Vorgeblättert

Leseprobe zu Maria Sonia Cristoff: Patagonische Gespenster. Teil 3

19.08.2010.
Ausflug VI: Ich verlasse den Ort in dem Krankenwagen, dem es dieses Mal wundersamerweise gelingt, sich in Bewegung zu setzen. Sonst gibt es entweder keinen Dieseltreibstoff, oder irgendetwas ist kaputt und es lässt sich kein Ersatzteil beschaffen, oder die Wege sind zugeschneit, so dass die Tour ausfallen muss. So beschreibt es jedenfalls die Gesundheitsbeauftragte von El Cain. Sie ist neu hier und muss nicht bloß mit derlei Schwierigkeiten fertigwerden, sondern auch mit dem großen Vorbild ihrer Vorgängerin, einer gewissen Rosa, die offenbar imstande war, ein klappriges Fahrrad oder sogar den Rücken eines Guanaco zu besteigen, um nur ja an ihr jeweiliges Ziel zu gelangen. Mit von der Partie ist diesmal auch ein Arzt, was tatsächlich einem Wunder gleichkommt, denn in El Cain gibt es nur einen Krankenpfleger, Ärzte gibt es bloß in Maquinchao, und die rühren sich freiwillig nicht vom Fleck. Der Arzt, der uns begleitet, ist erst seit kurzem in Maquinchao, aber offensichtlich sehr an allem interessiert, was es hier in der Umgebung, in den über die Meseta verstreuten Siedlungen zu sehen gibt. Er wirkt schüchtern, scheint sich zugleich aber gerne an abgelegenen Orten aufzuhalten, zwei Charakterzüge, die oft zusammen auftreten. Während die anderen die Liste der zu besuchenden Leute durchgehen, lerne ich, dass es Ansiedlungen gibt - parajes -, die gewissermaßen nahe daran sind, sich in richtige Dörfer zu verwandeln - dort gibt es manchmal sogar eine Schule und bis zu hundert Einwohner -, während man mit puestos völlig allein in der Landschaft stehende Häuser bezeichnet, in denen eine Familie, vielleicht auch nur ein einziger Mensch wohnt. Manchmal liegen mehrere solcher puestos einigermaßen nah beieinander, wie hier im Gebiet von Vaca Leufquen, wo es rings um den gleichnamigen See gleich sieben Stück davon gibt. Im ersten, den wir aufsuchen, wohnt Martin Roque mit seiner Familie. Das heißt, mit einem Teil der Familie, zwei Kinder gehen in Maquinchao zur Schule, und die Mutter ist auch dort, um ihnen zur Seite zu stehen. Nur sehr selten kommen sie zu Besuch nach Hause. Martin ist alleine mit seiner Mutter und den anderen drei Kindern. Eins davon, ein Junge, war auch auf der Schule in Maquinchao, ist aber nach Abschluss der Grundstufe aufs Land zurückgekehrt. Ein anderer Junge trägt ein Zicklein, dessen Eltern gestorben sind, im Arm herum, er ist ein wenig verwirrt, wie der Vater sagt. Irgendetwas fehlt ihm. Sie bitten uns in die Küche. Sie sind überaus gastfreundlich und beantworten bereitwillig alle Fragen, die die Gesundheitsbeauftragte ihnen stellt. Ob sie an die Impfungen gedacht haben, ob es Mädchen im gebärfähigen Alter gibt, ob sie Verhütungsmittel benutzen, ob die Hunde nicht womöglich Würmer haben, ob im Haus irgendwo Wanzen aufgetaucht sind. Dann tut die Gesundheitsbeauftragte, was sie zu tun hat, sie händigt Vitamintabletten, diverse Medikamente und Milchpulver aus und erteilt die dazugehörigen Erklärungen. Niemand macht sich irgendwelche Notizen, sie werden die Erklärungen also - genau wie ich - vergessen, sobald das nächste Thema angesprochen wird. Und die Vitamintabletten und die übrigen Medikamente werden unbenutzt in einer Ecke landen. Auf einmal ist leises Gebrabbel zu vernehmen: "Das ist die Behinderte", sagt Martin, "sie liegt im hinteren Zimmer." Die Großmutter steht auf, um nachzusehen, und wir folgen ihr. Das Mädchen ist achtzehn Jahre alt und kann weder gehen noch stehen noch sprechen. Ihr Leben verbringt sie zwischen diesen vier Lehmwänden; an einer davon hängt ein Plakat von Evita aus den fünfziger Jahren. Die Gesundheitsbeauftragte sagt, sie sollen sie nach draußen bringen, wenn so schönes Wetter ist wie heute, damit sie am Alltagsleben der anderen teilhaben kann. Die Großmutter nimmt die Hand des Mädchens, das zu brabbeln aufhört und die Großmutter ansieht, als erschöpfte sich für sie in dieser Berührung die ganze Welt. Wenn eines Tages eine der beiden stirbt, wird die andere ihr umgehend folgen, das scheint offensichtlich. Durchs Fenster sieht man in einen Garten, verschiedene Gemüse sind in Reihen ordentlich nebeneinander gepflanzt, drum herum ein gut in Schuss gehaltener Zaun. Die Großmutter kümmert sich darum, sagt einer der Jungen. Die Großmutter ist fünfundachtzig Jahre alt, erstaunlich mager im Vergleich zur Tatkraft, die sie ausstrahlt, und an den Ohren trägt sie Ringe mit grünen Steinen, die offensichtlich zu ihrer Alltagskluft gehören, wir hatten unseren Besuch jedenfalls nicht angekündigt.

Ausflug VII: Ich verlasse den Ort in Gesellschaft von Melivilo, dem Entwicklungsbeauftragten von El Cain. Wir fahren nach Barril Niyeu, dem paraje, wo er zur Welt gekommen ist. Dort findet diesmal das monatliche parajes-Treffen statt; Melivilo hat dabei immer den Vorsitz. Wir kommen zur Schule, wo die Versammlung stattfinden soll. Sie ist der Ort, um den sich im öffentlichen Leben dieser Gemeinschaft alles dreht. Melivilo nennt den fünfzehn Männern und Frauen, die aus der Umgebung zusammengekommen sind, die Tagesordnungspunkte: 1.) Gesundheit 2.) Schulspeisung 3.) Fahrt der Kinder nach Las Grutas 4.) Verschiedenes 5.) Terminänderung für die künftigen parajes-Treffen. Nur einer der fünfzehn Anwesenden äußert sich zu den einzelnen Themen, macht Vorschläge oder Einwendungen. Die anderen fläzen mit abwesendem Gesichtsausdruck in ihren Stühlen, als ginge sie das Ganze nichts an. Ich folge ihrem Beispiel. In der Schulbank neben mir schreibt der Mann der Schulleiterin das Versammlungsprotokoll. Aus dem Augenwinkel kann ich teilweise mitlesen: Die Landstraße 23 muss dringend asphaltiert werden, um die zunehmende Isolierung der daran liegenden parajes aufzuhalten ? Jüngster Bericht des Landesentwicklungsamtes Süd: Das Gebiet südlich des Rio Negro entvölkert sich weiter ? Lage der Kleinbauern untersuchen, insbesondere ihr Verhältnis zur Produktionsgenossenschaft ? In den letzten Monaten immer weniger Besuche der Gesundheitsbeauftragten ? Schwierigkeiten mit dem Krankenwagen: alt, Ersatzteile fehlen ? Diesbezüglich das direkte Gespräch mit dem Gesundheitsministerium suchen ? Allgemeines Problem: Ansprechpartner in der öffentlichen Verwaltung von hier aus kaum erreichbar ? Genehmigung der Kinderreise nach Las Grutas im Dezember ? Polizeibeamte aus El Cain, die beauftragt werden sollen, die Kinder von Barril Niyeu nach Maquinchao zu begleiten; ab dort Weiterreise im Bus.
     Ich bin überzeugt, dass sich in dieser Angelegenheit die Frauen zu Wort melden werden. Die Schulleiterin, ein Polizist und Melivilo versuchen gemeinsam den Abfahrtstag und die Abfahrtszeit festzulegen, sie sprechen davon, was die Kinder unterwegs alles unternehmen werden, wie wichtig es ist, dass sie das Meer zu sehen bekommen und zum ersten Mal im Leben mit der Bahn fahren. Die Frauen jedoch bleiben stumm. Es kommt oft genug vor, dass die Kinder hier sexuell missbraucht werden oder wie Sklaven schuften müssen, flüstert mir eine Kinderpsychologin ins Ohr, die gerade die Gegend bereist, sie habe nicht nur einmal zu hören bekommen, dass jemand seine Tochter gegen ein paar Ziegen eingetauscht habe. Und ich hatte geglaubt, so etwas kommt nur in den Wüsten Arabiens vor, an die ich beim Anblick dieser Meseta immer wieder denken muss. An der Versammlung nimmt auch Rosa teil, die Gesundheitsbeauftragte, von der man mir vor ein paar Tagen erzählt hatte. Wütend steht sie auf und sagt, was da neulich passiert sei, dürfe auf keinen Fall nochmal vorkommen, ein Junge aus einem paraje sei bei ihnen erschienen, er habe furchtbare Krämpfe gehabt, und sie hätten bis nach El Cain fahren müssen, um von dort per Funk in Maquinchao anzurufen, damit sie ihn von dort holen kämen und ins Krankenhaus brächten; jeder wisse, dass in Maquinchao das einzige Krankenhaus weit und breit sei, und von allen Funkstationen - von allen, sagt sie und macht eine Pause, um jeden Einzelnen der um sie herum Sitzenden ins Visier zu nehmen; dabei dreht sie den Kopf wie ein U-Boot-Periskop, das an der Wasseroberfläche auftaucht -, von wirklich allen Stationen hätten sie Antwort erhalten, bloß aus Maquinchao nicht; daraufhin habe der Zivilschutz in Choele Choele bei der Polizei in Los Menucos angerufen, damit die sich mit dem Wagen nach Maquinchao aufmachten, und so weiter. Na ja, Genaueres wisse sie nicht, aber wundern würde sie es nicht, wenn die in Maquinchao wieder einmal einfach das Funkgerät ausgeschaltet hätten, bloß weil sie das Pfeifen beim Fußballgucken im Fernsehen stört. Ich gehe ein bisschen hinaus an die frische Luft. Ich brauche nicht lange zu suchen, bis ich auf den sogenannten "Indiofriedhof" stoße. Dabei handelt es sich um ein paar von einer niedrigen Lehmmauer umgebene Gräber; die Mauer reicht mir bis zur Hüfte. Das Gras ist überall hochgewachsen, offenbar fühlen sich weder irgendwelche Nachkommen noch die öffentliche Verwaltung dafür zuständig. Auf manchen Gräbern - von Leuten, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts gestorben sind - stehen schlichte, aber anmutige schmiedeeiserne Kreuze. Ich frage mich, was aus demjenigen geworden ist, der sie einst geschmiedet hat, woher er so viel ästhetischen Feinsinn gehabt haben mag, und ob er wohl daran gedacht hat, dafür zu sorgen, dass auch auf seinem Grab eines Tages eins dieser Kreuze aufgestellt wurde, auch wenn er vielleicht erst Jahrzehnte später gestorben ist. Wie bei allen verlassenen oder schlecht versorgten Friedhöfen ist auch hier der Boden uneben, überall erheben sich kleine Hügel, die den Eindruck machen, als bewegten sich die Toten in ihren Gräbern. Wahrscheinlich geben die Leute auf privaten Friedhöfen genau deshalb so viel Geld für die Grabpflege aus: Der dort immer schön ebenmäßig flach gehaltene Boden soll den Eindruck von Ruhe und Frieden vermitteln. Aus dem hohen Gras springt ein Hase hervor, aber ich erschrecke nicht.

Der Laden, die Ambulanz, das Gericht, die Polizeistation, die Telefonzelle, das Handelsbüro und die Bar - das sind die Orte, die man in El Cain ansteuern kann. Ich gehe in die Bar. Es ist kurz vor acht, um diese Uhrzeit kochen die Frauen das Abendessen und die Männer treffen sich zum Kartenspielen. Letztere sind diesmal nicht bloß eine zufällige Ansammlung männlicher Wesen, im Gegenteil, man könnte sagen, um den Tisch herum sind sämtliche Vertreter der politischen Parteien wie auch der sonstigen Autoritäten zusammengekommen, mutete dies angesichts der Größe des Ortes nicht ein wenig hochstaplerisch an. Ich setze mich auf einen Stuhl neben dem Tisch - die Kartenspieler dagegen stehen. Nach einer Weile sehe ich zur Tür: eine Unmenge von Kindergesichtern drückt sich die Nase an der Glasscheibe platt, zusammen ergeben sie ein dichtgedrängtes, sich ständig bewegendes Mosaik. Einer meint dazu, sie sähen herein, weil die Frauen normalerweise nicht in die Bar kommen. Die Kartenspieler wunderten sich jedoch nicht über mein Erscheinen, mittlerweile kennen sie mich, ich habe sie längst alle interviewt. Nicht so der Besitzer der Bar. Er ist stocktaub und damit gegen alle Zumutungen der Außenwelt gefeit. Der Schulleiter hat mir gesagt, dass er sich mit den anderen durch Zeichen verständigt, wenn er ihre Gewohnheiten nicht ohnehin kennt - die Hand heben bedeutet: einen Gin; ein Kopfschütteln, und schon kommen die Erdnüsse. Ich bin so ungeschickt und bestelle "eine Cola mit Fernet". Beides einzeln zu bestellen hätte mich vielleicht ans Ziel meiner Träume gebracht, von meinem Mixgetränk aber bekommt der Barbesitzer bloß den Anfang mit: "Cola." Zähne hat er keine mehr, und von den Haaren ist unter der Baskenmütze wahrscheinlich auch nicht viel übrig. Er sieht den anderen mit kindlich anmutender Aufmerksamkeit beim Spielen zu, verpasst dabei aber das Interessanteste: das unglaubliche Kauderwelsch der Kartenspieler.

Es geht nicht: In El Cain zu lesen ist definitiv unmöglich. Es bleibt mir also nicht anderes übrig, als hin und her zu gehen, in der Umgebung herumzustreunen, das habe ich ja schon erklärt. Andernfalls laufe ich Gefahr, von meinen Schlafgenossinnen in Beschlag genommen zu werden, oder vom Lehrer, der durch den Ort schleicht, oder von einem wie wild drauflos quatschenden Fernsehsprecher, oder von einer Hausfrau, die mir ihr Leben erzählen möchte. Darum stehe ich früh auf und verlasse den Ort. In welche Richtung auch immer. Vor Jahren bin ich vor allem deshalb von hier, aus dem Süden, weggegangen, weil es nicht genug Bücher gab. Später überstand ich meine diversen Ferienaufenthalte dank der Bücher, die ich mitbrachte - oder auch vorfand, denn dass es vor Ort gar keine Bücher gab, stimmte doch nicht so ganz; aber das ist ein anderes Thema. Die Bücher sind für mich eine Art Garantieschein, den man mir bei der Ankunft in die Hand drückt: das Versprechen, dass ich in jedem Moment von hier verschwinden kann. An diesem Ort jedoch, wo ich nicht lesen kann, steigt eine Urangst wieder in mir auf, die alte Panik vor dem Eingesperrtsein. Vielleicht habe ich mir diese Angst aber auch erst hier zugelegt: Indem ich nach El Cain gekommen bin, bin ich dem Namen dieses Ortes zum Opfer gefallen, folglich dazu verdammt, ziellos umherzuirren, "unstet und flüchtig", wie der Kain Vigelands: Von lauter Menschen, ja sogar einem Hund umgeben, mit denen ihn jedoch nichts verbindet, aber auch nicht imstande, sich um sie zu kümmern, verängstigt, nur noch Haut und Knochen, mit weit aufgerissenen Augen, die nie zu blinzeln wagen, denn nur auf sie kann er bauen, wenn es darum geht, gegen den tödlichen Schlag gefeit zu sein. Von den Seiten des in blaues Packpapier eingeschlagenen Heftes aus, in dem die Geschichte von El Cain verzeichnet steht, versucht die verschnörkelte Handschrift des Schulleiters und Ortschronisten mich zu beruhigen: "El Cain", schreibt er, "ist eine Verballhornung des Ausdrucks 'iëlkaien', mit dem man in der Sprache der nördlichen Tehuelche-Indianer eine Art von Steinen bezeichnet, die man zum Mahlen verwendet." Und er fügt hinzu: "Deshalb erübrigen sich Erklärungsversuche mithilfe des Araukanischen oder gar des Spanischen, im letzteren Falle unter Bezugnahme auf die Bibel." Als ich mich gerade von diesem Kommentar habe einlullen lassen, muss ich an Melivilo denken, dessen Name mir die andere Seite des Wals ins Gedächtnis ruft: nicht die des gelehrig-folgsamen Tiers, von der ein Großteil des Patagonien-Tourismus lebt, sondern die Melvilles, die des Ungeheuers, das verlangt, dass man ihm unaufhörlich nachjagt.

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Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlages
(© 2010 Berenberg Verlag)


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