Vorgeblättert

Vera Broido: Tochter der Revolution, Teil 1

17.08.2004.
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Heute wird mir bewusst, dass Orte auf mich als kleines Kind mehr Eindruck machten als Menschen. Würde es mir gelingen, die Gesichter, die ich in unserem Familienalbum sehe, Menschen aus meiner frühen Kindheit zuzuordnen? Nein, sie sind bloße Schatten. Meine nächsten Familienangehörigen erkenne ich hingegen eher, sie waren gegenwärtiger. Und wenn sie, wie meine Mutter, mein Vater, Wassili Kondratiewitsch und selbst Nastja (die uns verließ und von Maruscha abgelöst wurde) auch häufig nicht da waren, so doch oft genug, dass ich sie bewusst wahrnahm. Doch die meisten anderen Menschen existierten kaum für mich. Erst sehr viel später, im Alter von sieben oder acht Jahren, nahm ich Fremde wahr. Sie traten aus dem Schatten, aus den Kulissen ins Rampenlicht. 
Orte hingegen hinterließen bei mir einen unmittelbaren und bleibenden Eindruck. Das Innere und Äußere von Häusern, Straßen, Plätzen, Kreuzungen riefen starke Gefühle hervor, eine Art Zuneigung, wenn nicht Liebe. Mein ganzes Leben lang hatte ich Liebesaffären mit Städten und Großstädten. Zunächst war es St. Petersburg, dann folgten Kuragino und Minussinsk in Sibirien und schließlich viele Städte im Ausland.
Unsere Wohnung in St. Petersburg lag am Bolschoi Prospekt, in einem Viertel auf der weniger schicken Seite der Newa. Hatten sie jedoch den Senatsplatz und den Newski Prospekt, Admiralitätsbogen und -turm, die Isaak-Kathedrale und das prächtige Winterpalais, so verfügten wir über die Peter-Paul-Festung und die Uspenski-Kathedrale und, auf der benachbarten Wassiliewski-Insel, über die Universität. Wie dem auch sei, von beiden Ufern war der Blick auf die Stadt unvergleichlich schön. Außer einigen Palästen und öffentlichen Gebäuden und Plätzen gab es in St. Petersburg vor allem vier- bis fünfstöckige Wohnhäuser in breiten Straßen und um einen oder mehrere miteinander verbundene Höfe herum gebaut. In diesen Höfen standen keine Bäume, und es fiel wenig Licht hinein. Die Kinder konnten jedoch in den kleinen Gärten spielen, von denen die Kirchen umgeben waren. Unser nahegelegenster Spielplatz war der Garten der Uspenski-Kathedrale. Dorthin lief ich jeden Morgen, Hand in Hand mit Nastja. In der anderen Hand hielt ich eine Münze umklammert, mit der ich meinen Mittagsimbiss bezahlte. Für zehn Kopeken bekam ich in der Konditorei Filipow eine Fleischpastete (piroschok), während ich mir an anderen Tagen für fünf Kopeken eine köstliche Scheibe frisch gebackenen Brotes mit Butter kaufte.
Der Bolschoi Prospekt war die Hauptdurchgangsstraße unseres Viertels, und die bekannte Konditorei lag nicht weit von unserer Wohnung entfernt. Wenn ich die Konditorei betrat, kam ich mir vor wie im Wunderland. Überall glänzte Gold, hingen große Spiegel und funkelnde Kronleuchter. Doch am beeindruckendsten war das Angebot an Kuchen und Pasteten. Hinter breiten Mahagonitresen befanden sich ebenso breite Regale, auf denen große Tabletts mit Gebäck, Torten oder kleinen Pasteten (piroschki) standen. Sobald ein Tablett halb leer war, tauchten aus dem Nichts weiß gekleidete Küchenjungen auf, um es durch ein volles zu ersetzen. Es war eine Tortur, eine Wahl treffen zu müssen. Es gab so viele unterschiedliche Sorten, allein schon von den piroschki aus Hefe-, Blätter- oder anderem Teig, gefüllt mit Hackfleisch, Reis, Kohl, Lunge oder Fisch und alle fein dekoriert mit Zwiebeln, hart gekochten Eiern und Petersilie. Von den kleinen Kuchen gab es eine unendlich große Auswahl, so dass ich mich gewöhnlich für die Erstbesten auf dem Servierbrett entschied. 
Jeden zweiten Tag gingen Nastja und ich in einen kleinen Lebensmittelladen im Souterrain eines Hauses um die Ecke. In den Seitenstraßen von St. Petersburg gab es viele solcher kleinen Läden: Schuster, Wäschereien, Lebensmittel- und Spirituosengeschäfte, zu denen man vom Bürgersteig aus über sechs bis zehn steile, doch breite Treppenstufen hinab stieg. Die Kundschaft dieser kleinen Läden bestand hauptsächlich aus Handwerkern, Lehrlingen und Dienstpersonal. Wir kauften in dem Lebensmittelladen meistens zwei große Scheiben frisch gebackenen und mit Butter bestrichenen Brotes. Das Brot wurde um die Mittagszeit von einem pummeligen Jungen angeliefert, der einen zweirädrigen Karren mit einem großen Holzbrett vor sich her schob, auf dem sich mehrere mächtig dampfende, noch heiße Brotlaibe befanden. Stets warteten schon eine ganze Menge Leute auf das Brot, und weitere Kunden drängten sich bereits in dem kleinen, mit Waren vollgestopften Laden, um den köstlichen Duft frisch gebackenen Brotes zu schnuppern sowie den Ladeninhaber in seiner gestärkten Leinenschürze zu beobachten, wie er das Brot in Scheiben schnitt und mit gelber Butter bestrich. Jedem von uns wurde dann eine in knittriges Papier gehüllte Scheibe gereicht. Es war himmlisch. 

Diese täglichen Spaziergänge zu den Gärten der Uspenski-Kathedrale markierten den Beginn meiner Erkundung von St. Petersburg. Es sollten allerdings viele Jahre vergehen, bevor ich damit fortfahren konnte. Ich war noch keine sieben Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Die russischen Sozialisten waren gespalten: Während einige argumentierten, es sei richtig, das eigene Land gegen eine grundlose Aggression zu verteidigen, waren andere grundsätzlich gegen jegliche Kriegsbeteiligung. Erstere nannten sich Vaterlandsverteidiger, letztere Internationalisten. Meine Eltern hatten in dieser wichtigen Frage unterschiedliche Auffassungen. Mein Vater war ein Vaterlandsverteidiger, meine Mutter Internationalistin. 
Viele Internationalisten wurden festgenommen, auch meine Mutter. Sie war so oft lange Zeit weg von zuhause, dass ich ihre Abwesenheit kaum bemerkte. Niemand erklärte mir, was ihr widerfahren war. Es war wie ein Schock, als Mutter eines Morgens unangekündigt wieder auftauchte. Nur Nastja und ich waren zuhause. Wie so oft vertrieb ich mir die Zeit im großen, dunklen Korridor und hörte, wie Nastja sich durch das Küchenfenster über den Hof mit einem anderen Hausmädchen unterhielt. Soweit ich mich erinnere, spielte ich an jenem Morgen gerade ›Umzug‹ und hatte ein paar leere Koffer und Kisten aus dem Gästezimmer geholt, als es klingelte. Es war Nastjas Aufgabe, die Tür zu öffnen. Doch sie unterhielt sich noch immer lautstark mit ihrer Freundin und hörte die Klingel nicht. Also öffnete ich die Tür, und da stand meine Mutter mit einem Koffer und einem Bündel. Im Halbdunkel wirkte sie blass und dünn, wie ein Gespenst. "Verotschka!" Sie eilte herein, schloss die Tür hinter sich und zog mich an sich. Wir setzten uns auf ihren Koffer und weinten. Ich habe immer geweint, wenn sie zurückkam, doch ich glaube, dass ich zwischendurch nicht geweint oder sie vermisst habe. Sie kam mir jedesmal zunächst wie eine Fremde vor, und ich war ihr gegenüber ein wenig scheu, doch die Tränen schienen uns wieder zu vereinen.
Bald war die Wohnung voller Leute, Vater, die Kinder und unzählige Freunde und Genossen. Es stellte sich heraus, dass sie für eine Woche aus dem Gefängnis entlassen worden war, um sich reisefertig machen zu können. Sie war "administrativ" (d.h. ohne Gerichtsverhandlung) zu drei Jahren Verbannung nach Westsibirien verurteilt worden. Ihren genauen Aufenthaltsort würde der Gouverneur von Westsibirien festlegen. Eine Woche war keine lange Zeit, um alle Familienangelegenheiten zu regeln. Meine Eltern beschlossen, dass die älteren Kinder in der Obhut von Vater und Großmutter Sara in St. Petersburg bleiben und weiter zur Schule gehen sollten, während ich mit Mutter nach Sibirien fahren sollte. Da die Ferien kurz bevor standen, sollte mein Bruder Danja den Sommer mit uns in Sibirien verbringen und im Herbst wieder in die Schule zurückkehren. 
Seit Mutters erster Verbannung nach Sibirien war die Behandlung der politischen Gefangenen sehr viel humaner geworden. Diesmal musste sie nicht in einem Gefangenenzug fahren, sondern durfte einen normalen Personenzug nehmen. Für die Fahrtkosten musste sie natürlich selbst aufkommen, was die Familienkasse erheblich strapaziert haben dürfte.
Davon sowie von anderen praktischen Problemen ahnte ich nichts. Meine einzige Sorge war, welches Spielzeug ich einpacken sollte, da wir nicht allzuviel Gepäck mitnehmen konnten. Danja war ähnlich zumute. Die Woche verging schnell. Wir fuhren mit dem Zug nach Moskau und reisten von dort mit der Transsibirischen Eisenbahn weiter. Ich vermute, dass wir dritter Klasse gefahren sind, was wir jedoch prächtig fanden. Wir hatten ein ganzes Abteil für uns. Die meiste Zeit lagen mein Bruder und ich flach auf der oberen Liege und ließen die Felder, Wälder, Seen und Flüsse an uns vorbeisausen. Vieh, Leute, Boote und Dörfer kamen uns wie Punkte oder seltsame Formen vor, die wir wegen der Geschwindigkeit des Zuges kaum erkennen konnten. Nah und fern gab es so viel zu sehen. Es war wunderbar, abends einzuschlafen, während der Zug schnaufte, ratterte und quietschte. 
Als wir in den Ural kamen, änderte sich die Landschaft gänzlich. Statt die Weite genießen zu können, waren wir jetzt von hoch aufragenden Bergen umschlossen. Es waren die ersten Berge, die ich je gesehen habe. Sie gefielen mir überhaupt nicht. Ganz im Gegensatz zu der hübschen Sammlung von Halbedelsteinen (nach denen im Ural gegraben wurde), die meine Mutter für mich auf einem Bahnhof gekauft hatte. Die Schatulle sah wie ein großes, dickes Buch aus. Wenn man sie öffnete, kamen kleine, mit Baumwolle gefütterte Fächer zum Vorschein, in denen sich blaue, gelbe, purpurne und rote Steine befanden. Ich ging völlig darin auf, die Steine neu zu arrangieren, ihre exotischen Namen zu lernen oder sie einfach voller Bewunderung anzuschauen.
Jenseits des Urals wurde die Landschaft allmählich wieder flacher. Aufregend waren lediglich das Erraten des nächsten Bahnhofs, der Halt und die Abfahrt. Jedes Mal, wenn der Zug anhielt, herrschte hektisches Treiben, und die Passagiere der dritten Klasse eilten hinaus, um ihre Kessel am Warmwasserhahn mit heißem Wasser zu füllen (keine Reise in Russland ohne Kessel, Teebeutel und Würfelzucker), während man die Wohlhabenderen beobachten konnte, wie sie gemächlich zum Bahnhofsrestaurant schlenderten, um zu essen, zu trinken und verschiedene Luxusartikel zu erwerben. Billigere Nahrungsmittel konnte man bei den Bäuerinnen kaufen, die am entlegenen Teil des Bahnsteigs standen und auf ordentlich auf dem Boden ausgebreiteten sauberen Tüchern ihre Waren anboten - Butter, Milch, Quark (tworog), Hähnchen, Fleisch und Früchte. Es schmeckte alles hervorragend.
Neben dem Restaurant hing deutlich sichtbar die Bahnhofsglocke aus glänzendem Messing. Sie läutete vor der Abfahrt dreimal und sorgte jedes Mal fast für Panik auf dem Bahnsteig, da die Leute rasch noch einmal ihre Kessel füllten oder im Restaurant ihren Wodka austranken, um schnell noch einen weiteren zu bestellen und dann wieder ihre Sitzplätze einzunehmen. Unterdessen schlossen die Gepäckträger und Zugbegleiter die Türen, der in eine prächtige Uniform gekleidete Bahnhofsvorsteher beobachtete das Geschehen, und schließlich wurde das Pfeifsignal gegeben, die Fahne geschwenkt, und der Zug fuhr langsam an und beschleunigte. Der Bahnsteig und der Bahnhof blieben mit all ihren Verlockungen zurück, und wir sausten wieder über die Erdoberfläche. 
Es dauerte drei Wochen, bis wir in Krasnojarsk am Ende unserer Reise angekommen waren. Auf dem Bahnsteig warteten ein paar Frauen und Männer, die sofort als politische Verbannte zu erkennen waren, auf die Neuankömmlinge, die stets herzlich begrüßt wurden. Auf diesem Bahnsteig hatte fünfzehn Jahre zuvor der spätere Bolschewistenführer Lenin auf seinen engen Freund und Genossen Martow gewartet, den späteren Führer der Menschewiki. Wir wurden sofort umringt, und man half uns und begleitete uns zur Wohnung einer der Verbannten, wo wir (wie bereits beschlossen worden war) ebenfalls wohnen sollten. Die Verbannten in Sibirien waren immer gut informiert, sie wussten stets, wer wann als nächster ankommen und welche Zeitungen und Journale sowie Briefe von Freunden und Verwandten mitbringen würde. Jedes Mal herrschte eine freudige Stimmung.
In Krasnojarsk residierte der Gouverneur von Westsibirien, der den Verbannten ihren Wohnsitz in der Region zuwies. Nachdem wir ein paar Tage gewartet hatten, wurde Mutter mitgeteilt, dass sie nach Kuragino geschickt würde, ein Dorf im Kreis Minussinsk, nicht weit von der Ortschaft entfernt, in der Lenin vierzehn Jahre zuvor gelebt hatte. Wie Lenin konnten wir froh sein, in dieses Gebiet geschickt zu werden. Das Klima ist dort sehr angenehm. Hätte man uns gen Norden geschickt, wären wir womöglich, wie so viele Verbannte, in den schrecklichen Sümpfen von Turuchansk gelandet. Dieses Schicksal hatte Martow erlitten und sich dort seine Gesundheit ruiniert.
Per Dampfer fuhren wir fünf Tage und Nächte den Fluss Jenissej hinauf, der so breit ist, dass wir das gegenüberliegende Ufer nicht sehen konnten, wenn wir auf der anderen Seite anlegten. Nach der Zugfahrt bot die Schiffahrt ein neues vergnügliches Abenteuer. Am ersten Tag schipperten wir durch die Schlucht von Krasnojarsk. Hier verengt sich der Fluss und wird auf beiden Seiten von hohen, roten Felsen flankiert. Die Schlucht ist berühmt, ich war allerdings zu sehr damit beschäftigt, unsere neue Unterkunft zu erkunden, um mich an deren Anblick zu erfreuen. Es gab so viel zu sehen und zu tun. Ich kletterte über die schmalen, steilen Treppen von Deck zu Deck, bestaunte die Rettungsboote und die großen Rollen mit den dicken Tauen, linste durch das Bullauge und testete die Schlafkojen in unserer Kabine. Es tat mir kein bisschen Leid, dass wir nach Sibirien verbannt wurden!
Am dritten Tag tauchte eine große Insel vor uns auf, die mit einem hohen, weißen Kuppeldach bedeckt zu sein schien. In Wirklichkeit war sie mit den weißen Blüten der Traubenkirsche (tscherjomucha) überzogen. Der schwere, honigsüße Duft drang in Schüben zu uns herüber. Es war ein großartiger Anblick. Die Traubenkirsche ist ein hoher Baum mit schweren weißen Blüten. In Westeuropa habe ich den Baum nirgends gesehen, die Russen aber lieben ihn, und ich glaube, dass es keinen anderen Baum gibt, außer vielleicht die Akazie, der sich mit ihm vergleichen ließe. Wir rannten alle zur Reling und schrien vor Aufregung, während das Schiff langsamer wurde und genau gegenüber der weißen Insel vor Anker ging. Wir konnten den Kapitän überreden, uns in kleinen Booten an Land rudern und dort spazieren gehen zu lassen. An Land griff sich jeder soviel Zweige der Traubenkirsche wie nur möglich, einen ganzen Arm voll. Die Schiffssirene hatte schon ein paar Mal geheult, bevor wir an Bord zurückkehrten. Wir müssen wie ein wandelnder Blumenwald ausgesehen haben. Das ganze Schiff war mit den hübschen weißen Zweigen dekoriert, und der schwere Duft erfüllte Tag und Nacht die Luft. 

Am Kai von Minussinsk warteten wieder Freunde und Genossen, um meine Mutter willkommen zu heißen. Es waren zu viele, um sie unterscheiden zu können. Ein paar Tage später mussten wir erneut weiter. Mit einer Pferdekutsche unternahmen wir die einen Tag dauernde Fahrt zu dem Dorf Kuragino. Dort lebte nur ein einziger Verbannter, der jedoch informiert worden war, dass wir eintreffen würden, und der uns eine Unterkunft beschaffen sollte. Wir passierten eine Absperrung und gelangten auf die breite Straße des Dorfes. Der erste Eindruck von diesem sibirischen Dorf war: wohlhabend, sauber, großzügig angelegt. Die Häuser waren alle von gleicher Bauart: Holzhäuser (isbi) mit breiter Front und großen, bunt gestrichenen sowie mit kunstvollen Schnitzereien versehenen Fenstern und hellroten Geranien auf den Fensterbänken. Zwischen den Häusern befanden sich breite, hohe Massivholz-Tore. Vor den meisten der Häuser standen Holzbänke.
Der im Dorf wohnende Verbannte erwies sich als großer, schlaksiger, sehr hilfsbereiter junger Mann, der ein Holzhaus für uns gefunden hatte. Er führte uns hin und erklärte uns alles. Das Haus stand an der Hauptstraße, der einzigen Straße des Dorfes, und war mit einfachen, aber soliden Möbeln ausgestattet, die Küche komplett eingerichtet. Im Hof befanden sich eine kleine Badestube (isbuschka) sowie einige Nebengebäude, Ställe und Scheunen (die wir nicht nutzten). Am Ende des Hofes erstreckte sich ein kleiner Gemüsegarten. Es war ein komplettes Bauernanwesen.
Während der junge Mann und meine Mutter sich an den Tisch setzten und miteinander sprachen, rannten mein Bruder und ich umher und erkundeten das Anwesen. Der bei weitem interessanteste Raum war die Küche, jeder anderen russischen Bauernküche sehr ähnlich, doch sauberer und heller. Wir hatten noch nie in einem Bauernhaus gewohnt und waren begeistert, nun eines für uns zu haben. Betrat man das Haus - ein paar Holzstufen hinauf und durch einen geräumigen Vorbau -, gelangte man zunächst in die Küche, ein langer Raum, der durch einen an der rechten, weiß getünchten Wand verlaufenden Vorsprung schmaler wirkte, als er tatsächlich war. Dieser Vorsprung erstreckte sich im obersten Drittel der Wand fast über deren ganze Länge und endete in einem Backofen. Wir stellten fest, dass es sich um einen traditionellen russischen Ofen (petsch) handelte. Der lange Mauervorsprung war ein horizontaler Schornstein, durch den der Rauch und die Hitze durch die ganze Küche zogen, bevor sie nach draußen ausgestoßen wurden. Wenn der Ofen beheizt war, diente er nicht nur als Koch- und Backstelle, sondern wärmte auch die Küche und sogar das Nachbarzimmer. Über dem Ofen, wo gewöhnlich die alten, kranken und sehr jungen Menschen schliefen, war es mollig warm und besonders heimelig. Dieses geniale Zentralheizungssystem hat meinen Vater, der ein ausgebildeter Ingenieur war, stets begeistert. Er betonte immer wieder gerne, dass der russische Bauer, dem so oft nachgesagt werde, dass er schmutzig und dumm sei, über einige technische Errungenschaften verfüge, die das Gegenteil bewiesen, zum Beispiel einen Wasserbehälter (rukomojonik), der fließendes Wasser zum Waschen liefert. Der zylindrische Behälter ist an der Seite, an der er an der Wand befestigt ist, etwas abgeflacht und kann von oben aufgefüllt werden. Unten befindet sich eine Öffnung, aus der ein Holz hervorragt. Schaut man in den Zylinder, sieht man, dass dieses Holz oben breiter wird, einen pilzähnlichen "Hut" hat, der den Zylinder verschließt. Wird das Holz nach oben gezogen, kann das Wasser frei fließen. Komplettiert wird das Ganze durch ein kleines Gestell mit einer Porzellanschüssel. Vater sagte, dass petsch und rukomojonik im Ausland unbekannt seien, während der weniger geniale und nicht mit dem viktorianischen Teespender zu vergleichende Samowar zu Unrecht berühmt sei.
In unserer Küche hatten wir einen petsch, einen Samowar und einen hübsch verzierten rukomojonik. Im Hof befand sich die Badestube (banja), eine Holzhütte mit einem kleinen Vorraum, in dem sich der Ofen befand, sowie einem zweiten, quadratischen Raum mit großen Bottichen für heißes und kaltes Wasser und hölzernen Schöpfkellen. In einer Ecke befanden sich die Schwitzbänke. Je höher man auf diesen Bänken saß, desto heißer war es und desto mehr schwitzte man. Neben der Badestube galt es noch weitere Gebäude zu erkunden, doch meine Mutter rief nach uns, weil wir ihr beim Auspacken helfen sollten.

Teil 2