Burkhardt Wolf

Die Sorge des Souveräns

Eine Diskursgeschichte des Opfers. Überarb. Diss.
Cover: Die Sorge des Souveräns
Diaphanes Verlag, Zürich - Berlin 2005
ISBN 9783935300681
Broschiert, 464 Seiten, 39,90 EUR

Klappentext

Worum geht es, wenn auf der Bühne der Politik, in den Tabellen der Sozialstatistik oder in den Texten der Ethnologie von "Opfern" die Rede ist? Ist die begriffliche Übereinstimmung bloß zufällig - oder verbirgt sich mehr dahinter? Die Studie zeigt, wie das Opfer (das Opferritual, der Verzicht, das Geopferte) in der Frühneuzeit aus dem Bereich des religiösen Rituals nach und nach in den Bereich von Politik und Gesellschaft Eingang fand und dort seither zu einer prominenten Denkfigur, ebenso aber auch zu einem ganz konkreten verwaltungstechnischen Problem wurde. Das Opfer wird zum Gegenstand einer unablässigen Sorge, die der - sei es autoritäre, sei es demokratische - Souverän um die Verfassung seiner selbst trägt. Gezeigt wird, inwiefern die Opfer als Ausdruck gesellschaftlicher Konstitutionsprobleme, Pathologien und Kontingenzen immer wieder neu geschaffen werden.
Zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert werden die staatlichen Programme, in deren Kern das "Opfer" steht, immer effizienter: Von der Sorge um die beiden »Körper des Königs« über die "polizeylichen" und demokratisch-pädagogischen Regimes, die imperialistische Erforschung "primitiver Gesellschaften" bis hin zur Ausarbeitung detaillierter Versicherungs- und Entschädigungssysteme. In der zugleich diskursiven und praktischen Sorge um die "Opfer" bahnt sich zugleich ein spezifisch neuzeitliches Projekt an: die Allianz von Politik und Humanwissenschaft, Literatur, Anthropologie und Ökonomie.
"Opfer" wären so gesehen die Hervorbringungen eines scharf kalkulierenden und zugleich dichtenden "Willens zum Wissen" (Michel Foucault), der erst unter den medien- und verwaltungstechnischen Bedingungen des modernen Staates richtig produktiv werden kann. Nur vor diesem Hintergrund ist zu bestimmen, wann die Rede vom "Opfer" noch Diskurs der Macht und wann sie schon Gerede ist. Ein Text unter dem Titel "Opfer nach Auschwitz" schließt den Band ab.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.2005

Überzeugt zeigt sich Rezensent Michael Pawlik von Burkhardt Wolfs "äußerst material- und gedankenreichen" Studie über die "Diskursgeschichte des Opfers". Der Autor gehe der Frage nach, wie in den herrschenden Diskursen der letzten Jahrhunderte jene wahrgenommen wurden, die der Herstellung der angestrebten guten Ordnung der Gesellschaft im Weg standen. Wolf zeige, dass neben dem Modell der individueller Entschädigung für Bürger, die ihre Privilegien zugunsten des Allgemeinwohls aufgeben mussten, eine zweite zunehmend einflussreicher werdende Strategie des Umgangs mit störenden Individuen entstand, die in deren Exklusion bestand. Die Guillotinierung Ludwigs XVI. deute Wolf als die Urszene dieses Verfahrens. Wie Pawlik referiert, wurde das Modell, die Reinheit einer politischen Gemeinschaft durch die Ausmerzung all jener herzustellen, die sich ihr nicht integrieren lassen, im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in vielfältigen Varianten wieder aufgegriffen. Im zwanzigsten Jahrhunderts habe dann der Totalitarismus das Erbe dieses Denkens angetreten. Pawlik verschweigt nicht, dass das Buch mitunter schwer zu lesen ist. Doch die Mühe lohne sich. "Eine Gesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, Zivilisationsfortschritt mit Freiheitsgewinn gleichzusetzen", befindet der Rezensent, "hat eine solche Erinnerung an die dunkle Kehrseite ihrer Modernität bitter nötig."
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 30.04.2005

Keine Frage: Das in diesem Band versammelte Wissen ist von geradezu "monumentalen" Ausmaßen. Richtig glücklich ist der Rezensent Matthias Kross mit Burckhardt Wolfs tour d'horizon durch die Diskursgeschichte des "Opfer"-Begriffs dennoch nicht. Methodisch sei das ganze, vermittelt über Friedrich Kittler, an Michel Foucault orientiert, und zwar, bedauert Kross, ohne den leisesten Zweifel an der Aktualität dieser Herangehensweise. Von der Barocklyrik zum Sozialdarwinismus, vom Jesuitendrama bis Niklas Luhmann wird "eine schier überschäumende Fülle von historischen Einzelheiten" ausgebreitet, was immer wieder überraschende Verbindungen ermögliche. Die Kernthese aber - dass das Opfer eine "Erfindung" des Souveräns sei, um die eigene Macht zu stabilisieren - scheint Kross zu "schlicht und generalisierend". Nicht an jedem der Materialbeispiele lasse sie sich ohne Gewalt erhärten. Eine beeindruckende Studie, lässt sich die Rezension resümieren, aber nicht zur Gänze geglückt.
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