Vorgeblättert

Leseprobe zu Miljenko Jergovic: Freelander. Teil 3

01.02.2010.
Die Pferde blieben vor dem Professor stehen, er streichelte die Flanke des Schimmels und lugte unter den schwarzen Samt. Auf dem schwarzen Sarg schimmerte ein silbernes Kreuz mit einem silbernen Jesus, der so genau gearbeitet war, dass man die Falten um Augen und Mund sehen konnte. Christus lachte den Professor aus.
Du liebe Zeit, dachte er, machen die wirklich etwas aus echtem Silber, was dann im Grab verrottet? Und das in einer Welt, in der niemand mehr lebt ...
Mit den Fingernägeln kratzte er an dem Kreuz mit dem Christus, versuchte, es vom Sargdeckel zu reißen, da glitt der Deckel vom Sarg, und Professor Karlo Adum stand dem Verstorbenen von Angesicht zu Angesicht gegenüber. In dem guten schwarzen Anzug, den er 1987 bei Nama an dem Tag auf Kredit gekauft hatte, an dem er die Rede zum Jahrestag von Titos Aufstieg an die Parteispitze halten sollte, einem ordentlich gebügelten weißen Hemd und der schwarzen Krawatte mit dem schwarz eingestickten MeStrovic-Denkmal für Mutter Kroatien, die ihm Ivanka im Sommer 1971 an dem Tag aus der Stadt mitgebracht hatte, an dem Savka Dabcenic-Kucar die Rede auf dem Platz der Republik hielt, sowie dem Abzeichen der Kroatischen Post am Revers, das ihm der Postbote einige Tage zuvor spaßeshalber mitgebracht hatte, lag Professor Karlo Adum im Sarg und - das beunruhigte ihn am meisten - atmete nicht. Er sah sich als Toten, und da begriff er, warum kein Mensch auf der Straße war.
Halb zehn. Er sprang aus dem Bett und schlüpfte in die Hose. Auf einem Bein balancierend hüpfte er durch das Zimmer, wie als Soldat bei einem Alarm. Als Soldat im Spätsommer 1968, stationiert an der Grenze zu Bulgarien. Die Sirene heult, er versucht vergeblich, das Bein durch das verdrehte Hosenbein zu kriegen, während Kosta Strajinic, der Fähnrich, brüllt, die Bulgaren hätten mit Maschinengewehren geschossen, sie haben geschossen, die Scheißkerle, und Sarko abgeknallt, den Hund, was haben sie gegen das arme Tier, und im Radio wurde gemeldet, dass der Russe am Morgen mit Panzern in Prag einmarschiert ist, die Ärmsten, aber wenn sie es in Belgrad versuchen, wir haben den Auftrag, sie aufzuhalten, zieh dich also an, es ist Alarm, du Hornochse, Alarm, die Bulgaren haben unsern Hund abgeknallt ...
Der Professor hatte um sechs aufstehen und um halb sieben auf der Autobahn sein wollen, doch der Traum hat ihn aus dem Takt gebracht. Bis er gewaschen, angezogen und rasiert war und das Hemd noch einmal gewechselt hatte, weil er auf das erste Rasierschaum kleckerte, war es zehn. Eine halbe Stunde später erreichte er die Mautstation. Da fiel ihm die Pistole ein, die er zusammen mit dem Reisepass unter dem Bett hatte liegen lassen. Er wendete mitten auf der Straße und fuhr unter den Augen erstaunter Polizisten und Fahrer, die vor der Autobahn Schlange standen, nach Zagreb zurück.
Er parkte vor dem Hochhaus. Es war Montag, die Menschen arbeiteten, es gab viele freie Parkplätze, bis auf ein paar Tauben und den Hund von Poparic, dem pensionierten Staatsanwalt, war alles ruhig. Der Cockerspaniel kläffte und jagte die Vögel und machte sich wichtig, und der Professor schielte zum Hochhaus hinüber, um nicht zufällig Poparic in die Arme zu laufen und sein Reiseziel erklären zu müssen.
Es war ein schöner Tag, es ist immer schönes Wetter, wenn man verreist, aber eigentlich lieber bleiben würde. Vor dem Nachbarhaus stand ein Krankenwagen, am Hauseingang roch es nach angebrannter Milch, am Spiegel im Fahrstuhl lief Spucke herunter. Wer immer sich darin sah, sah sich angespuckt. An der Wand neben dem Spiegel klebte ein Foto der heiligen Muttergottes von Marija Bistrica und darunter stand: "Möge Gott dieses Haus segnen."
Er holte Pistole und Reisepass, und als er die Tür hinter sich abschloss, kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, er würde nicht zurückkehren. Das ist in Ordnung, solche Sachen gehen einem halt durch den Kopf, wenn man eine Pistole dabei hat, tröstete sich der Professor.
Er legte sie zusammen mit dem Pass ins Handschuhfach. Das tat er ohne zu überlegen, wie man es in Filmen sieht. Vielleicht gestand er es sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ein, aber Professor Karlo Adum hatte das Gefühl, wichtiger zu sein. Und mindestens zehn Jahre jünger. Er hatte mehrere Stufen auf einmal genommen, als er das Hochhaus verließ, das war seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr vorgekommen, aber er fuhr genau so schnell wie sonst auch: innerhalb der Stadt sechzig, auf der Autobahn hundertzehn - mochte er selbst heute Morgen jünger sein, der gute alte Volvo war es nicht. Der Volvo war der Grund seiner Reise. Aber vielleicht bildete sich das der Professor nur ein.
An der Abzweigung nach Ivanic tankte er. Auf dem Weg zur Kasse fiel ihm ein, dass er den Wagen nicht abgeschlossen hatte. Vor einem Diebstahl hatte er keine Angst, wohl aber, dass jemand ins Handschuhfach schauen - da legen Leute oft ihre Wertsachen hinein, Sonnenbrillen, Mobiltelefone, Geldbörsen - und die Pistole finden könnte. Und ihn anzeigen würde. Professor Karlo Adum dachte ernsthaft, einer, der sich an fremden Eigentum vergreift, könnte ihn wegen unerlaubtem Waffenbesitz anzeigen. Später, als er darüber nachdachte, fiel ihm selbst auf, wie aberwitzig diese Annahme war, Kriminelle zeigen niemanden an, und Pistolen im Auto sind für sie nichts Ungewöhnliches. Wer weiß, am Ende genießt eine Crvena Zastava Baujahr 1966 bei Dieben hohes Ansehen, vielleicht war es eine gute, wertvolle Waffe, ein Schießeisen für Liebhaber, für Leute wie Toni Glowatzki oder den verstorbenen Relja Basic.
Während er einem älteren Mann in dem schmierigen Overall mit der Aufschrift INA seine Diners Card hinhielt und der genervt stöhnte, weil er mit Bargeld besser zurecht kam, malte sich der Professor aus, wie Relja BaSic aus der Innentasche statt des Portemonnaies eine Pistole holte und mit gedämpfter Stimme wie auf den Grammofonplatten in den Antiquariaten auf der Ilica sagte: Dies ist ein Überfall, bitte legen Sie das ganze Bargeld auf den Tresen. Oder wie ein Crvena-Zastava-Liebhaber sagen würde: Mann, schieb die Kohle rüber.
Während der Professor seinen Gedanken nachhing, stöhnte und seufzte der Tankwart, weil die Maschine partout die Karte nicht lesen konnte und es ihm wahnsinnig wichtig war, dass der alte Kerl vor ihm sein Stöhnen bemerkte, seine Unhöflichkeit missbilligte oder irgendetwas sagte, damit er endlich einen Grund hatte, zu explodieren und herumzubrüllen. Die Zeiten sind schwer und gefährlich, man muss schon aufpassen, wen man anschreit, wenn man an einen Kriminellen gerät, macht der einen fertig, gerät man an ein hohes Tier, rennt der direkt zum Chef, so oder so hat man verloren, wenn man sich wehrt. Aber der mickrige, elende Rentner da mit seinem Volvo aus den Siebzigern war bestimmt weder kriminell noch wichtig. Der war ein Niemand, den konnte man wegpusten, was immer er tut, tut er zum letzten Mal, der schaufelt schon an dem Grab, in das er sich bald legt.
Der Dicke schmeißt die Karte über den Tresen, fast wäre sie auf den Boden geflogen, und Professor Adum sieht genau, wie er auf den Mann schießt und der mit erhobenen Händen rückwärts in die Scheibe fällt, während er langsam, einen Schritt nach dem anderen, mit einem Gesicht wie Relja BaSic und den Taschen voll Geld zum Volvo geht.
"Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen und gute Reise", antwortet der Tankwart automatisch. Eine oder zwei Minuten später wird er den Alten mit der Diners-Karte vergessen haben.
Zu beiden Seiten der Straße flogen Telegrafenmasten, Mais- und Hopfenfelder und alte Umspannhäuschen vorbei, die lange vor dem Krieg mit der Werbung für die Elektronska Industrija NiS bemalt worden war; die Buchstaben der subversiv-feindlichen Aufschrift konnte man noch ahnen. Professor Adum bremste vor jedem Häuschen auf neunzig ab, las, buchstabierte und fragte sich, ob außer ihm niemand die Reklame für eine Firma bemerkte, die es nicht mehr gab und deren Fernseher längst schon durchgebrannt waren; neben der Straße standen hohe Schornsteine vor grauen Fabrikhallen mit zerbrochenen Fensterscheiben, endlose Wiesen mit nicht gemähtem Gras, verrottende Stoppelfelder, die in der spätsommerlichen Sonne kurz vor der Selbstentzündung standen, Hochspannungsleitungsmasten mit roten Warnblitzen, die an SS-Offiziere in BBC-Dokumentationen erinnerten, dann wieder Telegrafenmasten, einer nach dem anderen, aber vielleicht waren auch das Hochspannungsleitungen, überlegte der Professor, nur eben ältere aus der Zeit vor dem Krieg, denn wer braucht heute noch Telegrafen oder hätte von jemandem gehört, der einen Telegrafen benutzt. Auf einem Rastplatz standen drei Sattelschlepper mit großen roten Halbmonden und Buchstaben auf der Plane. Der Professor schüttelte sich, so unangenehm war ihm der Anblick. Er dachte an Männer, die vermutlich in ihren Kabinen schliefen, unrasiert und verschwitzt, mit fettigen schwarzen Haaren und leichtem Schlaf, sie wachen bei jedem Rascheln auf, denn sie sind es gewohnt, so zu schlafen und zu reisen, um Frau und sieben Kinder daheim in Istanbul, Ankara oder Izmir zu ernähren.
Während er sich die schlafenden Türken vorstellte, überlegte sich Professor Karlo Adum zum ersten Mal, wohin er selbst fuhr. Von diesem Gedanken wurde ihm leicht übel und schwummrig. Er zog die Nase hoch, schluckte den Schleim hinunter und beschloss, an etwas anderes zu denken.
Er erinnerte sich, dass er 1948 im Mai, auf den Gipfeln der Berge lag noch Schnee, mit dem Bus ans Meer gefahren war. Der Bus war olivgrün und auf beiden Seiten mit Fraktur beschriftet, die Beschriftung war mit gewöhnlichem Kalk übermalt worden, durch den die Ober- und Unterlängen der deutschen Buchstaben hässlich und drohend schimmerten. Er hatte geweint, als ihn die Mutter zu diesem Bus gebracht hatte. Er bettelte, in einen anderen gesetzt zu werden, auf dem halb zerstörten Bahnhof standen fünf weitere Busse, und in alle stiegen Kinder ein, die von ihren Eltern begleitet wurden, aber sein Bitten und Betteln waren umsonst. Mach mir keine Scherereien!, sie zerrte ihn grob zur Tür, während ihm das Blut gefror beim Anblick der Buchstaben. Er glaubte genau zu wissen, wohin ihn ein solcher Bus bringen würde. Sie setzte ihn nach hinten, weit weg von der Tür, damit er nicht wegrannte, gab ihm einen feuchten Kuss auf die Backe und ging. Seine Mama Cica, Josipa Adum, geborene Stambolija, Schneiderin und Modistin, Salon Mona Grazia, Aleksandrova 54. Das, so hatte sie ihm beigebracht, solle er sagen, wenn er mal verloren ginge. Und dann gab sie ihm bei dem Wort Modistin und beim Salon Mona Grazia eine Ohrfeige, schalt ihn einen begriffsstutzigen Dummkopf, der sie alle noch ins Gefängnis bringen würde. Er war klein, ganz, ganz klein, in den Bergen rundum wurde noch geschossen, man hörte das Echo britischer Bomben, und er verstand nicht, warum er plötzlich nicht mehr Modistin sagen durfte und Mama ihn für Mona Grazia ohrfeigte. Vor ein paar Tagen oder Monaten noch, eigentlich bis gestern, bis zu dem Sonntag, an dem Bischof Ivan Evanđelist Bonbons in glitzernden Papierchen mit dem Bild des Poglavnik darauf an die Kinder verteilt hatte, hatte sie ihn geküsst, weil er in einem Atemzug alles von Mama Cica bis Mona Grazia nachgesprochen hatte, und ihm gesagt: "Wer ist Mamas Stolz, wer ist Mamas kleiner Duce, Mamas Schutzengel, Mamas Führer." Während Männerbeine in hohen, schwarzen Stiefeln über das Parkett spazierten, das nach Petroleum roch, und der Widerhall deutschen Lachens zu hören war, nahm Mama die Maße für Schulterbreite und Beinlänge ab und sagte dabei mit trauriger Stimme: "Wenn Sie wieder nach Zagreb gehen, dragi moj Oberst Spitzer, mein lieber General Mrkonjic, mein lieber Freudenreich, denkt an eure verlassene Mona Grazia, die in dieser finsteren orientalischen Provinz zurückbleibt." Karlo verband diese Zeit mit dem Geschmack von Schokolade und dem Geruch von Petroleum.
Und gerade als er aus der Erinnerung an Schokolade herausgewachsen war und so viel Verstand hatte, dass er nie, nicht einmal im Schlaf, in die Wortreihe - Mama Cica, Josipa Adum, geborene Stambolija, Schneiderin, Volkshandwerksbetrieb - ein Wort einbaute, von dem man stirbt und das einen unverhofft metallischen Geschmack im Mund nach sich zieht, gerade da, erinnerte sich Professor Adum, während er mit dem Volvo durch die pannonische Ebene glitt und Zagreb im vormittäglichen Strahlen und Vergessen hinter sich zurückließ, weckte ihn Mama vor Morgengrauen und brachte ihn zum Busbahnhof und diesem hässlichen, olivgrünen Bus mit Frakturbuchstaben, die mit einer löchrigen Kalkschicht mehr schlecht als recht abgedeckt waren.
Er saß da, die Stirn an die Scheibe gelehnt, und wimmerte. Auf der anderen Seite der Scheibe standen Mamas, aber nicht Mama Cica. Sie war gegangen und hatte nicht zurückgeschaut. Die Mamas winkten ihren Kindern, ihn bemerkten sie nicht einmal, oder jede hielt ihn für das Kind einer der anderen Mütter. Fast sechzig Jahre später dämmerte ihm, dass es so gewesen sein musste, dass sie ihn nicht absichtlich ignoriert hatten. Damals hatte er geglaubt, sie wüssten ganz genau, dass er allein war, dass seine Mama weggegangen war und nie mehr zurückkommen würde, während sie da waren und bis zum Schluss blieben, ihren Söhnen zum Abschied winkten, wie die kroatischen Mütter beider Religionen auf dem Bahnhof gemeinsam mit Ivan Evanđelist und drei Hodschas den Rittern gewinkt hatten, die nach Stalingrad fuhren, um Europa gegen die asiatische Gefahr zu verteidigen. Mütter, die stolz auf ihre Söhne sind, bleiben.
Im Fraktur-beschrifteten Bus fuhren die, die sterben mussten.
Noch heute zog sich ihm alles zusammen bei dem Gedanken, der ihn in den schlimmsten zehn Stunden seines Lebens seit dem Betreten des Busses verfolgt hatte, denn mit vollendetem siebten Lebensjahr glaubte er in der alten deutschen Rostschüssel, einer Kriegsbeute, die der Kinderabteilung im Volkskrankenhaus zur Nutzung überlassen worden war, zum Tode verurteilt zu sein.
In dem Bus saßen nur Jungen, die meisten jünger als er, riesige Wasserköpfe, rasierte Glatzköpfe mit ungesund roter Gesichtsfarbe. Sie ähnelten sich, sahen aus wie Brüder, leere Blicke und halboffene Münder, schlitzäugig wie die betrunkenen Mandarine im Bilderbuch Vom Opiumkrieg, Zagreb 1944, das ihm Mama zum Durchblättern gegeben hatte, wenn er Fieber hatte oder sie spät am Abend das Haus verließ, weil sie es nicht mehr ertrug, den Vater fluchen und mit blutigen Fingernägeln die Wand kratzen zu hören. Einige Buben fingen laut an zu heulen, als ein bleicher, blauäugiger Jüngling mit runden Brillengläsern, kaum größer als ein Zwerg, den Bus startete und zwei, drei Mal zum Abschied hupte. Die anderen kauerten sich in die zerrissenen, dreckigen Ledersitze und zogen die dreckigen, gelben Vorhänge übers Gesicht, wahrscheinlich in der Hoffnung, sie würden auch verschwinden, wenn sie selbst nichts mehr sahen. Einige fingen an, völlig unmenschliche Schreie auszustoßen, und hörten bis zum Ende der Fahrt nicht mehr auf, aber diese Schreie störten die Begleitpersonen nicht im mindesten. Nur wenn welche laut losbrüllten oder sich von ihrem Platz erheben wollten, schwang der Erzieher einen dünnen, glänzenden Lederriemen, eine Art improvisierte Peitsche, und ließ sie auf die nackten Oberschenkel klatschen, genau hinter dem Saum der kurzen Hosen, anschließend heulte der Getroffene eine Weile über den unerwarteten Schmerz, schrie aber nicht mehr so laut.
Einer dieser Schreihälse saß neben Karlo. Er hatte die Augen von einem, der zu allem bereit ist. Wenn er brüllte, bekam Karlo es mit der Angst zu tun. Der andere war kräftiger und dicker als er, wenn auch nicht älter. Der Erzieher hatte ihn bereits zwei Mal mit dem Riemen auf die nackten Beine geschlagen und dabei Karlo jedes Mal nur knapp verfehlt. Auf der Haut des Jungen brachen zwei rote Schlangen auf, eine war am oberen Ende blutig, und um diese Schlangen bildeten sich blaue Venen und gerissene Äderchen. Die Schlange sollte in den nächsten Stunden wachsen und über die Beine des Jungen wandern und die Farbe von Rosarot in ein schreckliches Dunkellila umschlagen, wie die Paspeln und Saum am Mantel von Hochwürden Sabol.
Karlo dachte, wenn er schreit, kriegt er auch was auf die Beine.
Und holte mehrfach Luft, um zu schreien, traute sich aber nicht. Er betrachtete seine dünnen Oberschenkel, sie waren dreckig, weil er sich die Hände daran abwischte, und verschwitzt, und er dachte voll Angst, dass sich im Moment des Schmerzes alles verändern würde.
Aber jetzt, während der Fahrt mit der Pistole im Handschuhfach, konnte er schreien, so viel er wollte. Verschwunden waren der Bus und die Jungen darin, verschwunden auch die beiden Begleitpersonen und der blonde Fahrer, der Serjoza hieß und so groß war wie ein Siebenjähriger, verschwunden die Reihe enger, schrecklicher Schluchten mit grünen Flüssen unten in der Tiefe, die gewundene Straße und die Tunnels, in denen der Bus beinah stecken geblieben wäre, verklungen das Lied, das die Schreie der Kinder übertönte:
"O Marijana, süße kleine Marijana ..."
Professor Karlo Adum schüttelte sich und gab Gas. Rund neunzig Kilometer hinter Zagreb war es selbst zur Mittagszeit im Hochsommer immer leicht neblig und feucht. Bald kam die Abzweigung nach Novska, da liegt Jasenovac, einige Kilometer von der Autobahn entfernt liegt eine grau-weiße Steinwelt und der Weg dorthin, der aus Bahnschienen besteht. Dort wurde vor fünfundsechzig Jahren der Grundstein zu einem Konzentrationslager gelegt. Als Karlo geboren wurde, gab es dort bereits Baracken. Er wird vier Jahre alt sein, wird aussprechen können: Mama Cica, Josipa Adum, geborene Stambolija, Schneiderin und Modistin, Salon Mona Grazia, Aleksandrova 54, er wird wissen, dass er auf die Nachfrage: Aleksandrova? antworten muss: Doktor-Ante-Pavelic-Straße 54 und dabei die ausgestreckte Rechte wie einen Säbel durch die Luft ziehen, da ist er schon groß und vernünftig, und an jedem Tag seines Lebens werden Menschen in diesem Lager ermordet. Kein Tag bis zu Karlos viertem Geburtstag, an dem nicht wenigstens ein Mensch dort getötet wurde. Das kleine Leben war Tag für Tag mit ihrem Sterben erkauft. Mama nähte in dieser Zeit fleißig, der Vater stritt sich, stritt sich bitter mit sich selbst und kratzte mit den vier Fingern der rechten Hand an der Mauer und arbeitete nicht. Mama schneiderte Karlo eine kleine schwarze Uniform und zog ihm schwarze Stiefelchen an, und er marschierte durch Mona Grazia, während es nach Petroleum roch und aus den Hosen der Offizierstaschen Schokolade fiel, und sang dazu aus vollem Hals von Rittertum und Heldentum. Aber leider sang er nicht sehr schön. Sonst hätte er mehr Schokolade bekommen.
Er erinnerte sich deutlich an die kleine Uniform, wegen der Mamas Salon besser lief als der schräg gegenüber, der früher einem Juden gehört hatte, also einem, der Christus verraten hat - das hatte sie ihm beigebracht -, und inzwischen der Schwester von Hauptmann Sabrihafizovic gehörte, die Mama nicht ausstehen konnte und von der sie behauptete, das sei eine Türkin, keine Kroatin, Kroatinnen hätten weder so schwarzes Haar noch so dicke Lippen oder schiefe Augen. Ach, was wäre die Welt so schön und wie wären wir alle glücklich, wenn es schräg gegenüber nicht die Sabrihafizovic gäbe, wegen der Mama so böse die Stirn runzelt, dass nichts sie aufheitern kann, nicht einmal, dass Karlo vor Colonello Luigi marschiert, auch wenn der Italiener lacht und ihm auf den Hintern klopft und zwar so, dass Karlo Zärtlichkeit und Wärme im ganzen Körper spürt, in den Armen und den Beinen und zwischen den Beinen, und so marschiert er und überlegt, wie er dem Colonello, wenn er erst einmal Italienisch gelernt hat, sagt, dass man mit der Sabrihafizovic dasselbe machen soll wie mit dem Juden, sie hat Christus bestimmt auch verraten und sie ärgert Mama.
Das dachte er und merkte nicht, wie er sich, abgelenkt von der Tätschelei des Colonello, in die Hose pinkelte.
Doch verschwunden sind der Colonello und Mona Grazia und die glänzenden Zeiten, in denen das Leben so einfach war, weil es sich auf Marschieren über ein Parkett, das nach Petroleum roch, und Salutieren in der kleinen schwarzen Uniform mit den Stiefeln vom Schuster TuCan beschränkte. Dunkle Zeiten waren angebrochen, und er landete in einem Bus zwischen fünfzig gleichen Köpfen, fünfzig hässlichen Rotzlöffeln, von denen die meisten nicht mal wussten, wie sie hießen, deswegen hatten sie ein Schild mit ihrem Namen um den Hals gehängt bekommen, der eine heulte, der andere schrie, alle paar Minuten hörte man den Riemen klatschen, schau, der Nachbar war zum dritten Mal dran, zwei weitere Schlangen kringeln sich auf den Schenkeln des Jungen, Adern platzen, unter der Haut ergießt sich blaues und violettes Blut, während der Wasserkopf wimmert und schluchzt, aufstößt und fiept und heult und fast erstickt und sich die blutigen, blauen Schlangen in den Schwanz beißen in dem Rudyard-Kipling-Dschungel auf den knochigen Beinen des Idioten, der keinen Funken Verstand hat, aber wie jeder Mensch Schmerzen empfindet.
Anfangs kam es ihm so vor, als röche der Bus wie Mona Grazia nach Petroleum, und dieser Geruch gefiel ihm, er genoss ihn, aber dann malte er sich aus, dass ihn der Erzieher mit dem Riemen schlagen würde. Der Erzieher holte aus, ohne hinzusehen, wen er wo traf, die Erzieherin kam dazu und befahl: Hände weg, Filzlaus!, drehte sich leicht in der Hüfte, schlug mit einem Schlenker aus dem Handgelenk zu und wartete dann neugierig den Moment ab, in dem sich der Körper des Jungen aufbäumte und starr wurde, als bekäme er einen elektrischen Schlag, und erst danach kam der Schmerzensschrei. Sie schlug härter zu als der Erzieher, das Klatschen war lauter, die Schlangen waren dicker und blutiger. Vor ihr fürchtete sich Karlo, vor diesen Worten: Hände weg, Filzlaus!, er kannte den Ausdruck nicht, aber er vergaß ihn nie wieder.
Dann roch es nicht mehr nach Petroleum, Karlo bekam Kopfschmerzen und fand den Geruch abstoßend, ihm wurde übel davon, genau wie jetzt, wo er mit dem Volvo an Jasenovac vorbeifährt und ihn alle hupend überholen, weil er ganz langsam geworden ist, er schleicht wie eine Schnecke, nicht mal fünfzig auf dem Tacho, und ihm scheint, als hätte er noch nie so klar gesehen, was sich damals im Bus abgespielt hat, der kranke Kinder von Sarajevo ans Meer fuhr. Er erinnerte sich an jede Einzelheit, jede Gestalt und jeden Geruch. Er hatte den Benzingeruch und den Schweiß von fünfzig Knaben in der Nase und spürte sechzig Jahre später noch den Hunger, verschimmeltes Brot und Einbrennsuppe mit zwei Kartoffeln für alle fünfzig Knaben, Schweiß, an dem man die Dumpfheit dieser beschädigten Menschenjungen roch, die nach Gottes Wille längst aufgefressen worden wären, wären es Löwenjungen oder Tigerjungen oder Zicklein, denn dann hätten ihre Mütter Mitleid mit ihnen gehabt, aber da es Menschenjungen waren, gab es kein Mitleid, denn sobald sie schrien, schlug der Riemen aus der Haut fröhlicher Schweine zu, und die sozialistische Gemeinschaft schickte sie ans Meer, damit sie nicht etwa in Schnee, Smog und Nebel an gewissen Krankheiten stürben, denn sie müssen gesund sein und schreien können, damit die, die sie bis zu ihrem Ableben prügeln, nach Menschenrecht und -gesetz bezahlt werden können.
Als sie zur weiten blauen Fläche durchbrachen und Serjoza ein neues Lied anstimmte - O tiefes Meer, all meine Trauer! -, konnte sich Karlo nicht mehr beherrschen und erbrach sich, und zwar auf den Nacken des Jungen, der vor ihm saß, woraufhin dieser in voller Lautstärke losbrüllte. Er schrie so, dass alle Angst bekamen und verstummten. Im Unterschied zu den anderen schrie er nicht wie ein Kind; sein Schrei war der Schrei eines alten Mannes, der mit dem Kopf unter Wasser gedrückt wurde und wieder hochkommt. In seiner Stimme hörte man den Schrecken der zu Tode Verurteilten. Obwohl er ein Idiot war - der Speichel lief ihm die ganze Zeit über das Kinn -, er trug Windeln wie ein Säugling, schrie er wie einer, der das Leben hinter sich hat und sich an alles erinnert.
Der Erzieher rannte herbei, Gott sei Dank, dachte Karlo, bevor es ihm vor den Augen blitzte und er das Gefühl hatte, dass sich die Haut auf seinen Oberschenkeln in zwei Ufer trennte, Gott sei Dank, dass es er und nicht sie ist!, und sie, die Erzieherin, stand vor dem Idioten und schrie:
"Hände weg, Filzlaus!
Hände weg, Filzlaus!
Hände weg, Filzlaus!"
und schlug wieder und wieder zu, denn der hörte weder auf zu schreien noch nahm er die Hände weg, sondern versuchte, sich vor der Peitsche zu schützen, die immer heftiger zuschlug.
"Lass gut sein, du siehst doch, dass der plemplem ist, der kriegt nichts mit!", beruhigte sie der Erzieher.
Die nächsten drei Nächte schlief Karlo in einem großen, eisig kalten Raum in einer Villa, die einem alten Patriziergeschlecht aus Dubrovnik gehört hatte, umgeben von geistig zurückgebliebenen Kindern, die an Bronchitis erkrankt waren und wie im Bus meistens weinten und plärrten. Am vierten Tag fragte ihn die blonde Ärztin, die Klara Stein hieß, nach seinem Namen.
"Karlo Adum", antwortete er.
"Wie heißen deine Eltern?"
"Papa Ilija, Mama Cica, Josipa."
"Und mit Nachnamen?", fragte die Ärztin verwirrt.
"Adum, so wie ich. Mama hieß früher mal Stambolija, aber dann hat sie Papa geheiratet. Oma Marica heißt heute noch Stambolija, weil sie früher mal Ilija Sevic geheißen hat. So ist das für die Frauen: Du hast einen Nachnamen und bekommst einen ganz anderen, wenn du heiratest. Bist du denn verheiratet?"
"Nein", antwortete Klara.
"Meinst du, dass du dir keinen anderen Nachnamen merken kannst? Das ist nicht schwer, du musst nur immer daran denken, dass das nicht du bist, sondern dein Mann, dann kannst du es dir leicht merken", belehrte Karlo die Ärztin.
An diesem Abend schlief er nicht mehr bei den geistig zurückgebliebenen Kindern. Die Ärztin nahm ihn mit sich in die Stadt, ging mit ihm auf der Stradun spazieren, fragte ihn über Mama und Papa aus und guckte dann nachdenklich in die Luft. Dann kaufte sie ihm ein Eis und brachte ihn schließlich in eine andere Patriziervilla, die auch voller Kinder war, aber diese Kinder schrien und weinten nicht. Die Jungen prügelten sich, aber es gab auch Mädchen, die backten Kuchen aus Sand. Es gab keine Erzieher und Erzieherinnen, die mit Lederriemen zuschlugen. Innerhalb von drei Wochen setzte es eine einzige Ohrfeige von einer Betreuerin, und die bekam Savo Mesarevic, weil er den Fußball in eine Fensterscheibe geschossen hatte.
Karlo hatte nie herausgefunden, warum ihn Mama Cica zu dem Bus mit den deutschen Buchstaben gebracht hatte, in dem die geistig behinderten Kinder gesammelt wurden. Erst in späteren Jahren begriff er, dass ein Fehler passiert sein musste, dass Mama Cica nicht Bescheid gewusst hatte. Mama hatte ihn nicht für einen Idioten, einen Schwachkopf, einen Deppen, einen Mongo gehalten, wie er früher angenommen hatte, Mama hatte ihn nicht für seine Langsamkeit bestrafen wollen, bis er die Modistin und Mona Grazia aus seinem Kopf geworfen und vergessen hatte, wie glücklich er in der schwarzen Uniform mit den sechs Prunkknöpfen gewesen war, in der er marschierte wie die Teufelsdivision vor der Abreise zur Entscheidungsschlacht gegen das asiatische Heer des Josef Stalin und seiner jüdischen Helfershelfer.


Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Schöffling & Co.

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