Tagtigall

Wechsle ich das Schloss aus?

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
16.10.2022. "Sprache ist Atem, gefüllt mit Sinn" , so der ukrainische Dichter, Autor, Musiker und Aktivist Serhij Zhadan, der am 23. Oktober in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. Hier einige Beobachtungen zur Dichtung Zhadans.
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I.

"Sprache ist Atem, gefüllt mit Sinn", schreibt der ukrainische Dichter Serhij Zhadan 2020 in einem Gedicht. Eine Zeile, die sich wie ein Echo liest auf das Diktum Paul Celans, das Gedicht sei eine "Spur unseres Atems in der Sprache", denn das Sinnliche, Sinnfällige der Sprache sei das Geheimnis der Gegenwart einer Stimme". Tatsächlich ist jede Erwartung in die Wirkmacht der Sprache "trügerisch", so Zhadan kurz später in Anspielung an Celan, zumal es ihr nicht gelungen sei, "jemanden daran zu hindern, von der Brücke in die Seine zu springen".

Serhij Zhadan, der Autor dieser Zeilen, der in wenigen Tagen mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird, ist 1974 in Luhansk geboren und lebt heute in Charkiw, im Osten der Ukraine. Einst hat er Gemanistik studiert. Seit der russischen Annexion der Krim und von Teilen des Donbass Ende 2014 hat er sich in seinem Werk dem Schrumpfen und Schwinden von Körper und Sprache in Zeiten des Krieges entgegengestellt: in seinen Romanen, in seiner Lyrik und als "Frontmann" seiner Ska-Band "Hunde im Kosmos" (Hörprobe).

Seit dem 24. Februar, dem Beginn des russischen Vernichtungskriegs also, sind er und seine Freunde Tag und Nacht im Einsatz, im Dienst der Territorialverteidigung. Bis dahin hatten viele geglaubt, dass der Krieg lokal begrenzt sei: eingehegt und einhegbar. So war es fast still um ihn geworden. Nicht so bei Zhadan: "Die Sprache des Krieges", schrieb er, "ist trocken und amtsstubenhaft. Die Kamera fängt die ausgebrannte Technik, die zerstörten Hausaufgänge ein. Einer kommentiert etwas, ein anderer gibt Erläuterungen. Und im Hintergrund unglaublich üppiges Grün, ein wahnsinniger östlicher Sommer." Damals diagnostizierte er eine Uniformisierung und Militarisierung der Sprache ("Bataillone der Liebe"). Beschreibungen von Blumenwiesen und blühenden Kirschbäumen, die sich einst mit romantischen Schäferstündchen verbanden, mutierten, wie er sagte, für eine ganze Generation zu Bildern tödlicher Gefahren.

Das war 2015. Wie aber schreibt man heute, unterm Bombenhagel? Wie, wenn es andauernd irgendwo brennt? Wenn Worte aus historischen Romanen wie Kollaboration, Besatzung, Annexion plötzlich reaktiviert werden. Wie findet man zu einer Sprache, die das eigene Erleben nicht in Hohlformen der Vergangenheit gießt? Krieg subsumiert das eigene Wahrnehmen unter allgemeine Begriffe, macht eigenes Planen zunichte.

Seit dem russischen Überfall schreibt Zhadan Nachrichten in den Sozialen Medien, die der Suhrkamp Verlag soeben unter dem Titel "Himmel über Charkiw" veröffentlicht hat. Darin kann man mitverfolgen, wie der Autor Tag um Tag und Nacht um Nacht im umkämpften Charkiw Menschen evakuiert, Bedürftigen hilft, Hilfsgüter transportiert, kleine Konzerte arrangiert. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den Kindern. Doch der Krieg ist ein großer Generalisator, und viele von Zhadans Tagesnotizen enden mit Mutmachern wie "Allen eine gute Nacht. Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher."

Auch Zivilisten können sich dem höllischen Sog des Krieges längst nicht entziehen, werden von den Verhältnissen zwischen den Fronten zermürbt, sehen das Recht am eigenen Körper bedroht. Niemand weiß mehr, was der nächste Augenblick bringt. Niemand kann mehr Pläne machen, weshalb das Tagebuch als die Gattung der Stunde erscheint. Das Tagebuch benötigt keine "Erzählung", es muss zu keinem Schluss oder Ergebnis kommen, sondern es protokolliert, es bezeugt, was ist. 


II.

Zhadans Poesie hat sich über die Jahre verändert. Früher, vor 2014, war das Personal oft konkret. Die Gedichte trugen Titel wie "Der Marodeur" oder "Der Gebrauchtwagenhändler" oder "Der Spion". Andere hießen "Polnischer Rock" oder "Jerusalem". In der jüngeren Zeit gibt es nur noch selten Titel und meist beginnen sie sehr allgemein:  "Zusammenkommen und reden"- "Zu viel Politik" -"Später dann kein Wort mehr" oder "Und irgendwann geraten sie in Streit".

Schon immer läßt Zhadan die Outlaws unserer Welt zu Wort, ja zu ihrem Wort kommen. Sein Blick ist anarchisch und poetisch zugleich. Und er schreibt nicht nur für alle, sondern auch über alle, deren Leben und Lebensgefühl ohne ihn im Dunkeln bliebe. Wo es früher Namen gab, heißen seine Protagonisten der jüngeren Zeit meist "ich", "er" oder "sie". Etwas hat sich verallgemeinert.

Eines der Gedichte etwa beleuchtet das sich ausbreitende Schweigen zwischen zwei Liebenden in Zeiten des Krieges.

In den zwei Jahren, die er fort war,
hat sie hin und her überlegt.
Wechsle ich das Schloss aus?
Oder nicht?
Kommt er zurück?
Oder nicht?
(...)
Wenn er zurückkäme, würde sie ihm alles sagen.
Was sie von ihm hält
und von der ganzen Sache -
das würde sie ihm unbedingt sagen.

"Von der ganzen Sache"- In diesem Vers ballt sich die Sprachlosigkeit, die das Gedicht durchzieht. Die zwischenmenschlichen Verheerungen. Das lyrische "er", der Separatist, der 2015 seine schwangere Frau verließ und in den Krieg zog, wird irgendwann im Gedicht zu ihr zurückkommen, doch sie werden es nicht schaffen zu reden, und die "ganze Sache" bleibt zwischen ihnen. Schließlich ist im Krieg "alles" Politik, wie es heißt, selbst der Vorfrühling, "der den Himmel mit süßem Rauch tränkt".

Überhaupt: der Himmel. Er ist in den Gedichten immer gegenwärtig. In seinem Debüt von 2003 ("Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts") tauchte das Wort "Himmel" gleich 32 mal auf, immer in anderen Formen und Variationen, darunter "düsterer Himmel", "Salathimmel" oder auch "Jugendliche die Eisenstangen in den Himmel stechen". Zhadans Lyrik sei ein "Himmelskino", schrieb der Dichterkollege Andri Bondar. Doch Zhadans Himmel verlor damals bereits "Stern um Stern". Heute in "Der Himmel über Charkiw" beginnen viele der Tages-Einträge mit Betrachtungen des gemeinsamen Himmels, als garantiere der Blick in den Himmel den Zusammenhalt der Menschen, auch wenn von dort die Bomben kommen: Mal herrscht "Frühlinghimmel", mal ein "Himmel, der dich beleuchtet", und wieder ein andermal hängt der Himmel  voller Wolken, "tief und aufmerksam". Einmal gar müssen die Hügel von Charkiw den Himmel "stützen", als könne das Gesteinsmassiv verhindern, dass der Himmel auf die Erde niederfällt. "Die Künstler verbindet die Sorge, das verlorene Gelände gemeinsamer Übereinkunft wiederzugewinnen", sagt Hannah Arendt, und der Himmel ist die Metapher für diese Sorge.


III.

"Die Geschichte ist ein geschickter, wenn auch manchmal ziemlich brutaler Töpfer", liest man in "Der Himmel über Charkiw". "Manchmal gibt sie unseren Seelen eine Form, von deren Existenz wir keine Ahnung hatten." Auch hier, in dem Wort "Töpfer", klingt Paul Celan an, diesmal Zeilen aus dem Gedicht Psalm: "Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unseren Staub. / Niemand. // Gelobt seist du, Niemand. / Dir zulieb wollen / wir blühn. / Dir / entgegen." Eine Anrufung der Vergeblichkeit. Hier zeigt sich ein Grundaspekt der Poetik Zhadans wie Celans. Beider Gedichte leben aus der Möglichkeit der Sprache zur Dialogizität, aus dem Versuch, sich auch noch dort zu verständigen, wo das Schweigen - das Nichts - die Sprache zu umschließen droht. Selbst noch die vergeblichste Ansprache bezeugt schließlich, dass die anfängliche Einsamkeit einen Ausweg sucht. Und mag die Ansprache noch so sehr von dem Gefühl der Vergeblichkeit getragen sein - dennoch gilt: erst die Ansprache eröffnet die Möglichkeit, dass es überhaupt eine Antwort geben kann.

Die Welt wird nie mehr so sein wie früher
Wir werden nicht zulassen, dass sie so sein wird wie früher.

besang Zhadan vor Jahren Ambivalenz und Hoffnung. Und weiter:

Sag uns dass die Täter ihrer Strafe nicht entgehen,
Sag uns was anderes als wir in den Nachrichten sehen.

Ja, es braucht "etwas anderes" als Gesellschaft und Staat. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen; damit das tödlich Bedrängende dem Schweigen entrissen und gemeinsam gedreht und gewendet werden kann. Zhadans ganzes Tun sei durchdrungen von einer "unglaublichen Nähe zu den Menschen", hieß es zu Recht in der Begründung des Friedenspreises - seine Verse ebenso wie seine politischen Interventionen. Dafür wird er am 23. Oktober geehrt.

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Zum Weiterlesen:

Serhij Zhadan, Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts. Gedichte, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006.

ders., Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe und Esther Kinsky, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.

ders., Antenne. Gedichte, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, 2020.

ders., Der Himmel über Charkiw, Suhrkamp Berlin, 2022.

Vortrag von Serhij Zhadan zu Paul Celan

Paul Celan, Die Niemandsrose / Sprachgitter. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1980