Im Kino

Das Schmatzen der Fleischstücke

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl
13.09.2023. Die Kneipen heißen "California" oder "Buenos Aires" in Aki Kaurismäkis neuem Film "Fallende Blätter"; die finnische Tristesse ist gleichwohl allgegenwärtig. Trost spendet abermals vor allem das typische Kaurismäki-Licht.






Mit gekrümmter Haltung und verschlagenem Blick lauert ein Supermarkt-Detektiv zwischen den Regalen. Das Überwachungsmanöver wirkt lächerlich, weil er völlig exponiert dasteht und dabei so starr bleibt wie die Einstellung, die ihn ins Visier nimmt. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf Ansa (Alma Pöysti), die im Rahmen eines Null-Stunden-Vertrags Regale einräumt und heimlich abgelaufene Lebensmittel einsteckt. Wenn die am Existenzminimum darbende Frau wenig später überführt und gefeuert wird, kann dies nicht einmal der in seinem blinden Gehorsam bemitleidenswerte Detektiv wirklich genießen. Auf böse Menschen trifft man in Aki Kaurismäkis neuem Film nicht, die Verhältnisse aber sind umso brutaler.

Ansa ist arm und einsam. Nachdem sich das Mikrowellengericht aus dem Supermarkt als nicht mehr genießbar erweist, muss das Abendessen eben ausfallen. Als sie später mit Schreck ihre Stromrechnung liest, dreht sie auch noch hastig das Licht ab. Kaurismäki, der mit "Fallende Blätter" seine Ende der 80er begonnene proletarische Trilogie fortsetzt, reagiert auf die Unwürdigkeit eines prekären Leben mit dem hoffnungsvollen Potenzial der Liebe. Bei einem Karaoke-Abend trifft Ansa den großgewachsenen, auf eine grobe Art attraktiven Bauarbeiter Hollapa (Jussi Vatanen), der mit Kollegen in einem Container haust. Beide sind auf unterschiedliche Art vom Leben gezeichnet. Während Ansa trotz geerbter Eigentumswohnung der Magen knurrt, zerstört Hollapa seine finanziell nur bedingt bessere Situation mit Alkohol.

Die wegen äußerer Umstände nur sehr holprig in Gang kommende Liebesgeschichte siedelt Kaurismäki in wenig gentrifizierten, von Industrie und Arbeiterwohnungen geprägten Vierteln Helsinkis an. Der Alltag seiner beiden Protagonisten spielt sich ausschließlich zwischen Fabrik, Baustelle, Kneipe und beengtem Zuhause ab - ohne Aussicht darauf, diese eng gesteckten Grenzen einmal hinter sich zu lassen. Die Figuren sind wortkarg und ihre Bewegungen aufs Wesentliche reduziert, leblos ist das Schauspiel jedoch nie. Auch das Setdesign ist minimalistisch und aufgeräumt, ohne steril zu wirken. "Fallende Blätter" gelingt dies mithilfe lakonischer und doch sinnlicher Details. Etwa wenn sich auf dem Laufband der Supermarktkasse mächtige, plastikverschweißte Fleischstücke mit schmatzendem Geräusch aufeinandertürmen. Natürlich gibt es auch wieder das typische Kaurismäki-Licht, das zwar harte Schatten wirft, die resignierten Gesichter aber mit einer feierlichen Wärme erfüllt.



Der Filmtitel stammt aus dem Chanson "Le feuilles mortes", der von einer zerbrochenen Liebe erzählt. Die Vergangenheit wird darin als eine Zeit beschrieben, in der "das Leben schöner war und die Sonne heller schien". Kaurismäki setzt darauf, dass es auch zukünftig wieder ein wenig besser werden könnte. Die Sehnsucht in seinem Film bleibt bewusst diffus. Sie richtet sich auf kein großes, ohnehin unrealistisches Ziel, sondern begnügt sich mit der kraftspendenden Schönheit eines flüchtigen Moments. Immer wieder treffen Ideal und Wirklichkeit aufeinander, etwa wenn Ansa versucht, die bürgerliche Vorstellung eines romantischen Abendessens zu erfüllen, während Hollapa lernt, was ein Aperitif ist, und von der mickrigen Größe des Glases enttäuscht ist. Hinter Kneipen mit verheißungsvollen Namen wie "California" oder "Buenos Aires" verbergen sich dementsprechend derangierte Rocker-Typen und promillegeschwängerte Tristesse.

Irgendwie ist "Fallende Blätter", in dem mehr gesungen als gesprochen wird, auch ein Musical. Traurige Schubert-Lieder werden beim Karaoke-Abend dargeboten, eine finnische Version des beschwingten "Mambo Italiano" ertönt aus einem alten Wurlitzer und in einer Kneipe spielt eine hippe Electropop-Girl-Band in Arztkitteln. Was die wild zusammengewürfelten Songs vereint, ist, dass sie entweder von inbrünstigem Weltschmerz oder der Flucht in eine heile Fantasiewelt handeln. Etwas irritierend wirken dagegen die Nachrichten über den Krieg in der Ukraine, die mehrmals im Radio zu hören sind. Vielleicht will Kaurismäki damit Ansas und Hollapas Überlebenskampf vor einer globaleren Leidensgeschichte ansiedeln, vielleicht dienen diese Momente aber auch einfach dazu, die im Design (Schnurtelefon) und der Mode (Harrington-Jacke) eher den 1960ern verschriebene filmische Welt unmissverständlich in der Gegenwart anzusiedeln. Dem Film schadet dieser Bruch nicht, er passt sogar ganz gut dazu, wie Kaurismäki zwischen Realismus und Künstlichkeit sowie zwischen Misere und Utopie balanciert.

Michael Kienzl

Fallende Blätter - Finnland 2023 - OT: Kuolleet lehdet - Regie: Aki Kaurismäki - Darsteller: Alma Pöysti, Alina Tomnikov, Jussi Vatanen, Janni Hyytiäinen - Laufzeit: 81 Minuten.