Vorgeblättert

Leseprobe zu Wolfgang Kraushaar: Verena Becker und der Verfassungsschutz. Teil 3

6. Der unterschiedliche Einsatz der Gegenüberstellung

Die kriminalistische Praxis, Tatverdächtige Zeugen gegenüberzustellen, ist nicht zu Unrecht als ein problematisches Verfahren kritisiert worden, deren Ergebnisse zumindest mit Skepsis behandelt werden müssen. Besonders in einem Fall, in dem sich wie in Karlsruhe die beiden Täter unter ihrer Motorradmontur und den dazugehörigen, mit Klappvisieren ausgestatteten Helmen nur zu gut verstecken konnten. Aus diesem Grund ist immer wieder behauptet worden, es wäre völlig nutzlos gewesen, eine Gegenüberstellung Verena Beckers mit Augenzeugen des Karlsruher Attentates herbeizuführen. Selbst wenn es zu einer Identifikation gekommen wäre, so hätte sie doch als problematisch erscheinen müssen. Da Gesicht und Frisur durch den Helm verdeckt waren, hätte man sich nur auf die Körpergröße, das Körperprofil oder -volumen und die Bewegungseigenschaften des oder der Verdächtigen konzentrieren können.

Warum ist aber - so muss gefragt werden - im Gegensatz zu Becker eine Gegenüberstellung mit Knut Folkerts erfolgt? Bei beiden wäre es ja, was in der Tat von vornherein zweifelhaft war, nur in der auf dem Motorrad getragenen Kleidung und mit aufgesetzten Helmen, also in der entsprechenden Tarnung, möglich gewesen. Die Zeugin Edith Neukirch hatte man zusammen mit anderen Zeugen sogar in einem Bus nach Utrecht gefahren, um Folkerts dort zu identifizieren. Der offiziell als Buback-Attentäter Verdächtigte war in der niederländischen Stadt am 22. September 1977 verhaftet worden, nachdem er zuvor einen Polizisten erschossen und einen anderen schwer verletzt hatte. Sollte das vielleicht etwas damit zu tun haben, dass man bei dem von Boeden präsentierten Verdächtigen eine entsprechende Wiedererkennung auf jeden Fall erreichen, im Falle Becker hingegen nach Möglichkeit vermeiden wollte? Diese Form der Ungleichbehandlung sticht jedenfalls ins Auge. Dass die Zeugin Neukirch den als tatverdächtig Geltenden nicht »wiedererkannt« hat, so könnte man inzwischen zu sagen geneigt sein, ist ganz logisch gewesen. Denn Folkerts kann es - wenn man Boock und seiner eigenen Erklärung trauen darf - nicht gewesen sein. Und warum hätte eine Zeugin jemanden »wiedererkennen« sollen, den sie am Tatort gar nicht gesehen haben kann?

Der Karlsruher Rechtsanwalt Michael Rosenthal hat auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten im Hinblick auf die Identifikation von Tatverdächtigen durch Zeugen bei der Gegenüberstellung aufmerksam gemacht. Der Spiegel hatte ihn 2007 in einem Interview danach gefragt, wie es möglich sein könnte, dass einerseits Folkerts erklärte, sich weder vor noch nach der Tat in Karlsruhe aufgehalten zu haben, er andererseits aber in dieser Zeit von verschiedenen Zeugen in Karlsruhe oder sogar am Tatort gesehen worden sein soll. Rosenthal meint, dass sich »ein systematischer Fehler in die Beweisführung eingeschlichen« haben könnte:

»Die Wiedererkennung durch Zeugen ist […] ein Problem, denn die Erinnerung kann leicht von äußeren Einflüssen überlagert werden. Wenn sich da etwas im Unterbewusstsein verschiebt, etwa indem der Zeuge Fahndungsbilder mit seiner ursprünglichen Wahrnehmung vermischt, kriegt man das nie wieder in den Griff […] Deshalb muss nach heutigem Standard ein Urteil akribisch wiedergeben, wie dieser Prozess der Identifikation abgelaufen ist: Wie war der genaue zeitliche Ablauf der verschiedenen Wahrnehmungen, wie hat der Zeuge zum ersten Mal für sich oder im privaten Kreis die Person identifiziert, wie lief die Identifikation bei der Polizei? Das tut das Urteil aber bei sämtlichen Zeugenaussagen nicht oder allenfalls scheinbar. Man kann den Richtern selbst in diesem Punkt zwar keinen Vorwurf machen: Solche Ausführungen wurden damals noch nicht höchstrichterlich verlangt, auch weil man sich der Probleme im Detail noch nicht voll bewusst war. So kann man aber leider nicht ausschließen, dass in einigen, vielleicht sogar in allen Fällen bei der Wiedererkennung gravierende Fehler unterlaufen sind […] Nehmen wir das Ehepaar, das gesehen haben soll, wie Folkerts mit zwei anderen Männern zwei Tage vor der Tat beim Bahnhof Bietigheim-Bissingen in einen Alfa Romeo, das spätere Fluchtfahrzeug, stieg. Der Mann will Folkerts sowie Günter Sonnenberg und Christian Klar auf den Fahndungsblättern - die genau diese drei zeigten - wiedererkannt haben. Bei einer späteren ›Gegenüberstellung‹, heißt es im Urteil, habe der Zeuge zwar bei Sonnenberg Einschränkungen gemacht, sei sich aber bei Folkerts ›sicher‹ gewesen. Wie man heute weiß, ist dabei der Ablauf entscheidend: Zeigt die Polizei bei einer Gegenüberstellung oder der Identifizierung mit Hilfe von Fotos die Auswahlpersonen gleichzeitig, ist die Gefahr, dass jemand ›falsch‹ wiedererkannt wird, viel höher, als wenn die Personen oder deren Fotos nacheinander präsentiert werden. Dem Gericht hat es aber genügt, wenn die Zeugen selbst meinten, die Fahndungsbilder hätten sie nicht beeinflusst. Da muss man befürchten, dass das nicht optimal lief.«

Danach erscheint es als durchaus denkbar, dass Folkerts, dem ja mit Misstrauen entgegengetreten wird, weil man ihm unterstellt, Aussagen nur aus Eigeninteresse zu machen und deshalb möglicherweise zu lügen, die Wahrheit gesagt hat und sich im Gegensatz dazu alle Zeugen, denen eine unbeteiligte, der Wahrheitsfindung gegenüber eine sehr viel günstigere Rolle zugestanden wird, geirrt haben.

7. Beckers Hafterleichterungen

Ein anderer gewichtiger Punkt sind Beckers misstrauenerweckende Hafterleichterungen. Wie der Berliner Justizsenator in einer am 8. November 1974 herausgegebenen »Dokumentation über die Haftbedingungen der Untersuchungs- und Strafgefangenen, die sich wegen politisch motivierter Straftaten zur Zeit in Berliner Justizvollzugsanstalten im Untersuchungs- oder Strafhaft befinden« belegt, hatte Verena Becker - wie es in dem sie betreffenden Abschnitt heißt -, bevor sie am 24. Oktober in ein Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten in Moabit überführt wurde, um sie dort künstlich ernähren zu lassen, reichlich Gelegenheit zu Kontakten zu Mitgefangenen der Bewegung 2. Juni und der RAF. Zusammen mit Ingrid Siepmann, Annerose Reiche und fünf weiteren Gefangenen konnte sie einmal wöchentlich zwischen 19.00 und 22.00 Uhr Fernsehsendungen verfolgen. Täglich hatte sie in Moabit die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Freistunde mit Ulrike Meinhof, die wegen des Prozesses zur Baader-Befreiung vorübergehend von Stuttgart-Stammheim nach West-Berlin überstellt worden war. In der Vollzugsanstalt für Frauen erhielt sie ebenfalls täglich für eine Stunde Gelegenheit zu einer gemeinsamen Freistunde mit Siepmann und acht anderen weiblichen Gefangenen. Im Abschnitt über Ulrike Meinhof heißt es in der Dokumentation, ihr sei in Moabit »die Freistunde mit einer anderen Gefangenen gestattet« worden. Das kann im Umkehrschluss also nur Verena Becker gewesen sein. Ein solcher Kontakt, so ein ungenannt bleiben wollender Sicherheitsexperte, habe »eigentlich allen Regeln« widersprochen. Warum also ist es Becker ermöglicht worden, sich täglich unkontrolliert mit Ulrike Meinhof zu unterhalten? Hatte sie den Auftrag, die Spitzengenossin der RAF auszuhorchen, um dem Verfassungsschutz (oder der Abteilung Terrorismus des BKA) Informationen über die RAF zu verschaffen?

Eine weitere denkwürdige Hafterleichterung trat drei Jahre später während Beckers zweiter Haftzeit in Kraft. Ende Juni 1977 wurde es Gudrun Ensslin gestattet, ihre Zeit - und zwar Tag wie Nacht - mit Becker, Schmitz und Schubert gemeinsam verbringen zu dürfen. Auch hier drängt sich die Frage auf, ob das eigentliche Interesse darin bestanden haben könnte, dass Becker eine Gelegenheit gegeben werden sollte, die zweite Führungsfrau aus der RAF-Spitze auszuhorchen? Gerade die Tatsache, dass dieser »Umschluss« drei RAF-Gefangenen gleichzeitig eingeräumt wurde, dürfte diesen Schritt weniger verdächtig gemacht haben. Auch die jahrelange Leugnung, dass Becker überhaupt in Stammheim einsaß und dort Kontakt zur Führungsspitze der RAF aufzunehmen in der Lage war, könnte damit in Zusammenhang stehen.

In einem anderen Punkt geht es um eine Lockerung der Haftbedingungen, die allerdings weniger im Interesse der Inhaftierten, sondern ganz in dem einer staatlichen Behörde gelegen haben dürfte. Generalbundesanwalt Rebmanns am 11. Mai 1977 getroffene Entscheidung, es BKA-Beamten der Abteilung Terrorismus »jederzeit« - wie es ausdrücklich heißt - zu gestatten, Verena Becker »zwecks Ermittlungshandlungen auszuführen«, nährt den Verdacht, dass damit eine besondere Zugriffsmöglichkeit auf die RAF-Gefangene ermöglicht werden sollte. Wozu und wohin sollte Becker »ausgeführt« werden? Einer Abteilung des BKA ist damit ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt worden, eine dringend Mordverdächtige der Kontrolle durch die Justiz zu entziehen. Leiter der Abteilung Terrorismus im BKA war jener Beamte, der einen Tag nach dem Karlsruher Attentat für die entscheidende Weichenstellung gesorgt hatte und später zum Präsidenten des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz aufstieg: Gerhard Boeden.

8. Das Verwirrspiel um Beckers Unterbringung in diversen Haftanstalten

Ihre erste Station ist angeblich die Frauenhaftanstalt Frankfurt-Preungesheim. In Wirklichkeit befindet sich Becker jedoch - was vom baden-württembergischen Justizministerium noch 2007 in Abrede gestellt wird - in Stammheim. Im Januar 1981 wird Becker wegen der Nachbehandlung einer Tuberkulose-Erkrankung angeblich in die Justizvollzugsanstalt Kassel verlegt. Doch sie ist keineswegs an Tuberkulose erkrankt und auch nicht von Stammheim nach Kassel verlegt worden. Dort saß sie bereits drei Jahre früher ein, zu Beginn des Jahres 1978. Im September 1981 soll sie außerdem in das bayerische Gefängnis Aichach verlegt worden sein. In Wirklichkeit sitzt sie zu dieser Zeit aber in Köln in einer konspirativen Wohnung und packt über ihre Vergangenheit wie die ihrer Mitkämpfer aus. Insofern spricht alles für eine Inszenierung, mit der das BfV nichts anderes als eine Täuschung der Öffentlichkeit beabsichtigt hat, um seine Kontakte zur RAF-Gefangenen kaschieren zu können.

9. Haftverschonung durch Begnadigung

Der Staat hat Becker gegenüber letztlich in auffälliger Weise Milde walten lassen. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte ihrem Gnadengesuch vom Januar 1989 ein Dreivierteljahr später stattgegeben. Dieses Faktum allein muss noch nicht misstrauisch stimmen. Es ist eher die Art und Weise, wie die Begnadigung zustande gekommen ist. Formal betrachtet war alles in Ordnung. Der Bundespräsident hatte den damaligen Generalbundesanwalt Kurt Rebmann um eine entsprechende Stellungnahme gebeten, und der hat sie dann auch vorgelegt. Diese basierte jedoch auf einer Beratung zwischen Vertretern der Bundesanwaltschaft, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst. Damit könnten wieder einmal Geheimdienste bei einer Entscheidung, die eine RAF-Gefangene betraf, die zumindest mit dem BfV in Köln kooperiert hatte, die Oberhand gehabt haben. Es ist auffällig, dass das Bundeskriminalamt dabei nicht berücksichtigt worden ist. Vielleicht war das angesichts der Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt mit Gerhard Boeden der ehemalige Leiter der Abteilung Terrorismus im Bundeskriminalamt Präsident des BfV war, auch gar nicht weiter erforderlich.

10. Beckers Beschattung vor ihrer Festnahme in Singen

Wer hat Becker, Sonnenberg und ihre drei Begleiter in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1977 auf ihrer Reise von Essen in Richtung Süden beschattet? Es können nur staatliche Akteure gewesen sein. Handelte es sich tatsächlich um ein Beobachtungskommando des Bundesnachrichtendienstes? Und falls ja, seit wann waren sie den ursprünglich fünf Personen, wahrscheinlich allesamt Mitglieder der Haag-Gruppe, auf den Fersen? Was war der Auslöser für ihre Beobachtung? Wie lange hat sie gedauert? Und führte sie, wovon auszugehen ist, bis nach Singen? Und was geschah angesichts der sich dort abspielenden Eskalation der Ereignisse? Spielten sich etwa die Entziehung der Festnahme und die anschließende, bis auf die Wiesen der Aach führende Verfolgungsaktion unter Beobachtung eines Geheimdienstes ab?

Nach Angaben eines Journalisten soll es nicht irgendeine Besucherin des Cafe »Hanser« gewesen sein, die misstrauisch wurde und die Polizei alarmiert hat, sondern die Angehörige eines Zielfahndungskommandos des Bundesnachrichtendienstes. Diese Agentin sei zusammen mit einem Kollegen den beiden RAF-Mitgliedern bereits seit längerer Zeit, angeblich seit Beginn des Jahres 1977, auf den Fersen gewesen. Sie sollen sich am frühen Morgen sogar bei der Singener Polizei unter Vorlage ihrer Dienstausweise gemeldet haben. Ihr Plan habe darin bestanden, Becker und Sonnenberg von der Polizei aus dem Cafe herausholen zu lassen, um anschließend einen Zugriff zu starten. Geheimdiensten obliegen bekanntlich keine polizeilichen Befugnisse; ihnen ist es nicht gestattet, Festnahmen durchzuführen. Insofern wären sie auf die Unterstützung der Polizei angewiesen gewesen. »Doch die Singener Polizei«, so ein Beamter, »hat die Sache vermasselt.« Unter den Augen der BND-Agenten sei es dann zu der beinahe tödlich verlaufenen Eskalation gekommen.


Mit freundlicher Genehmigung der Hamburger Edition

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