Vorgeblättert

Remco Campert: Eine Liebe in Paris. Teil 2

18.07.2005.
"Es geht um die Wolke", sagte Alain, während er eine Flasche Champagner aus dem kleinen Kühlschrank hinter sich nahm.
     "Die Wolke steht für Vergessen. Auf dem ersten Entwurf war eine Landschaft, aber die sprach nicht an. Eine nackte Frau erregt immer Aufmerksamkeit. Außerdem kommt sie in deinem Buch vor."
     "Bist du sicher?"
Alain blätterte im Buch, bis er die Textstelle gefunden hatte.
     "Un nuage gris cachait son corps." "
     Das hatte ich vergessen", sagte Richard.
     Er ging in Antwerpen über die Suikerrui in Richtung der Hafenkneipen an der Schelde. Es war zehn Uhr abends, ein gemeiner Wind fegte durch die Straßen, die so gut wie verlassen dalagen. Irgendwo in einem Teil seines Gedächtnisses, vor den sich graue Wolken geschoben hatten, mußte Sacha van Munster zu finden sein.
     Zum Lunch gingen sie in ein Restaurant um die Ecke, in der Rue du Bac. Unten in der Toilette besah er sich das Exemplar von L'art d'oublier noch einmal. Wirklich zufrieden war er nicht. Ästhetisches Wortgeklimper, dachte er verdrossen, vor allem im Französischen. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Alain einen seiner Romane verlegt hätte, aber darauf war Alain nicht eingegangen. Zuerst L'art d'oublier, gleichsam zur Einführung von Richards Namen. Im Jahr 2000 würde er mit einer Romanreihe beginnen. Reisten die Figuren in Richards Romanen?
     Vergessen war keine Kunst, eher eine Schwäche. Oder eine feige Flucht ins Nichts. Diese Sucht, nichts zu bewahren, um immer wieder unbelastet aufs neue beginnen zu können, würde ihn auf die Dauer zugrunde richten. Wenn er irgendwann auf dem Sterbebett lag und keine Zukunft mehr vor sich hatte, woran sollte er dann, bar aller Erinnerungen, noch denken?
     Würde er in diesen letzten Augenblicken Bilder vor sich sehen, und wenn ja, welche?Die Angst, mit dem falschen Bild vor Augen vom Tod überrascht zu werden, schnürte ihm dieKehle zu. Es wäre ein bitterer Abschluß seines Lebens. Niemand würde wissen, was er sah, und er hätte keine Chance mehr, das Bild zu korrigieren.
     Beim Händewaschen betrachtete Richard sich im Spiegel. Er sah ein müdes altes Gesicht und dünne graue Haarsträhnen, die am Schädel klebten. Davon, daß er einmal jung und für manche Leute sogar anziehend gewesen war, konnte er in diesem vom Leben gezeichneten Gesicht nichts mehr entdecken.
     Dennoch mußte irgendwo in seinem Gesicht noch etwas von früher sein, denn schließlich hatte Sacha ihn erkannt. Wahrscheinlich gehörte es nicht zu seinen Stärken, sich selbst einmal kritisch zu betrachten. Oder war es, im Gegenteil, unversehens längst Zeit, und er täte gut daran, sich zu beeilen?
     Im Vorraum zu den Toiletten telefonierte ein Mann in einem zerknautschten Sommeranzug, um den Hals einen zartvioletten Schal. Sein langes blondes Haar hing ihm ins Gesicht, auf seinen blassen Wangen waren rote Flecken, wie mit Rouge gemalt. Er hatte einen Dreitagebart. Der schale Geruch von Rotwein umgab ihn.
     "No, I told you, my creditcard was stolen in the metro", sagte der Mann mit verzweifeltem Nachdruck, als Richard an ihm vorbeiging und die enge Steintreppe hinaufstieg, die ihn ins Restaurant zurückbrachte.
     Noch keine vierzig, dachte er.
Seit Richard sechzig geworden war, taxierte er automatisch bei jedem, dem er begegnete, dessen Alter. Immer mehr Menschen waren jünger als er. Ihre Zahl würde nur noch zunehmen, bis sie ihn am Ende alle zusammen über die Kante stießen. Inzwischen las er voller Hingabe Todesanzeigen. Auch unter den Verstorbenen gab es manchen, der jünger war als er. Wenn er eine solche Anzeige las, konnte er ein Gefühl der Zufriedenheit nicht unterdrücken: Den hatte er wenigstens überlebt.
     Aber die meisten waren in einem Alter, das jetzt auch für ihn in greifbarer Nähe lag. Lange war ihm das Leben endlos erschienen. Er hielt die Zügel der Zeit fest in der Hand und konnte sie, ohne die Kontrolle zu verlieren, unbegrenzt schleifen lassen. In einem unbemerkten Augenblick aber hatte er die Kontrolle verloren. Die Zeit hatte sich von ihm befreit und raste ungebändigt, wohin sie wollte. Ein Ereignis, von dem Richard meinte, es läge ein Jahr zurück, war in Wirklichkeit schon vier oder acht Jahre her. Die Rollen waren vertauscht: Jetzt spielte die Zeit mit ihm.
     Das Stimmengewirr der Gäste im Restaurant, übertönt von den Rufen der Kellner, die auf dem Weg zur Küche lautstark ihre Bestellungen aufgaben, munterte ihn auf. Nichts war von einer solchen Vitalität wie die Stunde des Lunch in Paris. Er bewunderte es, mit welcher Effizienz das Personal arbeitete. Jede Sekunde war ausgenutzt, nie stand jemand müßig herum, und doch herrschte keine Hektik. Die Gäste schienen geradezu übereinander an den viel zu kleinen Tischen zu sitzen, deren Größe seit Ewigkeiten gleich geblieben war, aber saß man einmal, dann paßte alles ausgezeichnet, auch für große Nordländer.
     Sein Verleger hatte einen Stammplatz. Schon Alains Vater, der seinem Sohn die Leitung des Verlags übertragen hatte und jetzt seinen Lebensabend in der Provence verbrachte, war hier Gast gewesen. Stammplätze, Gewohnheiten, an denen nicht zu rütteln war, Richard hatte in seinem eigenen Leben nie viel dafür übrig gehabt, aber hier genoß er es und fühlte sich eingebunden in ein System, das durch seine Unverrückbarkeit Geborgenheit ausstrahlte.
     Während Alain den Wein kostete, sah Richard hinter ihm im Spiegel den Engländer die Treppe heraufkommen. Er bahnte sich schwankend, indem er hier und da an einer Stuhllehne oder der Schulter eines irritiert hochblickenden Gastes Halt suchte, seinen Weg zum Ausgang. Auch Alain folgte ihm mit den Augen, und Richard sah ihn erleichtert aufatmen, als der Engländer die Tür des Restaurants hinter sich schloß.
     "Kennst du ihn?" fragte Richard.
     Alain nickte mißmutig.
     "Christopher Burns, einer meiner Autoren. Wenn Engländer anfangen zu trinken, finden sie kein Ende."
     "Was schreibt er?"
     "Ich habe nur ein Buch von ihm herausgebracht, Un amour a Hongkong. Es ist vor einem halben Jahr erschienen. Seitdem hängt er hier rum."
     "Verkauft es sich?"
     Alain verzog das Gesicht. "Man hat ihm die Kreditkarte in der Metro gestohlen", sagte Richard.
     Alain hob vielsagend die Schultern.
     "Das sagt er, ja."
     "Glaubst du ihm nicht?"
     "Lassen wir das. Die rognons de veau sind hier sehr gut."
     "Das Essen in Frankreich ist immer gut."
     "Schön wär s", sagte Alain. "Es wird immer schlechter. Die besten französischen Köche verschwinden nach Amerika. Da verdienen sie mehr. Das amerikanische Geld vergiftet alles. Europa ist verloren. Eine intellektuelle Diskussion findet nicht mehr statt. Die Politik wird von zweitrangigen Figuren bestimmt. Seit Jahren breitet sich Resignation aus. Amerika hat uns kaputtgemacht."
     "Ihr seid schon immer gegen Amerika gewesen."
     "Die Amerikaner sind auf dem Weg zur Weltherrschaft. Und auf diesem Weg werden sie eines Tages stolpern, das lehrt uns die Geschichte. Das Chaos, das dann entsteht - davon kann sich kein Mensch eine Vorstellung machen."
     Vor Richards Augen erschien das Bild einer Straße, voller Schlamm und Pfützen, die auf der einen Seite von einer hohen Fabrik- oder Gefängnismauer, auf der anderen von einer endlosen Müllhalde begrenzt war, wie in Dritte-Welt-Ländern. Es war Nacht. Grelles Scheinwerferlicht beleuchtete die Szene. Sie ähnelte einem Filmset. Nur die Schauspieler fehlten.
     Nach dem Lunch lief er über den Boulevard Saint- Germain zurück in Richtung seines Hotels. Es regnete nicht mehr, aber der kalte Wind hatte freies Spiel und zerrte an seinen Kleidern. Die vorbeifahrenden Taxis waren ausnahmslos besetzt. Dies war die Stunde, um mit einer Freundin ins Bett zu gehen. Er dachte an Sachas kleinen Mund.

Mit freundlicher Genehmigung des Arche-Verlages

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