Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Tanguy Viel: Unverdächtig. Teil 2

23.07.2007.
Das Glas in der Hand, haarscharf vorm Stolpern, versuchte sie, sich den Wein nicht aufs Kleid zu schütten, aber ich bin verheiratet, sagte sie immer wieder, Sam, das geht nicht, und sie lachte immer lauter, je verstohlener wir wurden, wir waren sinnlos betrunken, fast kokett sagte sie: Sam, ich bin deine Schwester, lass mich, und zugleich nahm sie meinen Kopf in die Hände und zog ihn zu ihrem Mund, sie hielt mich fest umschlungen und presste sich an meinen Mund, um sicher zu sein, dass er nicht fortging, mein Mund von ihrem.

Aber dass das nicht passieren würde, war gewiss, schon gemäß jenem unfehlbaren Gesetz der Mischung von Lust und Alkohol, ein Gesetz, das jedes andere angeblich moralische Gesetz außer Kraft setzen kann, jede Form von Scham, letztlich war da nur die Drohung jenes anderen Mannes, der im Moment viel zu sehr damit beschäftigt war, sich zu spreizen, dieser erbärmliche Hanswurst von einem Mann, über den wir beide noch lange, lange lachen würden, schlimmer als ein Charles Bovary, dachte ich bei der Erinnerung an diesen flachen, selbstzufriedenen Blick, an diese glückselige Harmlosigkeit, und genau so war es bei ihm, also nicht bei Charles, sondern bei Henri, nach ein paar Blicken war er ausgebootet, dermaßen naiv, vielleicht sogar willentlich, dass er am Abend seiner Hochzeit zwei Menschen tief hinten in einem Park einander die Kleider vom Leib reißen ließ, und von der Dunkelheit kaum verborgen, von einem Busch kaum versteckt, fielen sie lachend übereinander her und küssten sich und noch viel mehr.

Aber muss man es Naivität nennen, wenn ein Fünfziger noch einmal heiratet, eine junge Frau, halb so alt wie er, und unter derart luxuriösen Umständen, fast unanständig, das lag mir nur allzu oft auf der Zunge, wenn ich daran dachte, wie und wo er sie kennengelernt hatte, wenn ich daran dachte, was uns hierher geführt hatte, in diese absurde Situation, dachte ich, absurd, sagte ich zu Lise, seit jenem Augenblick, wo er ihr zum ersten Mal die Hand aufs Bein gelegt hatte, in der anderen ein Glas Champagner, für das er den Preis gezahlt hatte, den man an solchen Orten zu zahlen hat: den Preis des Luxus, dachte ich wieder, aber dass dieser Luxus auch eine Seele beinhaltete und diese Seele mit Vornamen Lise hieß und Lise nicht irgendwer ist, Lise ist immerhin meine Schwester, sagte ich wieder zu ihr an diesem Abend, betrunken wie ich war, und dass ich es ihm sagen würde, ich geh zu ihm hin und sage ihm, dass du nicht meine Schwester bist, ich sage ihm die Wahrheit, dem Henri da, und dass wir ein Kidnapping planen, ein Kidnapping, ja, genau das planen wir, meine Schwester und ich, denn das ist ein Wort, das sich besser aussprechen lässt, wenn man besoffen ist, KIDNAPPING, sagte ich noch lauter. Und sie sagte, ich solle jetzt still sein, ich solle ruhig sein, jetzt sei es nur noch eine Frage von Wochen, eine Frage von Geduld nur noch, und außerdem, jetzt, Sam, jetzt können wir sowieso nicht mehr zurück. Und ich stotterte weiter und lachte zugleich, allein schon die Vorstellung, dass du meine Schwester sein sollst, Lise, das ist doch absurd, hätte ich geschrien, wenn sie mir nicht den Finger auf den Mund gelegt hätte wie eine ultimative Warnung, mit der anderen Hand streichelte sie mir die Wange, und wenn sie nicht geflüstert hätte: Über jeden Verdacht erhaben, Sam, über jeden Verdacht erhaben.

Und da, auf dem Gras in sie hineingeschmiegt, be-trachtete ich die Nacht am Himmel, Lises plötzlich schwarze Augen, und ich dachte daran, wie es so weit mit uns gekommen war.


2

Denn es gab da all die Abende, an denen sie ihr Vergnügen bekamen, selbst wenn sie nüchtern blieben, sie, die Freiberufler und Firmenchefs, die Autoverkäufer und lächelnden Banker, all die Abende, an denen die Mädchen jeden von ihnen ansteuerten, und dann ihre Lust daran, sie fast zu Sklavinnen zu machen, sei es, sie luden sie am ersten Abend zu einem Glas Champagner ein und durften ihnen dafür die Hand aufs Bein legen, oder aber es gab jene verschwiegenen Nächte, in denen sie sich manchmal bis zur Erschöpfung verausgabten.

Sie waren hier wie zu Hause, abgesehen von der Sorge, jemand hätte sie hineingehen sehen, aber kaum hatten sie ihre Jacken an der Garderobe abgegeben, wurden sie so leutselig wie beim Bäcker, die geschlossenen Vorhänge wahrten Diskretion und Anonymität, so dass man von der Straße aus wähnte, es handele sich um eine ganz gewöhnliche Bar. Und eine Bar war es ja auch. Eine Nachtbar, wie man solche Orte nannte, eine freundliche Umschreibung, um kein anzügliches Wort zu verwenden.

Seit langem schon hatten sie vergessen, sich zu beklagen oder zu weinen über diese wortlos miteinander geschlossenen Verträge, wenn sie sich vor dem Morgengrauen trennten und alle wussten, was sie verband, was sie schweigen ließ, und was sie an diesem Geheimnis liebten: Dieses Gefühl der Ebenbürtigkeit, das die Männer den Frauen gegenüber und die Frauen den Männern gegenüber spürten. Ebenbürtigkeit im Schweigen, dachte ich oft über diese Abende, genau diese teilen sie in Wirklichkeit und für immer, wenn für ein paar Stunden die unüberwindbare Barriere zwischen den Welten fiel, zwischen den vom Alter und allzu viel gutem Wein dick gewordenen Männer und diesen lächelnden, von ihrem Make-up und den Lampen der Tische wie an der Leine gehaltenen Mädchen. Die Stadträte und die reichen Säcke der Umgebung, die Parvenüs und die örtlichen Kriminellen, alles war da, was man sich auf dieser Welt nur vorstellen kann, getreu dem altbekannten archetypischen Bild von schmutzigem Geld und Ausschweifung. Und mitten unter den Mädchen, die alle vergessen hatten, dass das Lächeln einer Anstrengung bedarf, war da natürlich Lise.

Teil 3

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