Vorgeblättert

Wolf Jobst Siedler: Wir waren noch einmal davongekommen. Teil 2

17.09.2004.
Als Albert Speer Anfang Oktober 1966 aus der Haft entlassen wurde, kam er auf meine Aufforderung zurück. Eines Tages klingelte das Telephon in meinem Büro, und meine Sekretärinnen waren ganz verstört, als sie meldeten, der legendäre Albert Speer sei am Apparat. Speer fragte ohne grosse Umschweife, wann er mich in Berlin besuchen könne. "Ich kann mir vorstellen", sagte ich abwehrend, "dass Sie keine Neigung zu einer Reise nach Berlin haben, wo Sie hier zwölf Jahre mit und unter Hitler gearbeitet und dann zwanzig Jahre wegen Hitler im Gefängnis gesessen haben." Speer ging darüber hinweg: "Ich habe meine zwanzig Jahre bis zum letzten Tage abgesessen und bin mit der Zustimmung der Russen entlassen worden. Warum sollte ich eine Reise nach Berlin scheuen?" Aber wo sollte ich Speer treffen, etwa bei mir zu Hause in Dahlem oder im Springerschen Hochhaus in der Kochstrasse? Also schlug ich das Schlichter vor.
Ich sah der Begegnung mit einiger Unruhe entgegen. Hitlers fast geliebter Chefarchitekt und später sein allmächtiger Rüstungsminister, gerade aus der Einzelhaft entlassen, war noch immer eine geheimnisumwitterte Gestalt, und manche Zeitungen waren schockiert, als sich die Nachricht herumsprach, Speer würde in den Kreis der Autoren des Propyläen Verlages treten. So waren wir wohl beide befangen, als wir uns das erste Mal begegneten. Aber der Umgang mit ihm war merkwürdig leicht, ein älterer Herr, erkennbar aus guten Kreisen, wie von langer Abwesenheit zurückgekommen. Nur an Details erkannte man, dass er gerade aus einer jahrzehntelangen Gefängnishaft entlassen worden war. So zum Beispiel, als er Wein zum Essen ablehnte: "Sie müssen bedenken, dass in Spandau Alkohol verboten war."
Einmal brachte ein vorsichtiger Scherz eine Gefährdung der Atmosphäre. Ich hatte, als es schon klar war, dass er mit seinen Memoiren zu mir kommen würde, leichthin gesagt: "Wissen Sie eigentlich, Herr Speer" - "Professor" wollte er nicht mehr genannt werden, "denn diesen Titel hat mir Hitler verliehen" -, "dass wir Kollegen sind?" Auf seinen fragenden Blick fuhr ich fort: "Wir haben beide im Gefängnis gesessen - Sie wegen Hitler und ich unter Hitler." Das überforderte ihn offensichtlich, und er fragte mich, sichtlich verstört, ob es mir unangenehm sei, meinen Namen mit dem seinen verbunden zu sehen, was mich nun wiederum verschreckte, weil er allen Ernstes anbot, vom eben geschlossenen Vertrag zurückzutreten. Es dauerte einige Zeit, bis ich ihn beruhigt hatte, dass das ein offensichtlich misslungener Versuch gewesen sei, das Gespräch aufzulockern.
Am Ende schlug ich vor, ihm einen Vertragsentwurf nach Heidelberg zu schicken, aber Speer sagte, dass er eigentlich mit der Hoffnung nach Berlin gekommen sei, einen Verlagsvertrag gleich mitzunehmen. So rief ich den Leiter der Vertragsabteilung der Ullstein-Propyläen- Gruppe, Walter Kabisch, an und sagte ihm am Telephon die Bedingungen eines Vertrages, den er mir gleich ins Schlichter bringen solle. Vertragsausfertigungen sind zwölf oder fünfzehn Seiten stark, und ich wollte Speer Zeit lassen, das Papier zu Hause in Ruhe zu lesen. Aber er schlug gleich die letzte Seite auf und setzte seinen Namen unter den Vertrag. Ich protestierte, er müsse doch lesen, was er unterschreibe, aber Speer blieb dabei: "Ach, wenn man Vertrauen hat, soll man auf den ersten Eindruck bauen. Verstehen tue ich ohnehin nichts von den Paragraphen eines solchen Vertrages." In den zwei oder drei Stunden unseres Essens waren wir so vertraut miteinander geworden, dass ich beharrte: "Blindes Vertrauen hat Sie schon einmal ins Unglück gestürzt. Bleiben Sie diesmal misstrauisch, und seien Sie vorsichtig." Als ich am späten Nachmittag in den Verlag zurückkam, wurde ich in meinem Büro von jedermann gefragt, wie das Treffen mit Speer denn verlaufen sei. Niemand wollte es glauben, als ich den unterschriebenen Vertrag aus der Tasche zog.

An dem Manuskript seiner Erinnerungen - eine fast tausend Seiten lange Rohfassung hatte er in Spandau geschrieben - arbeiteten wir so ziemlich zwei Jahre, oft zusammen mit Joachim Fest, den ich für die historischen Passagen hinzugezogen hatte. Zuweilen gab ich meiner Neigung nach, Arbeitssitzungen mit Autoren an angenehme Orte zu verlegen. Im Sommer waren wir mitunter auf Sylt, und manchmal wohnten wir acht oder zehn Tage in Axel Springers Gästehaus Klentner Hof in Kampen. Dann arbeiteten wir einmal mehrere Wochen in jenem zum Hotel ausgebauten Hohenstaufenkastell Schloss Korb in Südtirol, das inzwischen ein Lieblingsort von Imke und mir war. Ein anderes Mal waren wir an der Loire, wo Speer das Zusammensein aber nach wenigen Tagen abbrach, da zu Hause sein gewaltiger Bernhardiner krank geworden war.
Als das Resultat unserer Mühen in Form des ersten Vorausexemplars vor uns lag, schlug Speer vor, dass wir alle zusammen - er und seine Frau Margarete, Fest mit seiner Frau Ingrid und ich mit Imke - im Erbprinz in Ettlingen ein festliches Essen haben sollten. Am nächsten Tag würde das Buch der Öffentlichkeit und vor allem der Presse präsentiert werden, ein Ereignis, dem Speer mit ziemlicher Sorge entgegensah. Seine Bedenken galten einem möglichen Misserfolg des Buches, das dann mit vierzehn Auflagen und mehr als einer halben Million Exemplaren einer der spektakulärsten Bestseller der Nachkriegszeit wurde. In einer gelösten Stimmung ärgerte ich Heinrich Böll bei einem meiner Besuche in seinem Landhaus in der Eifel: "Sie haben es zu unser aller Bedauern trotz des Nobelpreises nie zu einem solchen Erfolg gebracht."
In einer für Speer ganz ungewöhnlichen Feierlichkeit, die um so rührender wirkte, als er wie immer spröde und unbeholfen war, setzte er mit einer angedeuteten Erhebung zu einer Art Tischrede an. "Sie werden spüren, dass ich dem Erscheinen des Buches mit Zweifeln entgegensehe. Ich bin nicht meinet-, sondern Ihretwegen nervös, denn Sie haben soviel Zeit, Mühe und Geld investiert." Er war noch immer ziemlich sicher, dass das Buch ein Misserfolg werden würde, wobei ich manchmal das Gefühl hatte, dass das Koketterie war, denn ich hatte ihm schon vertraulich gesagt, dass der Buchhandel ziemlich enthusiastisch reagiert habe. Aber Speer schien allen Ernstes einen möglichen Misserfolg mehr des Verlages als seinetwegen zu befürchten. "Sie wissen gar nicht, Herr Siedler, was Sie für mich in diesen zwei Jahren gewesen sind. Ich bin ja im Grunde ein Mensch, der immer eines 'Katalysators' bedarf. In meiner Assistentenzeit an der Charlottenburger Technischen Hochschule war das mein Lehrer Tessenow, von dem ich so vollkommen abhängig war, dass ich die anderen grossen Architekten der zwanziger Jahre kaum zur Kenntnis nahm. Dann wurde Hitler mein übermächtiger Katalysator, dem ich willen- und fast bewusstlos in eine Welt folgte, die mir eigentlich fremd war. Jetzt sind Sie mein Katalysator, dem ich wieder fast blind folge. Der Gedanke ist mir unerträglich, dass ich Ihnen das durch einen Misserfolg schlecht lohne."
Wir waren alle betreten, Fest beugte sich schweigend über seinen Teller, ich sah abwechselnd Imke und Margarete Speer an, und da ich antworten musste, suchte ich mich leichthin ausder Affäre zu ziehen. "Mit ihrem letzten Katalysator, Herr Speer, hat es ein schlechtes Ende genommen. Hoffen wir, dass ich aus dem Abenteuer dieses Buches besser hervorgehe." Und damit hob ich das Glas - Speer hatte sich inzwischen an Wein und Champagner wieder gewöhnt - und trank ihm mit einer Herzlichkeit zu, die nun wieder für mich ungewöhnlich war. Aber alle waren, nachdem wir das Formelle hinter uns gebracht hatten, erleichtert, und so endete jener Abend im Erbprinz heiter-gelöst. 

Einige Wochen später erhielt ich einen Brief von Margarete Speer:

Lieber Herr Siedler! 

Nun habe ich Zeit und Ruhe, um diesen Danke-Brief an Sie zu schreiben. Dank für Ihren Brief, über den ich mich besonders freute, für den bunten Herbststrauß und für die Übersendung des ersten Buches.
Ich hatte Angst vor diesem Buch; sie tritt zurück beim Lesen vor den Gestalten, die auch ich alle kannte, und vor dem Geschehen, das ich miterlebte und vergessen wollte. Es war auch mein Leben, wie Sie schrieben.
Für mich ist das Buch so aufregend und erschreckend, daß ich es abends nicht lesen kann.
Ich denke, es wird ein Erfolg. Das wünsche ich auch Ihnen, weil Sie so sehr mit dem Buch lebten.
Und dann wünsche ich mir noch, daß unser freundschaftliches Beisammensein mit Ihrer Frau und Ihnen auch in Zukunft nicht aufhört, und daß ich noch oft die Freude haben werde, Ihren Gesprächen mit Herrn Fest zuzuhören.
Herzlichst
Ihre
Margarete Speer.


Ein weiter Weg von Brecht über Aufricht zu Speer. Aber alle drei haben mit Schlichter zu tun. Jedes der alten Berliner Restaurants ist eben mit Geschichten verbunden. Das gilt selbst für die Volle Pulle, eine kleine Weinstube am Steinplatz, die im ehemaligen Gepäckeingang des Hotel Steinplatz einige Jahre nach dem Krieg als Künstler- lokal aufgemacht hatte. Die Eröffnung hatte im Dezember stattgefunden, und dazu waren Michael Bohnen, der berühmte Bariton, und Sergiu Celibidache gekommen, der schon in der Badewanne Stammgast gewesen war. Hans Sixtus, der mit den Eltern Zellermayers befreundete Generaldirektor der Schultheiss-Brauerei, hatte ein ausgedientes Riesenfass beigesteuert, das nun als Eingang diente.
In den fünfziger und sechziger Jahren war die Volle Pulle der eigentliche Treffpunkt für die Künstler und Schriftsteller Berlins - von Heinrich Böll und Arthur Koestler, Erich Maria Remarque und Ignazio Silone bis zu Thornton Wilder und sogar Ilja Ehrenburg. Wahrscheinlich hing das mit den drei Geschwistern Zellermayer zusammen, dass vor allem Musiker Stammgäste der Vollen Pulle waren, neben Pablo Casals gehörten Claudio Arrau, Paul Hindemith, Zubin Mehta und Wieland Wagner zu den regelmässigen Gästen. Auch wer im internationalen Showgeschäft an der Tete ritt, verkehrte selbstverständlich in der Vollen Pulle. Wir haben aber Maurice Chevalier und Louis Armstrong nie dort gesehen, und auch der gefeierte Filmstar Winnie Markus, die mit Heinz Zellermayer verheiratet war, habe ich hier nie getroffen, obwohl sie sehr häufig in der Vollen Pulle einen Drink genommen haben soll. Gottfried Benn, schon schwerkrank, gab im Hotel Steinplatz für seine Frau und seine Tochter, seinen Verleger und einige wenige Freunde ein Essen anlässlich seines siebzigsten Geburtstages; vorher hatten sich alle in der Vollen Pulle getroffen. Es war das letzte Treffen, 1956 starb Gottfried Benn, glücklicherweise im Glauben, ihn habe ein besonders heftiger und sehr schmerzhafter Rheumaanfall getroffen. Bis zuletzt hatten seine Freunde das hässliche Wort "Krebs" vermieden. Ach, die Ärzte und die Krankheiten. Wieviel Mediziner habe ich getroffen, die sich über ihre eigene Krankheit täuschten. Auch mein Vater, doch sonst nicht zu Illusionen neigend, hatte seine zwei Schlaganfälle verharmlost. "Glücklicherweise sind es keine Schlaganfälle, Dr. Päpra" - der alte Hausarzt in Lichterfelde - "hat mich beruhigt, dass es nur eine Durchblutungsstörung war." Als er starb, war es ganz gleich gewor- den, wodurch der Tod gekommen war, der Krebs, der es in Wirklichkeit war, spielte keine Rolle mehr; seine Zeit war mit achtzig Jahren abgelaufen.

Teil 3