Tagtigall

Do fraig amors adjuva me

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
17.10.2017. Minnesang ist Rollenlyrik, aus Klang gemacht, Kraft und Stil zugleich. Und er zeigt uns, aus welchen überlieferten Bildern und Geschichten wir Heutigen gemacht sind. Über "Unmögliche Liebe", eine neue Sammlung aus der Kunst des Minnesangs.
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"Ich waene nieman lebe, der mînen kumber weine/ den ich eine trage" dichtete einst Heinrich von Morungen (1150-1222). Wäne, weine - weine, eine. Man hört: Minnesang ist aus Klang gemacht, doch bis heute wissen wir nicht, zu welchen Melodien die meisten der Minne-Verse ertönten, und wissen nur, dass sie als äußerst unterhaltend empfunden wurden. Die höfische Minne stand für Kraft und Stil zugleich. Liebend, ehrfürchtig und mutig sollte er machen, dieser poetische Vortrag von Liebesfreud und Liebesleid aus dem 12. / 13. Jahrhundert, von dem Schiller einst schrieb, dass er "der Ritter große Heldenherzen" hebe.

Ob es stimmt, dass der Minnesang sich in seiner Gestalt aus der Marienverehrung speiste? Die "hohe Minne" jedenfalls durfte zu ihrer Zeit auf keinem höfischen Feste fehlen, sie gehörte zur Entwicklung der höfischen Kultur unter den Stauferkaisern und war womöglich - unter anderem - ein großangelegtes Einfühlungs- und Zivilisierungs-Programm der damaligen Rittersleut. Soeben ist nun der Band "Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen" erschienen, herausgegeben von dem Dichter, DJ und Minne-Forscher Tristan Marquardt und dem Dichter und Essayisten Jan Wagner, der dieses Jahr mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wird - ganz nebenbei sicher auch für die beeindruckende Vielfalt seines literarischen Engagements.

Die in dem Band versammelten Minnelieder reichen von den Anfängen, einem wechselseitigen Liebessehnen, über die "hohe Minne" bis hin zu Oswald von Wolkenstein, von dem Thomas Kling in seinem "Sprachspeicher" schreibt, dass er der erste Dichter gewesen sei, von dem ein gemaltes Porträt existierte: "Die erste visuelle Dokumentation eines deutschen Dichters zeigt einen Einäugigen" (Kling).

Die "Minne" mit ihrem unerreichbaren Frauen-Ideal, war in ihrer Hochzeit weniger Erlebnis- als Rollenlyrik. Ludwig Tieck, der große Romantiker, soll als erster zur Neubelebung der Vergangenheit Minnelieder übersetzt haben. Seither haben Unerhörtheit des Verlangens ebenso wie Schönheit der Sprache die Dichter immer neu gereizt, denn ein ganzer Schatz aus Bildern, Weisheiten und Worten tut sich hier auf. Kein Wunder also, dass es den beiden Herausgebern, Marquardt und Wagner, gelang, neue Übertragungen von zahlreichen Zeitgenossen zu versammeln. Odile Kennel zum Beispiel machte aus den eingangs genannten Versen von Heinrich von Morungen: "Wen kümmert schon ,mein Kummer, / den ich alleine trage / es sein denn meine Holde, die ich aufrichtig liebe, /vernähme meine Klage". Klagelaute wie "Wehe" und "oh weh!" sind ebenso häufig anzutreffen wie etwa das Wort "triuwe" (Treue). Sehnsucht und Leidenschaft, Verlangen, Verzehren und Verzagen - das alles findet sich zu Hauf.

Im Vorwort erwähnen die Herausgeber, dass einige Verse, wie etwa Walther von der Vogelweides Lob des deutschen Adels vor völkischem Missbrauch in der Germanistik nicht gefeit gewesen sei. Da wundert nicht, dass die Lyrikerin Ulrike Dräsner sich dieses Liedes auf eigene Weise angeeignet hat. Was bei Walther so lautet:  

diusche man sint wol gezogen,
rehte als engel sint diu wîp getân.
swer si schildet, derst betrogen:
ich enkan sîn anders niht verstân.
tugent und reine minne,
swer die suochen wil,
der sol komen in unser lant: da ist wünne vil:
lange müeze ich leben dar inne!


verwandelt sie, der Blickrichtung des Originals folgend:

deutscher mann reiss dich am riemen
eure frauen sind der hammer.
wer hier mault, verdient sich striemen:
unbegreiflich dies gejammer.
tugendhaft und lieberein
wer das sucht, der eil in unser schland
wonnebrei fließt dortzuland.
drin leben für immer, das wär mein.


Nicht überall geht es so deftig zu. Aus Walthers Zeilen in einem anderen Gesang

Do der sumer komen waz
Uhd die bluomen dur daz graz
Wunneclichen sprungen
Al da die vogele sungen
Dar kom ich gegangen
an einem anger langen
da ein luter brunne entspranc
vor dem Walde waz sin ganc,
da diu nahtegale sanc.


kondensiert Ulf Stolterfoht neu und leise:

sommer wars
blumen sind dem Gras
entsprungen
vogelzungen
da bin
ich hin
bächlein rann
am waldrand entlang
nachtigall sang.


Verdichtung, Verknappung. Aus Brunnen wird Bächlein. So wandeln sich die Bilder im Sprung der Zeiten.

Jedes Minnelied wird zwar im Buch nur einmal übersetzt, aber die Minne-Dichter sind im Band meist mit mehreren Werken vertreten und erhalten auf diese Weise verschiedene zeitgenössische Stimmen. Das gilt in besonderem Maße für Oswald von Wolkenstein, der von acht verschiedenen Dichtern übertragen wurde, darunter Durs Grünbein, Oswald Egger, Uljana Wolf und Ron Winkler. Alle vier dichten nach dem jeweiligen Bauprinzip des Ausgangsliedes. Während Oswald Egger in Oswalds autobiografischem Lied "Es fuegt sich do ich was von zehen Jahren alt" die - auffällige - Häufung der Einsilber zum Übersetzungsprinzip macht und dabei Sequenzen herausdestilliert wie: "won ich ir bei so ist mein mitt und maß da von" hat Uljana Wolf sich Oswalds Sprachmix zur Brust genommen. Dessen Komposition aus Deutsch, Rumänisch, Slowenisch, Ungarisch und Altfranzösisch in "Do fraig amors / adjuva me / ma lot, mein orss / na moi secce" überträgt sie translingual und phonetisch in "If luv franst aus/ (a grenz is merz)/ ma flugs a gaul/name you a ´serz", um, wie sie sagt, dem "fransen und scheuern (fraying) der Sprachen ineinander" Raum zu geben.

Nicht alle Übertragungen sind so eigentönig wie Johannes Franks Diktum von "Am Morgen vor dem Danach", wie Joachim Sartorius' "Der Leib sucht mit den Heiden streit / das Herz für eine Frau will brennen" oder Jan Volker Röhnerts Vogelweide-Zweizeiler "Als Typ trägst Du schon dicke auf- / Palavern ohne Sinn". Nicht immer überzeugen die Versionen der heutigen Dichter - manche bleiben zu nah, andere gehen zu weit weg vom Hallraum des Originals -, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass die Lyriker nicht spontan selber wählen konnten, welches Gedicht ihnen zuspricht, sie anspricht und angeht. Solche Übersetzungen aber brauchen Spontaneität.

Beim Stöbern - denn von vorne nach hinten durchlesen kann man dieses Buch nicht -, erhellt sich ganz nebenbei, wie sehr wir Heutigen in damalige Mythen und Bilder verstrickt bleiben. Bei Heinrich von Mügeln etwa heißt es an einer Stelle:

sehit, wie den salamander für
rett vor dem tode ungehür - sust mich din stür,
mins lebens am vür alle vib besunder.


und wenn Anja Utler übersetzt:

Seht den Salamander rettet feuer,
vor dem ungeheuren tod - mich steuerst du,
durchs leben meine amme, teuerste von allen.

kommt einem unmittelbar Ingeborg Bachmanns "Erklär mir Liebe" in den Sinn:

"ich seh den Salamander durch jedes Feuer gehen
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts."

Auch wir Heutigen sind nolens volens aus überlieferten Bildern und Geschichten gemacht. Unmögliche Liebe kombiniert aufs Herrlichste philologische Kernerarbeit und kunstvolles Sprachschaffen; herausgekommen ist ein verführerisch schöner Band, der Schätze der Vergangenheit völlig neu belebt. Den Herausgebern gelingt es zu zeigen, dass die Sprachkraft und Sprachgestalt des Heute den früheren Werken ganz neue Lichter aufsetzen kann. Schließlich ist nicht nur die Gegenwart durch Vergangenes geprägt, sondern heutige Werke prägen auch vergangene Werke weiter.


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"Unmögliche Liebe: Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen". Zweisprachige Ausgabe, herausgegeben von Tristan Marquardt und Jan Wagner, Hanser Verlag, München 2017, 304 Seiten, 32 Euro