Intervention

Ungebrochen

Von Richard Herzinger
27.12.2023. Auch in seiner islamistischen Variante ist der Antisemitismus ein düsteres Erbe der deutschen Vergangenheit, das nicht einfach als etwas "Fremdes" beiseite geschoben werden kann. Autoren wie Jeffrey Herf und Matthias Küntzel haben die ungebrochene Kontinuität von nationalsozialistischem und islamistischem Judenhass offengelegt. Diese Kontinuität wird sowohl von der Linken als auch der Rechten hierzulande verdrängt.
Seit dem antisemitischen Massaker der Hamas am 7.Oktober fühlen sich viele Juden in Deutschland nicht mehr sicher - in dem Land, das sich damit rühmt, seine Vergangenheit aufgearbeitet zu haben, und das die Maxime "Nie wieder" zu seinem obersten Imperativ erklärt hat. Angst machen den deutschen Juden dabei nicht nur die Ausbrüche von offenem Judenhass auf propalästinensischen Demonstrationen, sondern auch die fehlende Anteilnahme in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft.

Besonders in den Reihen der Linken findet sich eine chronische Verharmlosung des palästinensischen Terrors und seines mörderischen antisemitischen Hintergrunds. Doch auch aufseiten der politischen Rechten macht man sich den Umgang mit der neuen Welle islamistisch motivierter Judenfeindschaft häufig zu einfach.

So gefällt man sich im konservativen Spektrum angesichts aktueller antisemitischer Krawalldemonstrationen mit muslimischem Hintergrund neuerdings darin, von einem "importierten Antisemitismus" zu sprechen - womit suggeriert werden soll, in Deutschland sei der Antisemitismus bereits überwunden gewesen, bevor man zu viele Fremde aus der muslimischen Welt ins Land gelassen habe. Doch zum einen besteht das Gros derjenigen, die aktuell auf deutschen Straßen ihrem Judenhass Luft machen, aus deutschen Staatsbürgern respektive hier geborenen oder aufgewachsenen Angehörigen der zweiten oder dritten Einwanderergeneration. Und zum anderen steht auch der islamistische Antisemitismus, wie er uns heute mir erhöhter Aggressivität entgegentritt, in einem engen Bezug zur europäischen und insbesondere zur deutschen Geschichte.

Zwar gibt es zweifellos eine lange Tradition originär islamischer Judenfeindschaft. Doch zur Herausbildung eines eliminatorischen Antisemitismus islamistischer Prägung kam es erst, als der politische Islam in den 1920er und 1930er Jahre ideologische Anleihen bei dem europäischen Faschismus und insbesondere dem deutschen Nationalsozialismus nahm. Die Historiker Jeffrey Herf ("Nazi Propaganda for the Arab World", 2009) und Matthias Küntzel ("Nazis und der Nahe Osten", 2019) haben gezeigt, welch prägenden und nachhaltigen Einfluss die speziell an die arabische Welt gerichtete antisemitische NS-Kriegspropaganda auf den dortigen radikalen Islam ausgeübt hat.

Diese scheute zwischen 1937 und 1945 keinen Aufwand, um den Antisemitismus im Nahen Osten zu schüren. Dabei schnitten die nationalsozialistische Propagandaapparate ihren rassistischen Judenhass in spezifischer Weise auf die im Koran verankerten religiösen Motive des islamischen Antijudaismus zu und verbreiteten dieses Konglomerat massenhaft in der arabischen Welt. Namentlich die wahnhafte Vorstellung von einer jüdischen Weltverschwörung zog erst dadurch in das islamisch-religiöse Denken ein. Denn dieses betrachtete die Juden traditionell zwar als Feinde, doch nicht als akute Bedrohung - waren sie doch laut Überlieferung von Mohammed besiegt und unterworfen worden. Der verschwörungsideologische Antisemitismus konnte sich dagegen nur auf der Basis der christlichen Judenfeindschaft entwickeln. Denunzierte dieser doch die Juden als Christusmörder und wies ihnen so die Rolle von im Dunkeln konspirierenden Gottesfeinden zu.

Nazi-Deutschland hatte schon in den dreißiger Jahren das judenfeindliche Potenzial des Koran entdeckt und für die eigenen Propaganda in der arabischen Welt instrumentalisiert. Von einem in Zeesen, südlich von Berlin, stationierten Kurzwellensender aus wurde der islamische Antisemitismus gezielt unter Muslimen verbreitet. Die Radiosendungen wurden zwischen April 1939 bis April 1945 täglich auf Arabisch, aber auch auf Persisch und Türkisch ausgestrahlt. So wie die Nationalsozialisten den aus dem christlichen Antijudaismus hervorgegangenen europäischen Antisemitismus bis zum Exzess steigerten, so radikalisierten sie nun den im Nahen Osten virulenten muslimischen Antijudaismus im Sinne ihrer Wahnidee vom Judentum als dem Weltfeind Nummer eins.

Die Kombination von islamistischem Extremismus, exterminatorischem Antisemitismus und radikalem arabischem Nationalismus fand ihre Verkörperung in der Gestalt des Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini. Ab 1937 arbeitete er aktiv mit dem NS-Regime zusammen, das er schon seit 1933 unterstützt hatte. Von Oktober 1941 an bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebte er in Deutschland, wo er mit Hitler persönlich in Kontakt stand, und verbreitete von dort aus die NS-Propaganda im arabischen Raum. Er unterstützte den Holocaust, den er nach dem deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg auf Palästina ausweiten wollte. Zudem wurde er Mitglied der SS und mobilisierte Muslime für die Waffen-SS auf dem Balkan.

Nach dem Krieg wurde al-Husseini als Kriegsverbrecher  festgenommen, aber nicht angeklagt. 1946 fand er in Ägypten Asyl, von wo aus er seine Ziele weiterverfolgte. Husseini war ein Verwandter, Lehrer und Förderer von Jassir Arafat und wurde von dem späteren Führer der PLO bis an dessen Lebensende als Held verehrt.

Die vom Nationalsozialismus infizierte Ideologie des radikalen Islamismus konnte so über das Ende des "Dritten  Reichs" hinaus ungebrochen weiterwirken. Die direkte Kontinuität von NS-Ideologie und Islamismus zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sich die Hamas in ihre Gründungscharta auf die "Protokolle der Weisen von Zion", jener berüchtigten antisemitischen Fälschung berief, in der ein vermeintlicher Geheimplan des Judentums zur Ergreifung der Weltherrschaft beschrieben wird.

Wenn wir heute von dem Judenhass reden, der - wesentlich mittels arabischer, iranischer und türkischer Propagandanetzwerke - nach Deutschland hineingetragen wird, sollten wir also eher von einem "reimportierten" statt von einem "importierten" Antisemitismus sprechen. Auch in seiner islamistischen Variante ist der Antisemitismus ein düsteres Erbe der deutschen Vergangenheit, das nicht einfach als etwas "Fremdes" beiseite geschoben werden kann. Effektiv bekämpft werden kann er nur, wenn er als ein Problem der gesamten deutschen Gesellschaft begriffen wird.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Der Link zur Originalkolumne folgt.