Vorgeblättert

Vera Broido: Tochter der Revolution, Teil 2

17.08.2004.
Im Haus war ausreichend Platz. Wir verfügten alle über den Luxus eines eigenen Zimmers. In dem Arbeitszimmer meiner Mutter stand ein großer Tisch. Der junge Mann half uns, unsere Sachen zu verstauen und führte uns dann herum. Es stellte sich heraus, dass mein Bruder und ich das Beste übersehen hatten, eine Falltür in der Speisekammer neben der Küche. Eine steile Leiter führte hinunter in einen riesigen, eiskalten Steinkeller mit Regalen, auf denen auffallend viele Krüge und Töpfe standen, einige aus Steingut, andere aus uns unbekannten, sehr seltsamen und reizvollen Materialien. Der junge Mann erklärte uns, sie bestünden aus Birkenrinde und gehörten zur typischen sibirischen Küchenausstattung. Sie würden krinki genannt und dienten zur Aufbewahrung von Milch, Sauermilch, Sahne, Quark und Butter und verliehen diesen Milchprodukten einen sehr angenehmen Geschmack. Doch die krinki im Keller waren alle leer, was uns daran erinnerte, dass wir sehr hungrig waren. 
"Keine Sorge", sagte der junge Mann. Der Vermieter, der im Nachbarhaus wohne, habe uns zum Abendessen mit seiner Familie eingeladen, und die Tochter des Hauses werde uns jetzt schon etwas zu essen bringen. Und kurz darauf erschien tatsächlich ein hübsches, rotbäckiges junges Mädchen in einer bunt bestickten Bluse über einem langen, dunklen Rock mit Milch, Butter, frisch gebackenem Brot und Quark. Sie sagte, sie werde uns am späten Nachmittag, "wenn die Männer vom Feld zurückkommen", zum Essen rufen.
Und was für ein Abendessen das war! Der massive, quadratische Tisch in der Küche war mit vielen großen, buntgemusterten Tellern und Schüsseln gedeckt. In der Mitte stand eine noch größere, bis zum Rand mir saurer Sahne gefüllte Schüssel. Ich musste jedoch meine Neugier und meinen Appetit zügeln, weil wir nicht gleich zum Essen Platz nahmen. Zunächst wurden wir von unserer Gastgeberin, einer gepflegten, hageren älteren Dame mit feinen Manieren willkommen geheißen. Im Gegensatz zu unserem Haus, das leer und geräumig wirkte, war ihres mit allen möglichen Gegenständen vollgestopft. Unsere Vermieterin sagte, sie habe fünfzehn (oder waren es siebzehn?) Kinder, und das Haus sei gerade groß genug, damit sie alle Platz fänden. In Kuragino hätten die meisten Familien sogar zwanzig und mehr Kinder. Dann zeigte sie uns die "gute Stube" mit Betten, auf denen sich bestickte Decken und Kissen sowie alle möglichen Kleidungsstücke stapelten. Auf bestickten Tischdecken standen schöne Teller und Schüsseln. Das entsprach nicht nur einem sibirischen Brauch. In allen russischen Bauernhäusern, zumindest in denen der bessergestellten Bauern, gab es eine ›gute Stube‹, in der die besten Möbel und Stickereien aufbewahrt wurden, nicht zum Gebrauch, sondern nur zur Präsentation, als Zeugnis des Wohlstandes. 
Schließlich kehrten die Männer von der Feldarbeit zurück. Die Tore öffneten sich, und eine Karawane von Pferden, Wagen und Männern kam in den Hof und zog am Haus vorbei zu den Ställen und Scheunen. Nachdem die Männer die Wagen abgestellt, die Ladung verstaut und die Pferde in die Ställe geführt hatten, begaben sie sich zur Badestube. Zwei Jungs kamen an das offene Küchenfenster und ließen sich von ihrer Mutter einen Stapel Handtücher und saubere Kleidung geben. Dann füllten unsere Gastgeberin und ihre Tochter die auf dem Tisch stehenden Schüsseln mit Butter und holten das frisch gebackene Brot sowie die schangy aus dem Ofen. Letztere sind eine sibirische Spezialität: flache Gebäckstücke mit Sauerrahm darauf, der eine köstliche Kruste ergab.
Nach ihrem Bad sauber und frisch, kamen die Männer schließlich herein, und wir wurden von unserem Gastgeber freundlich begrüßt und gebeten, zum Essen Platz zu nehmen. Ich konnte es kaum erwarten! Die dampfenden Brotlaibe und die schangy wurden auf den Tisch gestellt, unser Gastgeber brach sich ein großes Stück Brot ab und dippte es in den in der Mitte stehenden Sauerrahmtopf. Dann bat er uns recht feierlich, seinem Beispiel zu folgen. Die Vorfreude war groß, keiner aber griff gierig oder hastig zu. Alle warteten, bis wir uns bedient hatten. Als die Schüssel beinahe leer war, wurde sie weggetragen und es kamen weitere Speisen auf den Tisch. Unsere Gastgeberin drängte uns, dieses und jenes zu kosten, doch ich hatte mich an den köstlichen schangy satt gegessen und bekam keinen Bissen mehr hinunter. Mutter lobte, wie gut das Brot schmecke, und die Gastgeberin erklärte ihr, es würde jeden Tag gebacken. "Keinem Menschen in Sibirien käme es in den Sinn, hartes Brot vom Vortag zu essen."
Unser Gastgeber sprach offen mit Mutter und erwähnte, er beziehe mehrere Zeitungen. Er war sich offenbar bewusst, dass sein Lebensstil dem russischer Bauern sehr überlegen war. Immer wenn er von den russischen Bauern sprach, wurde deutlich, dass er sie wegen ihrer Unwissenheit und Armut verachtete. Als wir uns verabschiedet, ihnen für das Essen und die Gastfreundschaft gedankt hatten und in unser Haus zurückgekehrt waren, äußerte sich Mutter zu unserem Besuch. Sie erklärte, die meisten sibirischen Bauern seien Nachfahren von politisch Verfolgten oder aber religiösen Sektierern, die gezwungen worden waren, sich in Sibirien niederzulassen. Daher rührten ihr Unabhängigkeitsdrang, ihre Abneigung gegen russische Behörden sowie ihre Freundlichkeit gegenüber den politischen Verbannten, den sogenannten "Staatskriminellen". Diese Siedler hatten sich auf fruchtbarem Land niedergelassen, wie etwa in der Region Minussinsk, es zu Wohlstand gebracht und Gewohnheiten und Manieren angenommen, die sich von denen der geknechteten Bauern völlig unterschieden.
Ich habe den Sommer in Kuragino als recht idyllisch in Erinnerung. Mutter war die ganze Zeit da, erledigte mit uns die Hausarbeit, aß mit uns oder arbeitete an ihrem Schreibtisch. Sie übersetzte ein Buch (oder waren es Aufsätze?) von John Maynard Keynes und war bemüht, schnell damit fertig zu werden, um ihr Honorar zu bekommen. Dies war lebenswichtig, gab es doch in Kuragino keine andere Einkommensmöglichkeit. Die staatlichen Zuwendungen an politische Gefangene reichten nicht einmal aus, um unsere Miete zu bezahlen. Eines Tages kam ich, nachdem ich mit einigen Nachbarskindern gespielt hatte, nachdenklich gestimmt nach Hause. 
"Mutter, Manja sagt, ich müsse jeden Abend, wenn ich zu Bett gehe, beten und Gott für unser täglich Brot danken", eröffnete ich ihr verständnislos. "Wem sollen wir für unser täglich Brot danken?" Sie lachte und antwortete: "Nun, ich nehme an, wir sollten Maynard Keynes danken." Und das tat ich denn auch, um nicht von meiner Spielgefährtin Manja verdammt zu werden. Aber meine erste religiöse Phase dauerte nicht lange, und ich betete bald nicht mehr.
Danja hatte unterdessen ein neues Spiel erfunden und war wie immer der Held, während ich wie immer nur eine untergeordnete Rolle spielte. Als Kapitän eines Ozeanriesen - ich war der ›Schiffsjunge‹ - baute er eine Art Schaukel, indem er in einem Schuppen ein altes Seil über einen morschen Balken schwang. Eine modrige Holzplanke diente als Sitz. Wir stellten uns beide auf diesen Sitz, und er stieß die Schaukel kräftig an, bis es unausweichlich zur Katastrophe kam und entweder der Sitz, der Balken, das Seil oder alle drei kaputtgingen, und wir uns an das klammern mussten, was übrig geblieben war. Die ganze Zeit über rief der Kapitän mit dramatischer Betonung: "Wir befinden uns auf hoher See, und ein Sturm ist aufgekommen … wir umsegeln die Landzunge, gefährliche Klippen vor uns … und … oh! … ja … wir sind auf einen Felsen unter Wasser aufgelaufen, und das Schiff sinkt … durchhalten, Crew! … Oh! Alle werden in die schäumenden Wellen geschleudert und ertrinken … und oh! … oh! nur ich, der Kapitän, bin noch an Bord und gehe mit meinem Schiff unter! … Oh, der tapfere Kapitän! …"
Der Schiffsjunge war mittlerweile hart auf den Boden geschleudert worden, hatte sich Arme und Beine abgeschürft und war ganz und gar nicht tapfer, schniefte und wollte nichts lieber, als dem Katastrophenspiel entkommen. Ich spielte lieber wieder alleine, mit Vorliebe in der Ruine des kleinen Hauses am entferntesten Ende des Hofes. Ein Dach hatte das Haus schon lange nicht mehr, so dass ich den Himmel sehen konnte, und die warme Sonne hereinfiel. Alle möglichen blühenden Büsche sowie Johannisbeer- und Himbeersträucher hatten sich darin ausgebreitet und das Haus in eine Art Gartenlaube verwandelt. Es war wunderbar, darin zu sitzen, zu träumen, still zu sein und den Bienen zu lauschen.
Manchmal ging ich mit meiner Mutter einkaufen, zunächst zu Nachbarn, um frisches Brot, verschiedene Milchprodukte sowie vielleicht ein Huhn zu kaufen. Dann schlenderten wir die ganze Dorfstraße entlang zum Dorfladen, was jedes Mal ein Vergnügen war. Wir gingen die breite Straße entlang und bewunderten die Häuser, die bis auf die unterschiedlich gestrichenen und mit Schnitzereien verzierten Fensterrahmen alle identisch waren. Auf den Fensterbänken standen - ein Hauch von Luxus - Töpfe mit verschiedenen bunten Blumen. Auf ihre Topfpflanzen waren alle stolz, und es herrschte deswegen eine regelrechte Rivalität zwischen den Frauen des Dorfes. Die Blumen waren wegen der kurzen, sehr heißen und trockenen Sommer und der sehr langen, kalten Winter schwer zu ziehen. Manchmal begegneten wir dem Vieh, das von den Feldern nach Hause getrieben wurde, und ich erinnere mich besonders an eine sehr bösartige Kuh, die ein großes Vergnügen daran hatte, die Blumentöpfe von den Fensterbänken zu stoßen. Fand sie ein offenes Tor, ging sie auf den Hof und richtete dort Verwüstungen an. 
Hin und wieder machten wir zu dritt einen Spaziergang außerhalb des Dorfes, obwohl wir gewarnt wurden, uns wegen der wilden Tiere und der Schlangen, die von den Bergen herab kamen, nicht zu weit vom Dorf zu entfernen. Im Frühsommer blühten auf den Wiesen außerhalb des Dorfes plötzlich die wilden Blumen - unter anderem Bergorchideen und Krokusse. Sie wuchsen in großen, dichten Flecken und verwandelten die Wiesen in einen Teppich aus intensiven, hellen Farben, ein lebhafter Kontrast zu den Sajan-Bergen, hinter denen sich das Altai- und schließlich das Pamirgebirge, das Dach der Welt, erhoben. Die Sajan-Berge waren mit dichten, undurchdringlichen Wäldern überzogen. Es ist die Taiga, in der sich Braunbären tummeln und die schwarze razsomakha-Katze auf den Ästen nach Opfern auf dem Waldboden lauert.
Wenn die letzte Ernte des Jahres eingebracht war, gingen die Männer angeln oder jagen, manchmal auch zum Goldwaschen. Letzteres geschah am Ufer der Tuba in der Nähe des Dorfes, und alle Kinder und jungen Leute nahmen daran teil. Ein paar flache, breite Metallpfannen und große, feine Siebe wurden dazu benötigt, vor allem aber Quecksilber. Die Utensilien lieferte ein ambulanter Händler, der in jener Jahreszeit in die Dörfer kam und jeweils ein paar Wochen in einem Dorf blieb. Er hatte seinen ganzen Besitz in einer Art Rucksack verstaut, darunter das wertvolle Quecksilber, das sich in einer dicken, kleinen Flasche befand. Wenn ich mich recht entsinne, gab er das Quecksilber leihweise aus, wofür er entweder Bargeld oder seinen Anteil am Goldstaub verlangte. Sein Eintreffen läutete ein paar aufregende, festliche Wochen ein. Die Dorfbewohner waren bemüht, das Beste aus seiner Anwesenheit zu machen, und arbeiteten bis spät in den Abend hinein, so lange es das Tageslicht erlaubte. Das Goldwaschen war eine unglaublich einfache Prozedur: man kauerte sich an das Ufer und schaufelte ein wenig von dem schwarzen, goldstaubhaltigen Sand, der sich dort entlang schlängelte. Der Sand wurde dann mehrmals "gewaschen", das heißt solange gesiebt, bis man die Goldpartikel in dem in der Pfanne verbliebenen Sand sehen konnte. An diesem Punkt öffnete der ambulante Händler seine Flasche und goss etwas Quecksilber in die Pfanne. Die feinen Goldpartikel blieben an den Quecksilberkügelchen hängen, und der Sand fiel ab. Ich kann mich vage erinnern, was geschah, wenn die Aufregung ihren Höhepunkt erreichte. Ich glaube, die Kügelchen, an denen der Goldstaub hing, wurden in eine weitere, saubere Pfanne geschüttet und über einem Feuer erhitzt. Das flüssige Quecksilber wurde abgegossen, während das Gold in der Pfanne blieb.
Die sibirischen Flüsse sind sehr reich an Gold, und in unserem Dorf wurden gewöhnlich während der wenigen Wochen erhebliche Mengen gewaschen. Ich weiß nicht mehr, wie das Gold unter uns aufgeteilt wurde, aber alle bekamen ihren Anteil, selbst mein Bruder und ich. Ich bin mir sicher, dass ich meinen kleinen Leinenbeutel mit Gold nach St. Petersburg mitnahm, erinnere mich aber nicht mehr, was später damit geschah.
Im Herbst brachen die Männer und die älteren Jungen mit großen Töpfen und Krügen sowie mit Zucker in die Berge auf, um wilde Beeren zu sammeln, die dort im Überfluss wuchsen, und sie auf der Stelle zu Marmelade zu verarbeiten. Sie campierten gewöhnlich an einem geeigneten Ort, so weit oben, wie sie per Pferd und Wagen gelangen konnten. Sie ließen die Jungen im Lager zurück und kletterten höher hinauf in das Dickicht der Beerenbüsche. Alle waren von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet und trugen Waffen zum Schutz vor Schlangen und wilden Tieren. Abends kehrten sie ins Lager zurück, machten Feuer unter den gusseisernen Töpfen und kochten Marmelade. Wenn alle Krüge gefüllt waren, kehrten sie ins Dorf zurück. Sobald ihre Karawane in Sicht kam, strömten die Frauen und Kinder herbei, um sie zu begrüßen. Es war ein fröhliches und feierliches Ereignis.
Wie aufgeregt mein Bruder doch war, als er und sein Spielkamerad, der Nachbarsohn, für alt genug befunden wurden, um die Männer begleiten zu dürfen. Und die Geschichten sprudelten nur so aus meinem Bruder heraus, als er nach Hause zurückkehrte. Er war ein wenig enttäuscht, dass sie Tag für Tag im Lager zurückbleiben mussten, wenn die Männer und die älteren Jungen ihre Klettertour unternahmen. Doch da er und sein Freund in der unmittelbaren Umgebung des Lagers Himbeeren pflücken durften, so lange sie sich nicht zu weit entfernten, war es nicht ganz so enttäuschend. Eines Tages, so mein Bruder, seien sie zu einem nahegelegenen dichten Gestrüpp zum Himbeerpflücken gegangen. Sie durchkämmten das Gestrüpp, wobei sie sich trennten und sich schließlich weder sehen noch hören konnten. Eine kurze Zeit lang herrschte bis auf das Knacken der Zweige und das Summen der Insekten Stille. Dann sah mein Bruder von der anderen Seite eine dunkle Gestalt aus den Büschen auf sich zukommen. Er dachte, es sei sein Freund, und rief nach ihm, erhielt aber keine Antwort. Er blickte auf, und was er sah, ließ ihn zum Lager zurück rennen. Es war ein Bär, ein großer Braunbär, der aufrecht stand und mit seinen Tatzen friedlich Beeren pflückte und sie sich so schnell er nur konnte in den Rachen schob!
Wir konnten nicht in Kuragino bleiben, da meine Mutter dort keinerlei Aussicht auf eine bezahlte Arbeit hatte. Sie beantragte daher, nach Minussinsk übersiedeln zu dürfen. Ihrem Antrag wurde stattgegeben. Im Herbst 1915 verließen wir Kuragino. Während unserer Fahrt warfen wir einen letzten Blick auf die Wunder jener Landschaft. Unsere Pferdekutsche war gerade aus einem Wald aufgetaucht, und wir fuhren an einem großen, grasbewachsenen Feld entlang, das auf den ersten Blick so aussah, als sei es mit Hügelchen überzogen. Als wir ins volle Sonnenlicht eintraten, waren die Hügelchen verschwunden. "Susliki", sagte unser Kutscher, "freundliche kleine Wesen!" Susliki sind Murmeltiere - und als wir uns umblickten, sahen wir, wie eines nach dem anderen wieder auftauchte, hunderte von ihnen. Sie standen aufrecht auf ihren Hinterpfoten, die Köpfe in unsere Richtung gereckt. Wie komisch sie aussahen! 

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Minussinsk war ein Marktstädtchen, das neben dem breiten Fluss Jenissej, an dem es lag, nur noch kleiner wirkte. Es war jedoch ein lebendiger Ort, das Verwaltungszentrum einer riesigen Region, mit Banken, Büros, Krankenhäusern und Schulen. Die vielen Verbannten, die eine große und bunte Kolonie bildeten, konnten dort leicht eine Arbeit finden. Die politischen Unterschiede schwanden im Exil, Solidarität und gegenseitiger Respekt traten an deren Stelle. Dissidenten jeden Alters und aller politischen Strömungen waren vertreten, von Anarchisten und Sozialrevolutionären bis zu Bolschewiki und Menschewiki. Einige mussten ihr ganzes Leben in der Verbannung verbringen, andere nur ein paar Jahre, während wieder andere bereits mehrere Jahre hinter sich hatten. 
Mutter nahm mich oft zum Besuch bei der berühmtesten aller Verbannten mit, Jekaterina Breschko-Breschkowskaja. Die lebende Legende genoss nicht nur unter den Genossen ihrer Organisation, den Narodniki (Volkstümler), große Hochachtung. Sie war in einer Familie des wohlhabenden Landadels geboren worden und hatte auch einen Adligen geheiratet. In den 1860er Jahren hatten ihr Mann und sie die von der Regierung geförderte Bewegung für ländliche Entwicklung unterstützt. Von der nur langsam vorangehenden und frustrierenden Arbeit der Gründung und Betreibung von Schulen, Krankenhäusern und Apotheken auf den Dörfern hatte sie jedoch bald genug, und sie verließ ihren Mann, um sich der klandestinen revolutionären Bewegung anzuschließen. Wiederholt festgenommen, war sie die erste Frau, die zur Zwangsarbeit in den sibirischen Goldminen verurteilt wurde. Nun befand sie sich erneut in Sibirien in der Verbannung. Ich traf auf eine grauhaarige, alte Dame mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck, ihr Geist unbeugsam wie eh und je. 1917 sollte sie als "Großmutter der Revolution" gefeiert werden. 
Wir fanden uns in unserer neuen Umwelt bald gut zurecht. Mutter hatte das Glück, dass ihr die Verwaltung der städtischen Apotheke übertragen wurde. Mein Bruder musste in St. Petersburg, das aus patriotischen Gründen in Petrograd umbenannt worden war, wieder in die Schule gehen, so dass Mutter und ich alleine zurückblieben. Mutter fand ihre Arbeit recht anstrengend und hatte häufig Nachtdienst. Sie konnte sich nun jedoch ein Hausmädchen leisten, und bald trat die dralle, rotwangige Marfa in unseren Haushalt ein. Fröhlich und oft ausgelassen, konnte sie jedoch manchmal unerwartet ruhig sein, besonders wenn wir zusammen vor dem Haus auf der Bank saßen und uns sonnten, während sie Zedernharz kaute. Ihr Mund bewegte sich ebenso wie ihre Augen, die alles aufnahmen, was auf der Straße vor sich ging. In der Küche war sie voller Energie, absolut unermüdlich, und backte flache Zedernusskuchen oder rollte den Nudelteig für die pelmeni aus, kleine, mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, das sibirische Grundnahrungsmittel. 
Ich verbrachte meine Tage meistens mit der Familie Dan. Die Dans standen meiner Mutter politisch und persönlich sehr nahe. Fjodor Iljitsch Dan, Arzt und Leiter eines der beiden Krankenhäuser von Minussinsk, war ein führender Menschewik. Lydia Ossipowna Dan stammte aus der berühmten Familie Zederbaum. Ihr ältester Bruder, Julij Ossipowitsch Zederbaum, nahm den Namen Juri Martow an, wie Wladimir Iljitsch Uljanow den Namen Lenin annahm. Ihre beiden anderen Brüder, Sergej und Wladimir, waren ebenfalls bekannte Menschewiki. Von den drei Schwestern war Lydia die einzige, die eine aktive Revolutionärin wurde. Keine Schönheit, besaß sie jedoch einen einzigartigen Charme, mit dem sie alle für sich einnahm. Sie übernahm bereitwillig die Aufgabe, mir und ihrer eigenen Tochter Missja Unterricht zu erteilen. Ihre lebhafte Art und ihr Humor machten das Lernen leicht, und wir waren beide sehr lernwillige Schülerinnen. Nach dem Unterricht blieb ich meistens zum Mittagessen und spielte danach mit Missja, bis Mutter oder Marfa mich abholte. 
Missja war dünn wie ein Streichholz, hatte wache kleine Augen und bewegte sich pfeilschnell; sie war zwar nicht hübsch, aber sehr intelligent und verfügte über eine große Ausstrahlung und eine Art geistiger Autorität, die selbst Erwachsene faszinierte. Einmal kam der bekannte Menschewik Irakli Zereteli für ein paar Tage zu den Dans zu Besuch. Zereteli, der in Irkutsk in der Verbannung lebte, wollte, dass die Verbannten in Minussinsk eine Antikriegserklärung unterzeichnen, die als "Erklärung der sibirischen Internationalisten" bekannt wurde. Dieser große und sehr gut aussehende Georgier, der 1917 Minister in der Koalitionsregierung wurde, war unverheiratet und ignorierte Kinder normalerweise. Als sich Missja jedoch über ihn lustig machte, wurde er sehr wütend. Lydia Ossipowna versuchte ihn zu beruhigen: "Wie kannst du dich nur von ihr auf die Palme bringen lassen, sie ist doch noch ein Kind!" Worauf er antwortete: "Sie ist kein Kind, sondern ein Miststück!"
Im Gegensatz zu Missja war ich ein etwas plumpes, kleines acht Jahre altes Mädchen mit langsamen Bewegungen und müden Augen. Sie hatte mich bald in ihren Bann gezogen. Bei unseren meist von Missja erfundenen Spielen folgte ich ihr in eine Fantasiewelt, in der wir ohne irgendwelche Requisiten ganze Dramen aufführten. Wir kauerten uns stundenlang hinter Büsche und flüsterten uns zu, atemlos vor Aufregung oder Angst, weil wir uns Gefahren und Katastrophen ausmalten. Missja war zwar eine große Tyrannin und kommandierte mich viel herum, doch sie machte mir auch deutlich, dass ich die erste war, die in ihre Fantasiewelt eintreten durfte, und sie mich als ganz besondere Freundin erachtete. Dies machte mich sehr glücklich. Bald wurde es jedoch Winter, und die Dans mussten in einen Ort am Fluss Angara in der Nähe von Irkutsk umsiedeln. Ich war untröstlich, Missja zu verlieren. Ich wusste damals noch nicht, dass ich sie nie wieder sehen würde. Zwei Jahre später starb sie an Meningitis.
Durch den Weggang der Dans hatte ich keine Spielgefährtin mehr und musste mich wieder allein beschäftigen. Mir wurde bewusst, dass meine Spiele weniger erfindungsreich und dramatisch waren als die Missjas oder gar Danjas, doch ich fühlte mich wohl in meiner eigenen ruhigen Welt von Babybädern und Waschbecken, die sich, für Zuschauer unsichtbar, im Kopf abspielte. Ich schüttelte imaginäre Betten aus, drehte imaginäre Wasserhähne auf, kochte imaginäre Mahlzeiten. Das war vergleichsweise weniger aufregend und recht zahm, ließ aber mehr Raum für Gefühle. Und wenn die Spiele auch nicht sehr abwechslungsreich waren, so haben sie mich doch nie gelangweilt. 
Bald fand ich einen neuen Freund beziehungsweise zwei: einen Jungen namens Pawel und seinen irischen Setter Bea. Pawel war der Sohn eines verbannten Bolschewisten, der das städtische Krankenhaus in Minussinsk leitetete. (Dan leitete das Kreiskrankenhaus.) Pawels Mutter war Konzertpianistin in Moskau und konnte oder wollte, wenn ich es recht verstanden habe, ihrem Mann nicht in die Verbannung folgen. "Ein Haus ohne Frau ist kein Zuhause", sagte Mutter, und ich erinnere mich, wie düster es bei unserem Besuch auf uns wirkte. Vater und Sohn machten ebenfalls einen düsteren Eindruck, wenn auch beide sehr gut aussahen. Mutter lud sie häufig zu uns ein, und es zeigte sich bald, dass Alexander Pawlowitsch lieber mit uns als zuhause zu Abend aß. Trotz ihrer politischen Differenzen wurden er und Mutter enge Freunde, und er besuchte uns nahezu täglich. Pawel kam jeden Tag nach der Schule zu uns, und unsere Marfa gab ihm zu essen, wusch und flickte seine Kleidung. In einer Ecke der Küche breitete sie sogar eine Decke für Bea aus, und dieser schöne (und, wie Pawel sagte, treue) Hund wurde zum lebenden Inventar.

Teil 3