Vorgeblättert

Loretta Napoleoni: Die Ökonomie des Terrors, Teil 2

23.02.2004.
Tschetschenien: Beispiel eines Raubkrieges

Im trostlosen Universum der Ökonomie des Terrors ist Tschetschenien zum Opfer eines Raubkrieges geworden.(14) In den letzten zehn Jahren haben russische Soldaten nach und nach die traditionelle Wirtschaft des Landes zerstört, eine Tatsache, die zur Radikalisierung des Konflikts geführt und letztlich islamistischen Terrororganisationen den Weg geebnet hat. Dieser Prozess reicht bis zum Jahr 1862 zurück, als Tschetschenien nach einem halben Jahrhundert des Widerstands dem Russischen Reich einverleibt wurde. 1918 erlangten die Tschetschenen de facto für kurze Zeit die Unabhängigkeit, bis die Rote Armee 1920 einmarschierte und das Land der Sowjetunion eingliederte. 1944 ordnete Stalin die Deportation aller Tschetschenen - damals eine halbe Million Menschen - nach Sibirien an; Dörfer und Städte wurden zerstört. Erst in den fünfziger Jahren durften die Überlebenden in ihre Heimat zurückkehren, nachdem Nikita Chruschtschow sich von der Politik Stalins losgesagt hatte. Als in den neunziger Jahren die Sowjetunion zerfiel, rief die tschetschenische Nationalkonferenz, an der Vertreter aller politischen Gruppen teilnahmen, die Unabhängigkeit aus. Russland widersetzte sich dieser Entscheidung und begann 1994 den ersten Tschetschenienkrieg.

Die wirtschaftlichen Motive des russischen Vormachtanspruchs hängen mit der strategischen Bedeutung Tschetscheniens für die russische Politik und in jüngster Zeit auch mit der russischen Öl- und Gaspipeline zusammen, die durch Tschetschenien verläuft.(15) 1999 ist Russland erneut in Tschetschenien einmarschiert, diesmal aufgrund der Eskalation der Gewalt, die der Krieg hervorgerufen hatte. Man wollte den Terrorangriffen in Moskau, den Geiselnahmen, dem Vordringen tschetschenischer Kämpfer nach Dagestan und so weiter Einhalt gebieten. Die Zahl der Opfer aus beiden Kriegen ist erschreckend: 100.000 Zivilisten kamen ums Leben, das entspricht zehn Prozent der Vorkriegsbevölkerung; mehr als 200.000 Flüchtlinge verließen das verminte, vor Waffen strotzende Land. Schließlich brach der Staat zusammen, und in dem entstandenen Vakuum konnten Warlords und bewaffnete Gruppen ihre Macht entfalten. Bis dahin lebten nur wenige Araber in Tschetschenien - ein traditionell säkulares Land, auch wenn es überwiegend von Muslimen bewohnt wird.

Der Zusammenbruch des Staates öffnete islamistischen bewaffneten Organisationen, darunter Anhänger bin Ladens, Tür und Tor, und bald bekannte sich die vordem säkulare Widerstandsbewegung zu einem radikalen Fundamentalismus. Russische Truppen haben aus einem Land, das einst reich an natürlichen Ressourcen war, eine Anhäufung von Schattenstaaten gemacht, die als Umschlagplätze für den Drogen- und Waffenhandel dienen. Seit zehn Jahren überlebt Tschetschenien durch eine reine Subsistenz- und Raubkriegswirtschaft. Warlords, islamistische Kampfgruppen und russische Soldaten saugen aus, was von der Bevölkerung noch übrig ist. Die fortschreitende Kriminalisierung der Wirtschaft durch Drogenhandel, Schmuggel, Geldwäsche, Entführungen und so weiter ist zur Haupterwerbsquelle geworden. Die Folgen für die Bevölkerung sind tragisch: Vertreibung, Elend und Tod.

Raub-, Guerilla- und Kriegshandelswirtschaft sind Bestandteile der neuen Konflikte. Es sind Konflikte, die unter Nichtbeachtung internationaler Kriegskonventionen von bewaffneten Gruppen, Schattenstaaten, aber auch rechtmäßigen Staaten ausgetragen werden. Häufig wird die Fortsetzung dieser Kriege zum Selbstzweck, so wie in Afghanistan. Wenn dies geschieht, so legitimiert der Kriegszustand in den Augen der bewaffneten Gruppen den Gebrauch von Gewalt, um wirtschaftlichen Profit und politische Macht zu gewinnen und zu erhalten. In den neunziger Jahren war Afghanistan ein Land ohne staatliche Struktur, aufgeteilt in zwei größere Schattenstaaten, die einander bekriegten; die Taliban und die Nordallianz herrschten dank einer Kriegswirtschaft, die auf der Herstellung von Drogen, auf Schmuggel, Waffenhandel und Hilfe von außen beruhte. Krieg erzeugt folglich alternative Profit-, Macht- und Schutzmechanismen. Die afghanische Rauschgiftindustrie, die größte der Welt, wurde während des antisowjetischen Dschihad durch den ISI in Zusammenarbeit mit den Mudschaheddin aufgebaut, um den Krieg gegen Moskau zu finanzieren. Als die Terrororganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) in Selva Alta Einzug hielt, schuf sie sich in diesem von ihr kontrollierten Gebiet eine wirtschaftliche Hochburg. Zur Finanzierung ihres Kriegs gegen die peruanische Regierung benutzten die Senderistas die Gewinne aus der Kokaproduktion. 

Diamanten gegen Waffen

In Ländern mit wertvollen Bodenschätzen wie Gold und Diamanten beuten Terrorgruppen und Schattenstaaten diese Ressourcen aus, um die Kriegswirtschaft in Gang zu halten. Dies war auch bei der Revolutionären Einheitsfront (RUF) in Sierra Leone der Fall, das zu den führenden Anbietern auf dem internationalen Diamantenmarkt zählt. 1991 drang die RUF unter Führung von Foday Sankoh von Liberia aus in das Land ein und brachte die Diamantminen unter ihre Kontrolle. Im Jahr 2000 beliefen sich die Einnahmen der RUF aus dem Diamantenverkauf auf 25 bis 125 Millionen Dollar.(16) Der Handel mit Diamanten diente auch dem Machterhalt und der Bereicherung der Anführer bewaffneter Gruppen, die später zu Staatschefs aufstiegen: Charles Taylor, Präsident von Liberia, und Blaise Compaore, Staatschef von Burkina Faso. Anfang der neunziger Jahre halfen Taylor, Compaore und Ibrahim Bah, ein Senegalese, der im antisowjetischen Dschihad kämpfte, ihrem Freund Sankoh, die Diamantvorkommen von Sierra Leone an sich zu reißen.(17) Gemeinsam betrieben sie einen regen Tauschhandel, bei dem Waffen und Munition nach Burkina Faso oder Liberia geliefert und dann als Schmuggelware an die RUF weitergegeben wurden; bezahlt wurde in Diamanten. Leute wie Victor Bout, ein ehemaliger Offizier der sowjetischen Luftwaffe, versorgten Afrika über zehn Jahre lang mit Waffen und schmuggelten im Gegenzug Diamanten außer Landes. Dieser illegale Handel erreichte erstaunliche Dimensionen. So wurden im Jahr 1999 Diamanten im Wert von 75 Millionen Dollar über diese Kanäle ausgeführt; diese unverzollten, nirgends verbuchten Exporteinnahmen versorgten die RUF und ihre Partner mit Waffen, Munition, Treibstoff, Nahrungsmitteln und Medikamenten.(18)

Die Kriegsökonomie der RUF beschränkte sich nicht auf ihre afrikanischen Nachbarn, sie ist vielmehr Bestandteil der Neuen Ökonomie des Terrors. 1998 handelte Ibrahim Bah ein Geschäft mit Mitgliedern des bin-Laden-Netzwerks aus. Bah brachte Abdullah Ahmed Abdullah mit Sam Bokerie, besser bekannt als Moskito, zusammen, einem führenden Mitglied der RUF. Bei dem Geschäft wurden Rohdiamanten im Wert von zig Millionen Dollar gegen Waffen und Bargeld getauscht. So konnte al-Qaida für ihr Drogengeld leicht veräußerbare Ware kaufen. Aziz Nassour, ein libanesischer Diamantenhändler, veräußerte einen Teil der Steine für sechs Millionen Dollar auf dem Weltmarkt.(19) Zwischen Dezember 2000 und September 2001 baute Nassour angeblich ein Kuriersystem auf, über das Diamanten im Wert von 300.000 Dollar geschleust wurden. Die Kuriere reisten mit Sabena-Flügen von Antwerpen nach Abidjan. Von dort ging es mit kleinen Chartermaschinen der Weswua Airlines weiter nach Monrovia in Liberia. In Monrovia trafen sie mit Kommandeuren aus Sierra Leone zusammen, die die Diamanten bei sich hatten.(20)

Die nicht verkauften Steine wurden als Reserve aufbewahrt für den Fall, dass westliche Regierungen die vom bin-Laden-Netzwerk genutzten Konten einfrieren.(21) Belgischen Quellen zufolge erstanden bin Ladens Gefährten aus diesem Grund Edelsteine im Wert von zehn Millionen Dollar.(22) Doch neben Diamanten wurden noch andere leicht veräußerliche Waren als Absicherung gegen Maßnahmen des Westens gehandelt. Nach bestätigten Berichten erwarben bin Ladens Leute auch Tansanit, einen dunkelblauen Stein, der ähnlich wertvoll, aber nicht so hart wie Diamant ist und nur in einem kleinen Gebiet in Tansania abgebaut wird. Die Edelsteine sollten auf dem Weltmarkt abgesetzt oder als Reserve eingelagert werden.(23) Bis zu 90 Prozent der Tansanitproduktion werden außer Landes geschmuggelt. 1997 konnte das FBI das Tagebuch von Wadih el Hage sicherstellen, einem Komplizen bin Ladens, der Tansanit nach London geschmuggelt hatte. Das Tagebuch enthüllte, welche Rolle der Edelstein bei der Geldwäsche und Finanzierung von bin Ladens Netzwerk spielte.(24)

Die Ausbeutung humanitärer Hilfe: Beispiel Sudan

Wenn wertvolle Naturressourcen fehlen, lebt die Wirtschaft des Schattenstaats vor allem von der humanitären Hilfe, die der Krieg mit sich bringt. Dies geschieht insbesondere dann, wenn sich bewaffnete Parteien, die von der Raubkriegswirtschaft leben, gegenseitig bekämpfen. Die Täter enthalten den Kriegsopfern die Hilfsleistungen der internationalen Staatengemeinschaft vor. Im Sudan wurde die Bevölkerung des Südens durch die Regierung im Norden beziehungsweise eine Koalition aus Militärs, Kaufleuten und Politikern ihrer Lebensgrundlage beraubt. Diese Politik der Umverteilung von Ressourcen zu Gunsten einer Kaste und Region wurde möglich, indem man Hungersnöten Vorschub leistete und den Notleidenden
die Hilfslieferungen vorenthielt. "Wirtschaftliche Mittel, die für die Vertriebenen [im Süden] bestimmt waren, um ihre ökonomische Unabhängigkeit zu sichern, sind regelmäßig in den Händen ausbeuterischer Gruppen gelandet."(25) Doch die Bevölkerung des Südens wurde überdies noch Opfer der Sudanese People?s Liberation Army (Sudanesische Volksbefreiungsarmee, SPLA) unter Führung von John Garang und anderen bewaffneten Gruppen, die der Regierung in Khartum den Kampf angesagt haben und von den Vereinigten Staaten finanziert werden.(26) Weit davon entfernt, eine Befreiungsarmee zu sein, ist die SPLA de facto eine Besatzungsmacht. Sie bedient sich derselben Taktiken wie Khartum, um die Bevölkerung auszusaugen. So wurde die Hungersnot des Jahres 1998 beispielsweise durch eine von den USA finanzierte SPLA-Offensive im Gebiet von Bahr al-Ghazal ausgelöst.(27) Der katholische Bischof Monsignore Caesar Mazzolari brachte den Mut auf, die SPLA öffentlich zu beschuldigen, sie habe 65 Prozent der Nahrungsmittelhilfe für die Bevölkerung in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten des Südsudan an sich gebracht. Diese Einschätzung wird durch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bestätigt.(28)
Teil 3
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(14) Siehe Kapitel 3.
(15) Während der Sowjetära verband die Ölpipeline den Hafen Baku mit Tichorezk und verlief über Grosny quer durch Tschetschenien. 1994 begann Moskau den Krieg gegen das Land, um die Pipeline zu verteidigen, die von tschetschenischen Rebellen bedroht wurde. 1999 besetzte Russland Tschetschenien, da die Pipeline zeitweise von Rebellen blockiert wurde, die nach Dagestan vorgedrungen waren.
(16) Greg Campbell, Blood Diamonds (Boulder, CO: Westview Press, 2002); dt. Tödliche Steine: der globale Diamentenhandel und seine Folgen (Hamburg, Europ. Verlags-Anstalt, 2003). Siehe auch Ewen MacAskill und David Pallister, "Crackdown on 'Blood' Diamonds", Guardian, 20. Dezember 2000.
(17) Douglas Farah, "An 'Axis' Connected to Qaddafi, Leaders Trained in Libya Have Used War to Safeguard Wealth", Washingten Post Foreign Service, 2. November 2001.
(18) Campbell, Tödliche Steine, S. 205.
(19) Siehe "Diamenten und Terror: Osamas Kriegskasse", in Campbell, S. 204-224.
(20) Amelia Hill, "Terror in the East: bin Laden's 20m dollar African 'Blood Diamond' Deals", Observer, 20. Oktober 2002.
(21) Mark Doyle, "Sierra Leone Rebels Probe al-Qaeda Link, The RUF is Worried by Claims of al-Qaeda Link", BBC News Online: World: Africa, 2. November 2001.
(22) Hill, "Terror in the East: bin Laden's 20m dollar African 'Blood Diamonds' Deals".
(23) "Man Pleads Not Guilty in Terror-funding Investigation", The Bulletin, 16. November 2001.
(24) Glenn Simpson, "Terrorist Grid Smuggled Gems as Early as ྛ, Diary Suggests", Wall Street Journal, 17. Januar 2002.
(25) Philippe Le Billon, "The Political Economy of War: What Relief Agencies Need to Know", Network Paper Nr. 33, ODI, S. 16, www.odihpn.org.uk.
(26) "Die SPLA wurde durch die Regierung Clinton unterstützt. Waffen, Landminen, Militärausbildung und Geld wurden ihr zugewiesen. Ein Großteil der Hilfe wurde über Uganda geliefert." "Sudan; USAID Boss under Fire on Sudan Policy", Africa News, 13. November 2001.
(27) "Ende Januar 1998 führte Kerubino Kuanyin Bol, ein SPLA-Kommandeur, einen Angriff der Rebellen auf die Stadt Wau in Bahr al-Ghazal an. Der Angriff und die sich anschließenden Kämpfe führten zu einer drastischen Verschlechterung der Sicherheitslage und der Lebensmittelversorgung in der Region". Ebd.
(28) Ebd.

Teil 3