Vorgeblättert

Remco Campert: Eine Liebe in Paris. Teil 1

18.07.2005.
1

Der Schriftsteller Richard Sanders stand vor dem Eingang eines Hotels an der Place du Pantheon. Über den weiten Platz, beherrscht von dem Monument, in dem die Asche der großen Franzosen ruht, blies ein rauher Märzwind.
     Er war gerade erst in Paris angekommen. Von seinem Zimmer aus blickte man nicht auf den Platz, sondern in einen dunklen cour. Am Himmel trieben graue Wolken. Er packte schnell seinen Koffer aus, verließ das Zimmer, bestellte an der Rezeption ein Taxi und ging nach draußen, um auf das Taxi zu warten. Der Morgen war fast vorüber. Wirklich hell würde es heute nicht mehr werden.

Da kam sie vorbei, eine gut gekleidete, elegante Frau, wie man sie in Paris öfter sah als bei ihm zu Hause in Amsterdam. Er musterte sie flüchtig. Ende Vierzig, vielleicht Fünfzig, schätzte er automatisch, auf jeden Fall jünger als er. Kurzes schwarzes Haar, ein schönes, blasses Gesicht mit einem kleinen, verlockenden Mund. Im Vorbeigehen blickte auch sie ihn kurz an. Auf ihrem Gesicht erschien ein ungläubiges Lächeln, sie blieb stehen und sagte: "Rik?"
     Sie nannte ihn bei dem Namen, den er früher benutzt hatte, in einer Phase seines Lebens, als er "Richard" zu feierlich fand, zu gesetzt. Er entsprach nicht jener Vitalität, die er damals in sich verspürte. Nie hatte er ein Richard werden wollen, ein erwachsener Mann, der sich mit der Gesellschaft ausgesöhnt hatte.
     Er versuchte, die Frau, die ihn jetzt erwartungsvoll anblickte, in seiner Erinnerung wiederzufinden. Situationen, zu denen ihr Gesicht gehören könnte, Räume, Straßen er ließ sie alle Revue passieren, aber sie paßte nirgends hinein.
     Du weißt nicht, wer ich bin, nicht wahr?" fragte sie.
     Ihre Stimme klang weder vorwurfsvoll noch gekränkt. Sie stellte eine Frage, die zugleich eine Feststellung war.
     "Es ist schrecklich", sagte Richard beinahe beschämt. "Mein Gedächtnis ..."
     "Es ist lange her", sagte sie wie zum Trost, als sie seinen gequälten Blick sah. Aber sie hatte ihn erkannt.
     Gab ihre Stimme einen Hinweis? Sie klang heiser, und er hatte eine Schwäche für heisere Stimmen. Sie sprach mit leichtem (französischem?) Akzent, aber das brachte ihn nicht weiter.
     Allerdings sah er Bilder vor sich, die auf den ersten Blick nichts mit ihr oder mit ihm zu tun hatten, wie sie da in dem noch grauer werdenden Licht auf der Place du Pantheon standen.
     Er sah einen Kanal in einer flachen holländischen Landschaft, Wolken spiegelten sich im Wasser, in der Ferne eine Eisenbahnbrücke. Hatte er das jemals in Wirklichkeit gesehen? Oder war auch das keine Erinnerung? Hatte er überhaupt an einem windigenTag, an dem ab und an die Sonne durchbrach, am Ufer diesesKanals gestanden?
     Oft schienen sich Richard Bilder aus einer anderen Wirklichkeit aufzudrängen. Sie meldeten sich ohne sein Zutun. Als fände tief in seinem Unterbewußtsein eine nicht enden wollende Vorstellung statt, von der er in Augenblicken, die er sich nicht aussuchen konnte, einen Abglanz zu sehen bekam.
     Die meisten Bilder verschwanden ebenso schnell wieder, wie sie gekommen waren. Mitunter blieb eines hartnäckig hängen, als wollte es ihm etwas deutlich machen. Das gab dann Stoff für ein Gedicht oder für eine Erzählung.
     "Aber Sie erinnern sich an mich", sagte Richard, zurück im Hier und Heute.
     "Ich habe anscheinend keinen großen Eindruck gemacht ", sagte sie neckend.
     "Nein, nein, es ist mein Gedächtnis. Ich vergesse sogar den Geburtstag meiner Frau. Unverzeihlich. Sagen Sie mir Ihren Namen, bitte."
Idiot! Warum erwähnte er seine Frau? Aus Selbstschutz?
     "Nur, wenn du nicht mehr Sie zu mir sagst."
     "Entschuldige."
     "Sacha Lefort. Aber als wir uns kannten, hieß ich noch Sacha van Munster. Das sagt dir auch nichts, wie ich sehe."
     "Lebst du in Paris?" "
     Schon seit Jahren. Aber von hier kennst du mich nicht."
     "Hilf mir."
     "Und wozu?"
     Trotz des lockeren Tons, in dem sie miteinander redeten, war ihm, als handle es sich um ein sehr ernstes Gespräch.
     "Du kannst mich nicht so zurücklassen. Ich werde an nichts anderes mehr denken können."
     "Die Idee gefällt mir."
     Aus der Rue Soufflot kam ein Taxi, das vor dem Hotel hielt.
     "Mein Taxi", sagte Richard.
     "Ich will dich nicht aufhalten."
     "Warte doch eben, bitte", flehte Richard. Er ging zum Taxi und bat den Fahrer um etwas Geduld.
     Sacha Lefort war langsam weitergegangen. Mit ein paar raschen Schritten holte Richard sie ein.
     "Sacha..."
     "Wir sind uns auf der Straße begegnet. Eigentlich genau wie jetzt."
     "Bin ich da auch hinter dir hergelaufen?"
     Sie lächelte und schüttelte den Kopf.
     "Ich bin zu alt für Rätsel. Wo war es?"
     Vom dunklen Himmel fiel plötzlich eine Mischung aus Regen und nassem Schnee auf den Platz. Sie griff in ihre Tasche und holte einen Faltschirm heraus.
     "In Antwerpen. Am Botanischen Garten in der Leopoldstraat. Ich muß jetzt wirklich gehen." Während sie den Schirm aufspannte und ihn den Windstößen und dem Regenschauer entgegenhielt, lief sie schnell weiter. Er blieb verwirrt zurück. Noch einmal konnte er doch kaum hinter ihr herlaufen.
     Er blickte ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden war, und versuchte, in ihrem Gang etwas von früher wiederzufinden (war sie ihm schon einmal davongelaufen?). Dann stieg er eilig ins Taxi. "Editions Mondial. Rue de Verneuil."
     Der Taxifahrer, ein aufgedunsener Mann in einem grauen ausgeleierten Pullover, nickte kurz. An der Scheibe klebte das Farbfoto einer Frau mit zwei Kindern. Die Frau wirkte traurig, die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zogen beleidigte Gesichter, als machten sie ihrem Vater Vorwürfe.
     Während das Taxi wendete und rechts in den Boulevard Saint-Michel einbog und der Taxifahrer sich über das schlechte Wetter beklagte, dachte Richard an die Zeit in Antwerpen zurück. Es war eine Phase seines Lebens, an die er sich ungern erinnerte. Kurz gesagt, er war immer betrunken gewesen, und die Frau, mit der er zusammenlebte, verließ ihn schon bald. Ob das eine die Folge des anderen gewesen war oder umgekehrt, wußte er nicht.
     Er sah die Leopoldstraat vor sich, das Krankenhaus, das Gitter entlang dem Botanischen Garten, die Antiquitätenhändler und Modegeschäfte gegenüber, das Theater am Ende der Straße.
     Es war Sommer, acht Uhr morgens, die Straßenbahnschienen glänzten im Sonnenlicht.
     Rik kam aus dem Krankenhaus, wo man ihn in der Notaufnahme verbunden hatte. In einem Cafe, in dem bis weit in den Tag hinein Nacht herrschte, hatte ihm jemand, der keine Holländer mochte, ein Bierglas ins Gesicht gedrückt. War Sacha dabeigewesen?
     Jetzt fuhr er an der Seine entlang, auf dem Quai des Grands Augustins. Der Taxifahrer saß über den Lenker gebeugt und schaute angestrengt durch die hin- und herpeitschenden Scheibenwischer.


2

Editions Mondial war ein kleiner Verlag, der sich seit langem auf Reiseführer spezialisiert hatte, was genügend einbrachte, um daneben ein feines literarisches Programm herauszubringen.
     Das Büro lag im Innenhof eines alten Stadtpalais, einst bewohnt von einer vornehmen Familie, jetzt aufgeteilt in zahllose kleine Appartements, in denen Menschen lebten, die einander nicht kannten.
     Richard meldete sich an der Rezeption. Gleich darauf lief er durch einen endlos langen Flur, vollgestapelt mit Büchern. Sie erweckten den Eindruck, als würden sie diesen Ort nie mehr verlassen. Auf einigen Stapeln standen Gläser und Kaffeetassen.
     Alain Mitron, der Verleger, saß an seinem Schreibtisch und telefonierte, als Richard eintrat. Er winkte ihm zu und deutete auf einen Stuhl. Er war jung, groß und dünn. Mitten auf seinem kahlen Schädel prangte eine hochgeschobene Sonnenbrille. Schnell beendete er das Gespräch, kam um den Schreibtisch herum und umarmte Richard, wobei ihm seine Sonnenbrille auf die Nase rutschte.
     "Richard, my friend, there you are."
     Jedesmal, wenn er Richard sah (dies war jetzt das dritte Mal), erprobte er sein Englisch an ihm.
"Das war die Assistentin von Pivot", sagte er und zeigte auf das Telefon. "Ich tu mein möglichstes, um dich in seine Fernsehsendung zu bekommen."
     "Und klappt es?"
     "Bernard hatte noch keine Zeit, L'art d'oublier zu lesen. Er läßt von sich hören. Erzähl, hattest du eine angenehme Reise?"
     Einer der Gründe, die Richard Sanders nach Paris geführt hatten, war das Erscheinen der französischen Übersetzung seines Buches Die Kunst des Vergessens, einer Sammlung poetischer Prosatexte, oft nicht länger als eine Seite. Es war ein Genre, das in den Niederlanden immer mit einigem Mißtrauen betrachtet wurde (bekam man auch was für sein Geld?), aber in Frankreich mühelos ankam. Aus diesem Anlaß würden Interviews mit ihm organisiert werden, ein Auftritt bei Pivot und natürlich eine öffentliche Präsentation mit Pressefotografen, hatte Alain geschrieben.
     "Ich habe eine Überraschung für dich", sagte Alain strahlend. "Die Buchpremiere wird in der Galerie Delano stattfinden, während der Vernissage deines Freundes Tover."
     Die Ausstellung war ein weiterer Grund, weshalb Richard in Paris war. Mit Tover, der eigentlich Ton Verstrijden hieß, sich aber schon in der Schule einen Künstlernamen zulegte, hatte er während der ersten vorsichtigen Anfänge seines Schriftstellerdaseins eine Zeitlang in Paris zusammen gewohnt. Mittlerweile war Tover berühmt geworden. Daß er Tover kannte, hatte er Alain einmal bei einem Essen in Amsterdam erzählt, und der hatte sich das offensichtlich gemerkt.
     "Aber jetzt willst du natürlich dein Buch sehen!" sagte Alain. Er nahm eines von dem kleinen Stapel, der auf seinem Schreibtisch bereitlag, und überreichte es Richard feierlich, der es mit der gebührenden Dankbarkeit und Begeisterung entgegennahm.
     "Es sieht gut aus. Schöne Schrift."
     "Wie findest du den Umschlag?" Der Umschlag zeigte das Foto einer nackten Frau, die halb hinter einer durchsichtigen grauen Wolke verborgen war.
     "Gut. Aber warum eine nackte Frau?"

Teil 2

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