindung zu setzen. Dabei kommt er zu einem überraschenden Ergebnis, denn nach Rutschky verraten Andersens Märchen viel mehr über dessen Innenleben aus als die Tagebücher: "Man darf also die Märchen Hans Christian Andersens als Klartext eines gequälten Lebens lesen, das von den Tagebüchern bis zur Unkenntlichkeit normalisiert wird". Rutschky interpretiert Andersens Aufzeichnungen als einen Versuch der "Vermeidung jedweden Geständnisses", die dem Verfasser (also Andersen selbst) "ein rundum alltägliches Leben vorspiegeln" sollen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 29.07.2000

In einer Sammelrezension bespricht Hanns Grössel die folgenden vier Bücher von und über Hans Christian Andersen: "Ja, ich bin ein seltsames Wesen, Tagebücher von Hans Christian Andersen", hrsg. von Gisela Perlet, "Märchen, Geschichten, Briefe von H.C.Andersen" hrsg. von Johan de Mylius ,"Reise nach Dresden und in die Sächsische Schweiz" von H.C.Andersen, "Hans Christian Andersen in Berlin" von Heinz Barüske.
1) H.C. Andersen: "Ja, ich bin ein seltsames Wesen". Tagebücher.
Sehr ausführlich beschäftigt sich der Rezensent in seinem ausführlichen Aufsatz mit dem Tagebuchschreiber und Autobiografen H.C.Andersen, mit der Mischung aus "Selbstausstellung und Selbstverhüllung", die ihn auszeichnete. Der Schwerpunkt dieser von G. Perlet besorgten Auswahl liegt auf den Reisetagebüchern, und das, so der Rezensent, entspricht der Bedeutung des Reisens für den dänischen Schriftsteller. Immerhin neun Jahre hat er zusammengerechnet auf Reisen außerhalb seines Landes verbracht, und was ihm in der Fremde begegnete, hat ihn zu genauem Hinsehen erzogen. Auch sein "Innenleben" hat Andersen "mit hypochondrischer Wachsamkeit" beobachtet, notiert Grössel, vor allem Stimmungsschwankungen, Träume und Zustände der "Brunst" sind in seinen Tagebüchern penibel verzeichnet. In Sachen Sexualität scheint sich zu bestätigen, was allgemein vermutet wird: dass Andersen latent homosexuell war und weder mit Frauen noch mit Männern je schlief. Andersens Tagebuch ist kein Arbeitsjournal, nach Diskussionen literarischer Projekte sucht man also vergebens, schreibt Grössel, "doch werden die Eckpunkte des Rahmens, in dem sein Schreiben sich bewegt, deutlich erkennbar."
2) "Märchen, Geschichten, Briefe von Hans Christian Andersen".
Durch seine Auswahl hat der Leiter des H.C.Andersen-Centrums der Universität Odense den Schriftsteller als einen präsentiert, dessen "Werk in der dänischen Literatur die Brücke zwischen Romantik und Moderne" schlägt, zitiert Grössel den Herausgeber. Andersen war tatsächlich ständig an Neuerungen interessiert, reiste 1840 das erste Mal mit der Eisenbahn und besuchte die Pariser Weltausstellung. Sein jugendlich romantisches Eintreten für eine "vernünftige Freiheit" streicht er in späteren Werkausgaben, wie Mylius bemerkt, und sah darauf, dass er seiner Karriere nicht schadete. Mit welchem besonderen Gewinn die ausgewählten Märchen und Geschichten gerade dieser Ausgabe vielleicht gelesen werden könnten, darüber gibt der Rezensent leider keine Auskunft.
3) H. C. Andersen: "Reise von Leipzig nach Dresden und in die Sächsische Schweiz"
"Deutschland war das Ziel seiner ersten Auslandsreise", schreibt Grössel, und in erster Linie war dies ein kühl kalkulierter Schritt, sich nämlich mit namhaften deutschen Schriftstellern und Verlegern bekannt zu machen. Auf die Weise kam er auch nach Dresden, wo er Ludwig Tieck besuchte. Seine Reisebeschreibung, die ursprünglich u.a. auch Schilderungen aus dem Harz enthielt, sind hier in "kastrierter" Form vorgelegt; in einem Akt der Selbstzensur strich Andersen kritische Passagen, die in der dänischen Erstausgabe noch vorhanden waren, schreibt Grössel. Die Kenntnis darüber, welche Art von Reflexionen und Schilderungen in diesem Text enthalten sind, setzt der Rezensent gewissermaßen voraus.
4) Heinz Barüske: "Hans Christian Andersen in Berlin"
Der Autor hat die erste Reise H.C. Andersens nach Berlin, auf der er Adelbert von Chamisso besuchte, sowie auch spätere Aufenthalte in der Stadt hier nachgezeichnet, schreibt Grössel. Viel mehr erfährt der Leser nicht über die Besuche des dänischen Märchendichters in Berlin - auch nicht, ob der Autor sich auf spannende Weise oder eher akademisch-trocken seiner Aufgabe entledigt hat. Grössel betont vor allem den Aspekt der Karriere: da Chamisso, der Dänisch konnte, einige Texte von Andersen nach dessen Besuch schnell übersetzt und publiziert hat, trug Andersens Besuch in Berlin ganz entschieden zum Beginn seiner Weltkarriere bei.
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