Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Tanguy Viel: Unverdächtig. Teil 1

23.07.2007.
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Da war das weiße Tischtuch, das die Tafel bedeckte, auch wenn man sich jetzt nur mit Mühe daran erinnerte, dass es weiß gewesen war, leuchtend im Sonnenglanz noch vor ein paar Stunden, mit Kristall besetzt und Silber, und lediglich auf schlichte Holzplanken, über schlichte Böcke gelegt, mit deren Streben die Füße den ganzen Abend über verhandeln mussten, um nicht das ganze Bauwerk zum Einstürzen zu bringen.

Zu wie vielen waren sie, die Gäste an diesem Festtag, die anfangs durch den Garten spazierten, in der Hand den Champagnerkelch, den ihnen gleich nach Betreten des Geländes ein Spalier von Bediensteten reichte, in weißen Westen, so starr und unbeteiligt, dass man kaum wusste, ob sich diese Adjektive eher auf ihre Körper oder auf die Westen bezogen, starr und unbeteiligt, jeder sein Tablett mit zur Hälfte gefüllten Kelchen präsentierend, außerstande zu lächeln, zum Servieren dressiert, nur jenes freundlich-trockene Guten Abend im Munde jedesmal, wenn sich eine Hand ihnen entgegenstreckte, um ein Glas zu nehmen. Guten Abend, wurde geantwortet, ohne dass die Blicke des Kellners und des Gastes sich begegneten, beide von dem Glas, das es zu greifen galt, gebannt, und die Gäste so stolz, an dieser Hochzeit teilzunehmen, Henri Delamare und Lise, fortan ebenfalls eine Delamare.

Dabei war es ein schönes Fest gewesen, dieses Hochzeitsfest, sie wie eine Teenagerin inmitten der geladenen Menge, und das ostentative Gepränge dieser Provinzbourgeoisie, in dem sich Verwandte, Freunde und immer noch dieselben Kellner mischten, diese mit kräftigen Fingern unter den Silbertabletts, und ihre Steifheit stach mit Fortschreiten des Abends immer mehr von dem anschwellenden Lärm des Hochzeitsfestes und dem champagnerseligen Lachen der Feiernden ab.

Und alle hatten sich zunächst an der Meereslandschaft begeistert, über die Insel diskutiert, deren Umrisse fern zu erkennen waren, die bei dieser klaren Sicht den Horizont zerriss und durch die Entfernung, aber auch durch den Kontrast faszinierte, genau dort, wo ein wenig später die Sonne untergehen und Wasser, Himmel und Insel in ein und dieselbe dumpfschwarze Farbe tauchen würde, eben dort, wo noch später der Mond millimetergenau an ihre Stelle treten würde, um mit schalem Licht nicht die Insel oder ihr Felsenrund zu beleuchten, sondern eben diesen ermatteten Tisch, der trunken war von den schon erstorbenen Gesprächen, dem Lärm, der den ganzen Abend lang über der Hochzeitsfeier dröhnte, Witzen, Sprüchen, Gelächter, und Henri war an diesem Abend der König der Welt.

Man wird sich eben daran gewöhnen müssen, dachte ich, an diesen Namen und an dieses Haus, an diese Hochzeit, diese unvergessliche, wie Henri es sagen würde. Ja, stimmt, würde ich denken, unvergesslich. Wie sollte ich auch jenen Moment vergessen, auch jetzt, zehn Jahre später, als ich neben Lise stand, an jenem Nachmittag in dem grässlichen Saal auf dem Standesamt, die feiste Hand des Bürgermeisters hielt uns das Hochzeitsregister hin, auf der richtigen Seite aufgeschlagen, sein dicker Finger deutete auf die Stelle, wo wir unterschreiben sollten, und dann meine zitternde Hand, natürlich zitterte sie, die das Ganze legal und sauber machte, denn ich war der Trauzeuge.

Sie, Lise, hatte mich darum gebeten, ihr Trauzeuge zu sein, und die Möglichkeit, mich irgendwie zu entziehen oder ihr den Gefallen nicht zu tun, ich glaube, die streifte meine Gedanken nicht einmal, weder das noch sonst etwas, das den Wünschen einer Schwester zuwiderliefe, als ich sie in den Saal führte, sie beim Arm hielt, Henri hinter uns her, es fehlte nur noch die passende Musik.

Aber was hatte ich hier zu suchen, Lise, in diesem Saal an diesem Tag, dann auf den Stufen vorm Rathaus, in diesem unpassenden Anzug, so einem Riesenkontrast zu deinem weißen, schamlos jungfräulichen Kleid, dem Kleid deiner Vermählung mit ihm, was hatte ich zu suchen jetzt in der Schlange der Gratulanten, wartend, dass ich an die Reihe käme, mit einem meinen Nachbarn abgeschauten fröhlichen Gesicht, um dich dann zu umarmen und dir wie alle anderen ein paar Banalitäten ins Ohr zu flüstern, Glück und langes Leben, sagte ich, und meine Stimme zitterte nicht einmal. Doch dieser unser Händedruck, Lise, er schien sämtliche Geheimnisse der Welt zu bergen, sie waren bereit, augenblicklich auf und davon zu fliegen, und um nichts auf der Welt hättest du, Lise, deinen Blick vom kalten Boden des Rathauses gewendet, so schrecklich war er, dieser einzige Blick, den du auf mich lenktest und der so schlecht unsere aus Scham und Raserei gemischten Gefühle verbarg, aus Scham und Raserei, als wäre alles, all das, was bis dahin niemand wusste und niemand jemals erfahren durfte, jäh ans helle Licht des Tages gezerrt worden, von den Fensterscheiben beleuchtet, über alle hingestreut, und als würden sie mich anstarren, alle, diese mehreren hundert Leute, die dich alle danach noch küssen und Reis nach dir werfen würden.

Glück und langes Leben, Lise.

Das Schlimmste, das Schlimmste ist, dass ich das in diesem Moment tatsächlich zu denken vermochte, deine Hand in meiner, deine Hand, die ich nie wieder losgelassen hätte, wenn ich nicht ausgerechnet in diesem Moment dem beinahe sorgenvollen Blick des Mannes begegnet wäre, an dessen Finger jetzt der Ehering funkelte.

So stolz auch, all diese vielen Freunde zu versammeln, wird er dann an dieser Tafel sagen, an diesem weißen Tischtuch, auf dem jede Messerklinge noch die sinkende Sonne spiegelte, die scharfe Linie des Horizonts und sogar das saftige Gras des Parks, als er sich nicht beherrschen konnte und aufstand, um einen Toast auszubringen, allein schon dieses unmögliche Wort, das nur noch er in den Mund zu nehmen wagte, ein Toast. Auf Lise natürlich, auf diese neue Sonne in meinem Leben, sagte er, auf euch alle, fuhr er fort, auf euer so freundschaftliches Hiersein, kurz, auf das Glück, rief er in die Applaussalven, die seine Worte unterbrachen, um dann noch hinzuzufügen, nachdem er das Klatschen seiner Gäste mit einer Handbewegung zum Verstummen gebracht hatte, dass er als einzigen Wermutstropfen die Abwesenheit seines Bruders entschuldigen wolle, seines lieben Edouard, der heute Abend nicht dabei sein könne, der aber, das kann ich euch versichern, fuhr er fort, in Gedanken bei uns ist.

Er redete einigen Schwachsinn an dem Abend, wegen der Kombination aus Alkohol und Gemütsbewegung, und weil Henri eben so war; wenn er trank, dann schwafelte er und erzählte sonstwas. Mehrmals im Verlauf des Abends nahm er mich beim Arm und musste mich unbedingt in der Runde vorstellen: Ich stelle Ihnen meinen Schwager vor, sagte er und sog an seiner Zigarre, Lises Bruder, Sam, er heißt Sam, was, Sam? Und ich antwortete, ja, ich heiße Sam, und ich lächelte.

Aber vor allem ist er mein neuer Golfpartner, was Sam, Golf ist mal ne Sache?

Ja, ja, ne Sache, in der Tat, dachte ich. Und holte mir noch ein Glas.

Wissen Sie, dass er immer besser spielt? Als er zum vierzigsten Mal denselben Golfwitz erzählen wollte, seinen Lieblingswitz, nachdem Höflichkeit und sogar Herablassung ihn längst im Stich gelassen hatten, es war sein Lieblingswitz, also wollte er ihn heute Abend nach Herzenslust erzählen, bei so einer Gelegenheit. Und wo einmal Leute da waren, die ihn noch nicht kannten.

Es ist die Geschichte von einem Typen, der einfach göttlich spielt, sagenhafte Schläge. Er kommt ans erste Loch und schlägt: Der Ball ist perfekt, zweihundertfünfzig Meter, schnurgerade, perfekt. Er geht zum Ball, macht sich zum nächsten Meisterschuss bereit, aber bevor er diesen Meisterschuss anbringt, hopp, stößt er den Ball mit der Fußspitze an. Da sagt sein Begleiter: Pass auf, das zählt als Schlag. Ich weiß, ich weiß, antwortet er. Dann baut er sich wieder vor dem Ball auf und schlägt einen wunderbaren Schlag, der Ball landet drei Meter neben dem Loch. Gut. Wieder geht er hin, stellt sich neben den wunderbar platzierten Ball, es fehlt nur noch ein hübscher kleiner Putt, aber nein, stattdessen stößt er den Ball wieder mit der Fußspitze an. Sein Begleiter hat das gesehen, er kommt hinzu und sagt: Hör mal, du spielst so großartig und versaust dir immer wieder alles mit diesem Blödsinn? Nein, nein, das macht nichts, antwortet er, ich übe nur, für wenn ich wieder mit Sam im Doppel spiele?

Und zum vierzigsten Mal lachte alles über seinen Witz, außer mir. Ich lächelte nur, als ich sah, dass Lise laut lachte und ihr Lachen genügte, um mein Schweigen zu übertönen. Aber an dem Abend drehte er sich wieder zu mir um und fügte hinzu: Wir machen uns mal einen gemütlichen Golfsonntag, was, Sam?

Und wie immer antwortete ich: Natürlich, Henri, natürlich.
Aber an jedem Abend gibt es einen toten Winkel. An jedem Abend, sagte ich zu Lise, kann man Dinge machen, von denen niemand jemals etwas erfahren wird. Er war derart mit seinen tausend Wichtigtuereien beschäftigt, mit tausendfachem müßigem Geplauder, irgend-wann nahm ich Lise bei der Hand, sagen wir es so, ein Blinzeln hatte dieselbe Wirkung, als hätte ich sie bei der Hand genommen, sie kam mir nach auf die spärlich beleuchtete Terrasse vor dem Haus und wir gingen in den dunklen Park davon. Sie war besoffen auch im Dunkeln, schwankte und trat auf den Saum ihres Kleides, man hörte die Musik allmählich leiser werden im Rhythmus unserer schiefen Schritte im feuchten Gras, ich griff ihren Arm, damit sie nicht hinfiel. Und darüber mussten wir lachen, weil wir an alle möglichen Listen und Winkelzüge schon gewöhnt waren, die es brauchte, damit wir mal irgendwo fünf Minuten für uns hatten, in irgendeiner Scheune oder Landschaft, die uns einließ, also warum nicht auch am Tag deiner Hochzeit?, sagte ich.

Teil 2

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