Boris Schitkow

Wiktor Wawitsch

Roman
Cover: Wiktor Wawitsch
Carl Hanser Verlag, München 2003
ISBN 9783446203952
Gebunden, 736 Seiten, 27,90 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Mit einem Vorwort von Rolf Vollmann und einem Nachwort von Rosemarie Tietze. Die erste russische Revolution 1905: Studentenunruhen, Streiks und blutige Straßenkämpfe. Im Zentrum des Geschehens: Wiktor Wawitsch, ein Polizist aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, der eine Liaison mit der Gattin des Polizeichefs hat. Fasziniert von der Macht der Uniform, gerät er als Handlanger des reaktionären Terrors in einen tiefen moralischen Konflikt. Das "beste Buch über die russische Revolution" (Boris Pasternak), ein großes - in den dreißiger Jahren entstandenes und nun erstmals ins Deutsche übersetztes - Gesellschaftspanorama Russlands.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 25.02.2004

Laut Michael Grus soll Boris Pasternak das Buch als den besten Roman über die russische Revolution bezeichnet haben, und der Rezensent selbst rückt ihn in die Nähe von Döblins "Berlin Alexanderplatz". Beide Romane sind in etwa zur gleichen Zeit entstanden und collagieren mit raschen Szenen- und Ortswechseln ein ganzes Panorama: die Großstadt bei dem einen, die Revolution von 1905 bei dem anderen. Der Roman ist in etwa 150 Kurzkapitel aufgeteilt, heißt es bei Grus, die schnellen Wechsel ziehen die Leser unmittelbar ins Geschehen hinein. Für einen alles überschauenden Erzähler ist dabei gar keine Verwendung, analysiert Grus weiter, und auch nicht für einen echten Helden; ja nicht mal einen richtigen Schurken gebe die Hauptfigur Wiktor Wawitsch ab, ein kleiner Polizeibeamter, der in die Mühlen der Revolution gerät. Gerade seine zwiespältigen Figuren wie Wawitsch, der zum Verräter wird, behandele Schitkow ohne Vorurteile, konstatiert der Rezensent anerkennend, und auch die Frauengestalten haben sich aus der "madonnengleichen" Existenz a la Dostojewski gelöst. Die bereits fertig gedruckte Erstausgabe von 1941 war übrigens auf Anweisung von oben wieder eingestampft worden, so Grus. Einige wenige Exemplare müssen der Vernichtung entgangen sein, vermutet er und hofft, dass das Buch nun auch in Deutschland viele Bewunderer finden wird.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 30.12.2003

Großartig findet Karl-Markus Gauß den vielleicht größten russischen Revolutionsroman, der in 150 Szenen kolportagenhaft ein Kolossalgemälde der Revolution von 1905 entwirft. Der Roman wurde 1932 zu Ende gebracht, erblickte jedoch durch die Wirren des Krieges und des Stalinismus nie das Licht der Öffentlichkeit; eine bereits gedruckte Auflage wurde wieder eingestampft, und nur einigen beherzten Arbeitern der Druckerei sei es zu verdanken, berichtet Gauß, dass einige Exemplare gerettet wurden und fortan im Untergrund zirkulierten. Am Beispiel zweier Familien spiegele Schitkow große Geschichte im Schicksal kleiner Leute, so Gauß und bewundert das Geschick des Autors, in kleinen, schnellen und pointierten Szenen Geschichte so plastisch einzufangen. Was Schitkow eigentlich interessierte, meint Gauß, war, die Dynamik einer Revolution einzufangen, und dafür habe der Autor auch eine entsprechende kompositorische Technik und Sprache entwickelt. Wie Dostojewski oder Canetti sei Schitkow ein akustischer Autor, schließt Gauß, nicht ohne ein Lob für die fabelhafte Übersetzung von Rosemarie Tietze auszusprechen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 06.10.2003

Dass Boris Schitkows Roman zur Zeit des Großen Vaterländischen Krieges (sprich: im Zweiten Weltkrieg) aus Sicht der sowjetischen Zensur "nicht von Nutzen" schien (also eingestampft wurde), und dass sich auch später in Russland niemals die Zeit kam, in der er als nützlicher betrachtet worden wäre, wundert Rezensentin Sonja Zekri kein bisschen. Denn um die Gunst der Apparatschiks zu finden, ist er einfach zu gut. Er ist sogar, wie Pasternak sagte, das "beste Buch über die russische Revolution". Schitkow entspinne sein "atemberaubendes Panorama der historischen Kompressionsstufe von 1903 bis 1906" um den aus Berechnung zum Polizisten gewordenen Wiktor Wawitsch, der eher unwillkürlich mitten hineintaucht in die Machenschaften der politischen Repression. In 150 Szenen schildere Schitkow, "wie die Titkins und die Wawitschs auf die Aggregatzustände ihres Landes reagieren, wie sich fiebrige Erwartung und künstliche Ruhe entladen". Doch sind seine Figuren "keine Helden", meint Zekri, eher "Unsympathieträger mit Tschechowschen Abgründen", und der "Unangenehmste" von allen ist eindeutig Wiktor. Die "größte Provokation" des Romans liege in eben dieser Einsicht: Dass alle, auch die "Revolutionäre" nicht etwa "aus Überzeugung" handelten, sondern aus "Dummheit, Feigheit und verletztem Stolz". In der gnadenlosen Offenlegung einer "Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs" zeichnet Schitkow in "unvergesslicher" Metaphorik das Porträt eines "stotternden, trotzigen Volkes", das nicht an "fehlendem Heldentum" scheitert, sondern an mangelnder "menschlicher Reife", lobt die faszinierte Rezensentin.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 25.09.2003

Boris Pasternak soll den Roman als das beste Buch über die Russische Revolution gepriesen haben. Er hatte Recht, meint Alexandra Kedves schlicht. Auch sie ist ganz hingerissen von diesen, wie sie schreibt, russischen "Short Cuts", die mit 150 Spotlights auf über 700 Seiten ein Panorama der vorrevolutionären Zeit und des Aufstands von 1905 entwerfen. Auch wenn Schitkow selbst in Odessa auf Seiten der Aufständischen gekämpft und Mut bewiesen hat, erklärt Kedves, heißt sein großes Thema: die Feigheit, der innere Schweinehund, den ein unterdrückerisches Regime hege und pflege. Schlaglichtartig beleuchtet Schitkow das Leben zweier Familien in den Wirren der Zeiten und der Liebe, so dass Kedves von historischen Comics spricht, die ein buntes bewegtes Bild ergäben. Der Roman selbst geriet im übrigen auch in die Mühlen des Systems, berichtet unsere Rezensentin : geschrieben in den 30er Jahren, wurde die Erstausgabe von 1941 nie ausgeliefert. Dennoch sollen einige geklaute Exemplare in der Sowjetunion kursiert sein. Erst 1999 kam der Roman in Russland auf den Markt, jetzt liegt er in einer erstklassigen Übersetzung, betont Kedves, auch auf Deutsch vor.