Vorgeblättert

Leseprobe zu Raul Argemi: Und der Engel spielt dein Lied. Teil 1

28.06.2010.
 
I

Die Begegnung hatte das Ernüchternde alltäglichen Tuns. Das Banale, das unsere Träume annehmen, wenn sie wahr werden, nachdem wir sie uns so sehnlich gewünscht haben.
Sie hatte nicht einmal Ähnlichkeit mit den Szenen, die ich mir ausgemalt hatte, während ich meine Wut nährte, um mich in den endlosen Stunden, die ich in dem Käfig auf- und abging, nicht geschlagen zu geben.
Die harmloseste: dass er vor mir auf dem Boden kniete, während ich den Moment genüsslich hinauszögerte, ihn unter Schmerzen und ohne jede Eile zu Tode zu quälen. Ich wollte ihn von vorn töten, damit er wusste, dass es El Negro war, der ihn auslöschte. Der Polaco sollte sich gefälligst darüber im Klaren sein, dass Verrat seinen Preis hat.
Ich weiß nicht. Es war, als hätten die acht Jahre, die wir getrennt gewesen waren und in denen uns der Hass verbunden hatte, nie existiert.
Der Polaco war, wo er immer war, in seinem Büro hinter dem Billardraum, in diesem Kabuff, das nach Seife und alten Besen roch, wo er mit Dominosteinen Patience spielte.
Diesmal sagte er nicht, wie sonst: "Zieh, Fremder ?"
 
1
El Negro war noch nicht lange in Buenos Aires, doch die Regeln waren überall mehr oder weniger dieselben. Als sie das Billardcafe betraten, ein langes, schmales Lokal, der Tresen gegenüber dem Eingang und mit aufgereihten Billardtischen, die in der Dunkelheit des tiefen Raums verschwanden, grüßte der Mann hinterm Tresen Sapo Hernandez mit einem Nicken und kümmerte sich nicht weiter um sie.
Am dritten Tisch spielten unter einem Lichtkegel, der einen schwachen Schimmer des grünen Filzes auf die Gesichter warf, zwei Männer routiniert Carambolage. Einer der beiden unterbrach die Partie und gab El Negros Begleiter die Hand.
"Wie läufts so, Sapo?"
"Cosi, cosa ? Ist ein hartes Pflaster da draußen, für alle."
Der andere machte eine schicksalsergebene Geste. "Der Alte ist da, wo er immer ist. Sag ihm, dass Serio kommt, sobald ich ihn bei einem weiteren Dutzend Carambolagen geschlagen habe."
Der andere Spieler ließ sich nicht dabei stören, den Queue mit andächtiger Präzision einzukreiden. Er hob leicht den Blick, um ihn kurz und durchdringend anzuschauen. Er machte ein Röntgenbild von El Negro, mehr nicht.
Während sie auf die Tür an der Rückseite des Lokals zugingen, sagte sich El Negro, dass der Polaco ein Profi war und dort hinten bestimmt eine irgendwie getarnte Fluchtmöglichkeit hatte.
Es war offensichtlich, dass die Männer nur spielten, um Zeit totzuschlagen. Sie waren in Hemdsärmeln und trugen bestimmt eine Waffe bei sich.
Auf Ärger mit den Bullen waren sie nicht aus, denn der Polaco war schon jahrelang im Geschäft und wusste, dass jemand, der sich mit der Polizei anlegt, nicht lange überlebt. Bei anderen Geschäften allerdings schon. Man wusste nie, wer den brillanten Einfall haben könnte, Diebesgut selbst abzugreifen, und man musste entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen.
Das Büro war nicht sehr groß, der runde Tisch, auf dem ein grünes Tischtuch lag, nahm beinahe den gesamten Raum ein. Die Luft roch nach Besen und Putzmittel, als würden in einem der beiden Schränke Reinigungsmittel aufbewahrt. Rauchen war strikt verboten.
Der Polaco stand nicht auf, als sie hereinkamen. Er schob die Steine zusammen, mit denen er Patience spielte, mischte sie und schob mit einer Hand sieben in Richtung des Stuhls, der ihm gegenüberstand.
"Zieh, Fremder", sagte er mit einer Westerngeste. Wie ein alternder John Wayne, blond, mit Augen wie Stilette, die blau und manchmal auch weiß oder durchsichtig wirkten. Die Augen eines Jägers.
Sapo nahm das Angebot an und stellte die braunen Steine vor sich auf. El Negro blieb stehen, bis der Polaco sagte: "Setz dich, Kleiner. Spielst du Domino?"
"Als Junge habe ich gespielt, aber ich glaube, ich habe vergessen, wie es geht."
"Siehst du, Sapo", sagte der Mann und legte die Doppelvier auf den Tisch. "Dauernd verraten wir unfreiwillig irgendwelche Sachen. Der Kleine war noch nie im Knast. Heutzutage spielen nur noch alte Juden und Knastbrüder Domino."
Sapo grinste mit zusammengepressten Lippen, als störe es ihn, den Mund zu zeigen, der ihm seinen Spitznamen Sapo, Kröte, eingebracht hatte, und legte ebenfalls einen Stein an. Sie spielten schnell und geübt.
"El Negro ist aus gutem Holz, Polaco. Sonst hätte ich ihn nicht zu dir gebracht."
Der Mann nahm es mit kurzem Nicken zur Kenntnis und sagte: "Serio, für mich einen Wodka mit Zitrone und einem Schuss Soda. Die anderen sollen selbst entscheiden."
Serio tauchte aus dem Dunkeln auf, ohne dass ihn jemand hatte hereinkommen hören.
Die beiden Partien, die folgten, gewann wie selbstverständlich der Polaco, und sie hatten Zeit, ihre Drinks zu leeren, bis er sagte: "Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mit dem Jungen gerne unter vier Augen sprechen. Sag Serio, er soll noch eine Runde bringen."
Sapo Hernandez ging. Der Polaco legte die Steine für eine Patience, und Serio brachte wortlos die Getränke und trat zurück.
Er war ein hagerer Typ, mit gerade mal genug Fleisch auf den Rippen, um überhaupt am Leben zu sein. Wenn er einen direkt ansah, was sehr selten vorkam, glichen seine Augen Gewehrläufen: genauso dunkel, leer und gefährlich.
"Danke", sagte der Polaco, und der Mann ließ sie allein.
"Man könnte meinen, er sei stumm", bemerkte El Negro.
"Stimmt, Serio redet nicht viel. Und er lacht nie. Doch er macht seine Arbeit ? ohne zu meckern, das ist das Wichtigste. Du bist aus Neuquen, hat mir Sapo gesagt."
"Aus einem Dorf in der Nähe, ungefähr ?"
"Ist nicht nötig. Ich weiß alles über dich, was ich wissen muss. Ist ein bisschen eng für dich geworden, und du musstest abhauen. Haftbefehl?"
"Soviel ich weiß, nein. Doch ein paar kannten mein Gesicht und haben mich auch verprügelt. Der Ort ist ziemlich klein."
"Mach dir keinen Kopf. Ich habe Leute, die herausfinden, ob es einen Haftbefehl gibt, und sie bringen das, wenn möglich, in Ordnung."
"Wie Sie wünschen."
"Gut ?" Er begann wieder, die Steine zu mischen. "Ich erzähl dir, wie es aussieht. Seit jeher mache ich von allem ein bisschen. Ohne sinnlos Kopf und Kragen zu riskieren. Nichts Großartiges, aber es reicht zum Altwerden."
"Sie sind der Größte."
Mit einem amüsierten Blitzen in den himmelblauen Augen sah ihn der Polaco einen Moment lang forschend an. "Die Größten sind bereits tot, Kleiner, oder sitzen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinter Gittern. Das Geheimnis ist, es so weit wie möglich nach oben zu schaffen, aber auch nicht so weit, dass man auffällt. Es gibt immer irgendeinen Neidhammel, der dir ans Leder will."
"Wenn Sie es sagen ?"
"Es ist die reine Wahrheit."
"Die reine Wahrheit", wiederholte El Negro lächelnd.
"So ists gut", sagte der Polaco, "lach nur, ich reiße niemandem den Kopf ab. Jedenfalls nicht, solange er nicht versagt ? Sapo hats dir bestimmt verklickert."
"Ich ?"
"Nur die Ruhe. Vergiss, was du in deinem Kaff gemacht hast, hier fängst du wieder ganz unten an. Um zu lernen, wie die Sache läuft. Wir sind hier nicht auf dem Land. Bestimmt hast du gesehen, dass es überall von Soldaten nur so wimmelt."
"Ja, die Guerilla hat die Straßen unsicher gemacht."
"Genau. Ich hab nichts gegen die Guerilla. Das sind Leute mit Mumm, aber sie sind ganz schön verrückt. Sie glauben, sie können es mit allen aufnehmen, und das kommt dann dabei heraus. Ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sie kaltgestellt haben und es wieder ruhiger auf den Straßen wird. Aber bis dahin muss man aufpassen. Verstehst du?"
"Ja, klar."
"Gut. Und vor allem nichts auf eigene Faust. Kapiert? Rein gar nichts. Wenn irgendeine Bank durchdreht und anfängt, Kohle aus dem Fenster zu werfen, stellst du dich blind und machst die Fliege. Nicht einen Schein hebst du auf. Nichts. Nichts auf eigene Faust, ist das klar?"
"Völlig."
"Sapo hat dir bestimmt gesagt, dass ich meine Leute gut behandle, aber ich kann Schlaumeier nicht leiden. Nein, sag nichts. Hör zu, denn das ist die reine Wahrheit. Wir wissen nicht, wie lange das Militär an der Macht bleibt. Und während diese Arschlöcher mit der Rechten die Fahne schwingen, machen sie mit der Linken schmutzige Geschäfte. Was sollen wir also machen? Uns ins Winterquartier zurückziehen? Unmöglich. Man muss versuchen, seinen Arsch zu retten. Ich weiß nicht, ob sie am Ende nicht das gesamte Geschäft übernehmen, ich weiß nicht, ob wir am Ende nicht Partner der Polizei werden oder gar deren Handlanger, denn Partner sind wir schon eine Weile. Wir müssen uns also dumm stellen und zu überleben versuchen, wenn sie uns einen Teil des Marktes klauen. Dafür braucht man Köpfchen, und ich habe Köpfchen. Sei also nicht leichtsinnig, führe meine Befehle aus, und alle sind glücklich und zufrieden."
"Abgemacht, Polaco."
"Freut mich", murmelte der Mann mit gerunzelter Stirn, da ihn die vor sich aufgereihten Steine auf dem Tisch vor ein Problem stellten. "Ich denke, wir werden uns verstehen. Jetzt lass mich allein, diese Patience geht irgendwie nicht auf."
Als El Negro den Stuhl zurückschob, fügte der Polaco hinzu: "Ah ? und lern Domino, dann können wir ein paar Partien spielen."

 
II
Der Polaco saß am gewohnten Platz, an dem Tisch mit der grünen Decke, auf der ich noch nie Spielkarten gesehen hatte. Er spielte Patience mit Dominosteinen. Derselbe Raum und derselbe Geruch nach Putzmitteln, der mir in die Nase stach und mir die Tränen in die Augen trieb, während ich mir vorstellte, wie ich ihn mit Kugeln durchsiebte.
Er sah mich nicht einmal an. Und er hatte sich verändert. Weißes Haar, älter.
Er beschränkte sich darauf, die Steine zu mischen und sieben davon zu nehmen, ein großer und ein kleiner Fächer in den riesigen und sehr weißen Händen.
Er sah seltsam aus mit dieser Nickelbrille mit blauen Gläsern, die seinen Blick verbargen. Als wollte er sich dahinter verstecken.
Wo er diese John-Lennon-Gucker wohl herhatte?
Ich legte meine sieben Steine in einer Reihe auf den Tisch und eröffnete das Spiel mit einer Doppel-sechs. Wortlos. Ich war nicht gewillt, das Geplänkel aus früheren Zeiten, von vor acht Jahren, wieder aufzunehmen, bei dem ich hätte sagen müssen: "Was für ein Stil, Polaco, gleich die Sechs wie von Zauberhand!"
Woraufhin der Polaco ein kurzes Lächeln zeigte und die Klingel unter dem Tisch drückte. Woraufhin Serio kam, um die Bestellung entgegenzunehmen.
Ich hatte weder Lust, mich zum Verbündeten seiner Falschspielertricks zu machen, noch erwartete er das von mir. Jede vertrauliche Geste konnte als Versuch der Schmeichelei missverstanden werden.
"Sag ihm, was du trinken willst", befahl er, als Serio geräuschlos durch die Tür trat.
"Mineralwasser, ohne Kohlensäure", sagte ich und stieß mit dem Daumen ein paarmal auf die Stelle unterhalb meines Brustbeins.

Teil 2