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Im Wald von Missnana

28.09.2004. Die Welt ist gespannt: Am Samstag wird zum zweiten Mal der Lettre Ulysses Award für literarische Reportage verliehen. Einer der Finalisten, der portugiesische Journalist Paulo Moura hat ein Lager afrikanischer Flüchtlinge vor der Festung Europa besucht. Wir veröffentlichen seine aufsehenerregende Reportage online. Außerdem bringen wir einen Link des Tages über alle nominierten Autoren.
Vorbemerkung der Redaktion:

Deutschland ist nicht das Land der großen Reportagen. Die Seiten 3 der überregionalen deutschen Tageszeitungen pflegen allzu oft die Kunst der hübschen Metaphern. Der Spiegel hat seit Marie Louise Scherer keinem seiner überaus fähigen Reporter mehr den Platz eingeräumt, den angelsächsische Publikationen wie der New Yorker ihren Autoren ganz selbstverständlich jede Woche freischaufeln. Nur das Dossier der Zeit wagt es noch, seine Leser mit wirklich langen Texten zu behelligen. Und die taz mit Gabriele Goettle.

Aber vor allem die von Frank Berberich herausgegebene Lettre International: Sie schickte uns mit dem Engländer Redmond O'Hanlon zu den Yanomami, um schädelsprengende Drogen zu rauchen. Mit Isabel Hilton machten wir uns auf die Suche nach dem Panchen Lama. Mit Peter Zilahy verzehrten wir in China das Menü "Drei schrille Schreie". Mit William Langewiesche wurden wir Zeuge, wie ein "korpulenter, unbeholfener, schwer arbeitender Mann aus dem Hinterland Nord-Marylands" namens Robert Parker den französischen Weinbau revolutionierte.

Da ist es nur folgerichtig, dass die Lettre International, unterstützt von der Aventis Foundation, den einzigen internationalen Preis für literarische Reportage geschaffen hat, den Lettre Ulysses Award for the Art of Reportage. Am Samstag, den 2. Oktober 2004 wird er in Berlin zum zweiten Mal verliehen. Bei der Pressekonferenz drängte sich die internationale Presse. Die New York Review of Books schickt eine Abordnung zur Preisverleihung.

Die Beiträge der sieben Finalisten werden auszugsweise in der neuen Lettre International abgedruckt, die heute erscheint. Wir stellen die Autoren und ihre Themen in einem "Link des Tages" vor.

Einer der Finalisten ist Paulo Moura. Wir veröffentlichen hier seine Reportage online, nicht weil wir sie für die literarischste halten, sondern weil sie einen direkten Bezug zu Deutschland hat: In diesem Sommer schlug Innenminister Otto Schily vor, "Außenstellen" für Flüchtlinge in Afrika zu errichten um illegale Migration zu verhindern und gleichzeitig den Schleusern das Handwerk zu legen. Die vollständige Begründung für diesen Vorschlag finden Sie in einem Gastbeitrag, den Otto Schily am 23. Juli 2004 für die FAZ geschrieben hat.

Wenn Sie, verehrte Leser, Paulo Mouras Reportage lesen, werden Sie erfahren, dass es Auffanglager in Afrika bereits gibt. Oujda in Marokko ist eines davon.


Paulo Moura
Im Wald von Missnana
Ein Lager afrikanischer Flüchtlinge vor der Festung Europa
Zweite Folge einer zweiteiligen Reportage in Publica, dem Magazin der Tageszeitung Publico, Lissabon 2003

Juliete, die Schwester des Pastors, hat heute bereits fünfmal Eis auf ihre Perücke gelegt. Fünfmal den blauen Lidschatten aufgefrischt, sich einparfümiert, die tief dekolletierte Bluse aus- und wieder angezogen, desgleichen die engen, mit Flitter besetzten Jeans und die schrägen Plateausandalen. Sie tritt aus der Pension und steht mitten im Getümmel, Prostituierte und Drogendealer drängen sich auf dem Platz. Sie macht ein paar ungelenke Schritte auf ihren Sandalen, wirkt, als sei sie nicht ganz da. Es regnet. Sie ist 19 und weiß nicht, warum man sie in diese Stadt gebracht hat.

Livingstone und Benjamin waschen sich wortlos mitten im Wald von Missnana. "Ein versteckter Ort", hatten sie erklärt, bevor sie sich mit Wasserflaschen ins Dickicht schlugen, um sie an einer Quelle zu füllen. Sorgsam seifen sie ihre schwarzen muskulösen Körper ein, nackt und selbstbewusst, wie Leute, die sich ihrem Schicksal stellen, ziehen ihre ebenfalls gewaschenen Kleider wieder an und gehen zurück in ihre zanga, ein anderes Versteck.

"Von den 56, die hier waren, ist nicht einer mehr da, so ein Pech aber auch. Wären Sie nur früher gekommen. Sie haben sie schon mitgenommen", sagt der Mann im Leichenschauhaus. Gegen ein Trinkgeld hätten wir uns die Leichen ansehen, sie photographieren können. "Aber morgen kommen wieder welche rein. Jeden Tag eigentlich."

56 Personen, zu viele, in der Wirklichkeit wie im Traum. Ungewollt in Afrika wie in Europa, waren sie zum Abschaum geworden. Man hatte sie schnell in ein Massengrab geworfen, um Platz zu schaffen. 56 schwarze Leichen waren am Vormittag in das Leichenschauhaus von Tanger eingeliefert worden, und es war folgerichtig, stand außer Frage und spielte auch keine Rolle mehr, dass sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt, nur noch Sand und Salz, Wasser und Blut waren: Es kam ohnehin keiner, um sie zu identifizieren. Und so verscharrte man sie am späten Nachmittag.

Livingstone und Benjamin folgen in ihren löchrigen Schuhen und abgetragenen Hosen, tadellos gewaschen und blitzsauber, einem "geheimen Pfad" zwischen den Pinien. Benjamin ist klein und stämmig, Livingstone groß und schmal. Erst geht es einen steilen Fels hinauf, dann einen mit Kiefernnadeln bedeckten Hügel hinab und anschließend gebückt mitten hinein in ein Dornengestrüpp. "Unser Unterschlupf", sagt Livingstone, "hier leben wir." Ein dichtbewaldetes, unebenes, wie terrassiertes Gelände. "Wollt ihr meine zanga sehen?"

Benjamin führt uns zu dem Loch, in dem er und Livingstone einen Teil des Tages verbringen und schlafen - ein Loch als Lebensraum. zanga heißt, wie sie sagen, in marokkanischem Arabisch "Zelt". Eines der wenigen Worte ihres Gastlandes, das sie sich angeeignet haben. Vielleicht aus einer gewissen Dankbarkeit den wenigen Marokkanern gegenüber, die ihnen helfen und freundlich zu ihnen sind. Sie selbst bezeichnen sich als camarades in der Überzeugung, es sei Arabisch und bedeute "Ausländer".

Im Krankenhaus von Tanger liegt eine junge Frau im Sterben. Sie ist schwarz, allein und scheint Aids zu haben, aber keiner weiß es genau oder will es wissen. Keiner, bis auf eine Nonne aus dem Orden der Mutter Theresa, besucht sie. Sonst niemand. Kein Arzt und keine Krankenschwester, und das schon seit langem. Wozu auch? Es lohnt nicht. "Sie kümmern sich nicht um sie, weil sie schwarz ist", sagt die Nonne. "Ich sehe hin und wieder nach ihr und wasche sie."
Die junge Frau ist Nigerianerin. Zu Fuß, ohne Begleitung und vom Tod gezeichnet, war sie ins Krankenhaus gekommen. Aus Missnana. Wollte hier geheilt werden oder sterben. Jetzt dämmert sie vor sich hin, halb verhungert, nackt, mit Wunden übersät, im eigenen Kot und Urin.

Sie ist als einzige übriggeblieben von all den jungen Schwarzafrikanern, die hier lagen. Aber es werden neue kommen.

Die zanga bietet kaum genügend Platz für zwei ausgestreckte Körper. Die von Benjamin hat eine Decke als Bodenbelag und ein paar Zweige als Dach. In einer Ecke die noch warme Asche eines niedergebrannten Feuers. "Wir haben es die ganze Nacht an, wegen der Moskitos", erklärt Livingstone. "Aber es darf nur glimmen. Flammen oder Rauch verraten uns." Nur im Winter gibt es hier keine Moskitos. Doch dann kommt der Regen. Und es wird kalt. Wie ist das dann mit dem Schlafen? "So wie jetzt. Nur dass wir nass werden." Und wie werdet ihr wieder trocken? "Das kannst du vergessen. Da ist nichts zu machen." Und die Kälte? "Furchtbar, wir werden krank." Und wer hilft euch dann? "Keiner. Viele sterben."

Die zangas bieten kaum Schutz. Wenn es regnet, verwandeln sie sich in eisige Schlammlöcher. Aber für diese Menschen ist die zanga der einzige Ort, an dem sie sich aufhalten können. Dabei ist sie ein Un-Ort. Zu einer "Unterkunft" wird sie nur durch ihre "Bewohner". An einem Zipfel der Decke erscheint eine riesige Ratte, sichtbar uninteressiert an den anderen Arten, die ihren Wald bevölkern. Sie umrundet die zanga zweimal, ehe sie zwischen den Büschen verschwindet.

"Diese Leute verlassen Missnana nur, wenn sie am Ende sind. Dann kommen sie und bitten um Hilfe", erzählt die Ordensschwester. Die einen klopfen beim Kloster, in der Altstadt, an. Die anderen wenden sich an Krankenhäuser oder versuchen, zu einer internationalen Organisation oder einer Botschaft vorzudringen. Vor ein paar Tagen starb ein Mann direkt vor der italienischen Botschaft. Viele sterben unterwegs, kommen nie irgendwo an.

"Sie haben Lungenentzündung, Tuberkulose, Durchfälle, Hepatitis und Aids", erzählt die Nonne. Anfangs machten die Krankenhäuser mit jedem Schwarzafrikaner einen HIV-Test. Alle waren positiv. Ausnahmslos. Jetzt haben sie die Tests eingestellt.

Viele Frauen kommen in die Stadt, um abzutreiben. Sie hatten sich mit dem Ziel schwängern lassen, auf diese Weise einer Abschiebung in Europa wenige Monate vor ihrer Niederkunft zu entgehen. Bringen sie in Spanien ein Kind zur Welt, können sie es registrieren lassen und somit für sich selbst das Aufenthaltsrecht erwerben. Ein höchst riskantes Vorhaben, das meist scheitert. Die Schwangerschaften nähern sich oftmals ihrem Ende, und den Frauen fehlt noch immer das Geld für die illegale Überfahrt nach Spanien, die in der Regel in einem patera, einem windigen Holzboot, geschieht, oder einem zodiac.

"Manchmal treiben sie noch im siebten oder achten Monat in irgendeiner dieser Pensionen ab. Die meisten sterben dabei", erzählt die Nonne. Und unabhängig davon, ob die Mütter sterben oder überleben, werden die Kinder fast immer ausgesetzt.

Michael glüht vor Fieber. Er ist stark abgemagert und seine müden Augen haben etwas Durchdringendes, Jenseitiges. Er klagt über unerträgliche Schmerzen und Blut im Stuhl. Es kostet ihn sichtlich Kraft, sich ein wenig aufzurichten in seiner zanga. "Ich bin Volkswirtschaftler", sagt er. "Ich lebe seit zweieinhalb Jahren in Missnana. Meine Familie denkt, ich bin längst in Europa und verdiene Geld für sie. Ich kann mich nicht einmal mit meinen Leuten in Verbindung setzen, um ihnen meine Lage zu erklären."

Während seiner zwei Monate dauernden Reise vom nigerianischen Benin City nach Tanger musste Michael eine Reihe von "Schutzzöllen", "Steuern" und "Kommissionen" zahlen. Auf der Strecke durch die Wüste wurde er mehrmals überfallen. Als er in Missnana ankam, besaß er nicht einmal mehr Geld für einen Telefonanruf, geschweige denn für die Fahrt über die Straße von Gibraltar. Sie kostet 2 000 Dollar.

"Meine Familie hat sich jahrelang krummgelegt, nur damit ich studieren konnte. Als einziger von uns Geschwistern. Sie hat sozusagen in mich investiert. Ich bin ihre große Hoffnung."

Nach der Uni arbeitete Michael ein Jahr lang für eine staatliche Bank, ohne Lohn. Anschließend wurde er entlassen. "An eine feste Anstellung kommen in Nigeria nur Kinder aus den wenigen reichen Familien. Alle anderen haben nicht die geringste Chance."

Michaels Vater beschloss, seinen einzigen Besitz zu verkaufen - ein Haus, das der Familie seit Generationen gehört -, um Michael die Reise nach Europa zu finanzieren.

Und jetzt braucht Michael Geld für einen Anruf. Seine Leute müssen wissen, dass er hier ist, damit sie anfangen können, die Summe für die Überfahrt zusammenzulegen. Die 2 000 Dollar, die sie ihm über die Western Union schicken wollen. Das kann Monate dauern, Jahre oder kommt vielleicht nie an. Aber irgendwann muss man die Sache schließlich auf den Weg bringen. Auch wenn es Michael zusehends schlechter geht, wird er, wie alle hier in Missnana, nicht aufgeben. Oder doch? Von seiner zanga aus sehen wir, wenn wir durch die Äste schauen, die Schlupfwinkel der anderen camarades, eine Art hängende, unwirkliche Stadt. Eine Station auf dem Weg der Hoffnung und des Neuanfangs. Eine Station in der Hölle, nur für Reisende mit der Lunge eines Wals und dem Gemüt eines Sisyphus, denen es nichts ausmacht, dass sie hier sterben, um eines Tages zu neuem Leben zu erwachen.

Jonathan zum Beispiel, dessen Familie sich das Geld für seine Reise mühsam und auf nicht immer legale Weise beschaffte. 5 000 Dollar, mit denen er Afrika von Nigeria aus über Niger, Mali und Algerien im Lastwagen und zu Fuß durchqueren konnte, mit unfreiwilligen Zwischenstops und Überfällen … Jetzt wartet Jonathan auf weiteres Geld von seiner Familie. Ein marokkanischer Vertrauensmann wird es von der Filiale der Western Union in Tanger abholen; abzüglich einer Kommission, versteht sich.

Und Edith, die angeblich verheiratet ist und in Europa Informatik studieren möchte, tatsächlich aber in Nigeria einen Sklavenvertrag unterzeichnet hat, der sie zwingen wird, sich in Europa zu prostituieren, um an ihre "Chefs" 40 000 Dollar zahlen zu können.

Livingstone, der bereits einen Teil der Reisekosten nach Spanien an einen marokkanischen Menschenschmuggler gezahlt hat und nun seit Wochen auf den Anruf wartet, der ihm grünes Licht zur Überfahrt gibt.

Benjamin, der weder Familie in Afrika noch in Europa hat. Seine Eltern starben kurz nach seinem Weggang aus Nigeria, einfach so, mitten in seiner Auferstehung. Er konnte etwas Geld sparen, aber nicht genug. Für die Überfahrt fehlen ihm 500 Dollar. Er lebt seit einem Jahr hier im Wald und hat bisher nicht einen Dollar auftreiben können. Und es besteht auch keine Chance dazu. Benjamin sitzt fest in Missnana.


Ein schwarzer Mann wagt sich durch eine finstere Gasse in der Altstadt von Tanger, sein Blick ist gehetzt, sein Schritt schnell und unsicher, wie von jemandem, der durch ein Labyrinth irrt. Scheinbar, aber nur scheinbar unbemerkt, bewegt er sich durch das Gedränge der Fußgänger und Händler. Er fällt auf. Alle sehen ihn, und er weiß es. Und er weiß auch, dass es gefährlich ist, auf die Straße zu gehen, aber er kann sich nicht tagelang in seinem schmutzigen Pensionszimmer einschließen. Er braucht etwas zu essen, braucht Geld, muss einen Weg finden. Er ist gezeichnet, spürt, dass man ihn überwacht, ihm auf Tritt und Schritt folgt, spürt es wie einen Dolch im Rücken, hat Angst, und diese Angst treibt ihn vorwärts, blindlings, in den Rachen der Hydra.

Vor einem Jahr bevölkerten Tausende von Subsaharern die Straßen von Tanger. Sie kamen aus Nigeria, Liberia, der Elfenbeinküste und dem Senegal, alle mit dem einen Ziel: Europa, das gelobte Land. Das gastfreundliche Tanger war zu einer Art Traumfabrik geworden. Doch das ist vorbei. Marokko möchte ein modernes Land sein und ist willens, in jeder Hinsicht mit Europa zusammenzuarbeiten. Spanien sieht sich aufgrund seiner Lage als südliches Grenzland des alten Kontinents mit wachsenden Problemen konfrontiert, insbesondere, seit Tausende illegaler Emigranten aus der Subsahara Monat für Monat die Strände von Tarifa und Algeciras ansteuern. Auch wenn viele abgefangen und abgeschoben werden, gelingt es den meisten, an Land zu gehen und, abgerissen, ohne Dokumente oder auch nur irgend etwas, das sie verlieren könnten, unbemerkt in die reiche, aber fragile Legalität einzudringen. Ein unhaltbarer Zustand.

Der Schwarze bleibt stehen, sieht sich nach allen Seiten um, senkt den Kopf, geht weiter und wird von einem Marokkaner angehalten, einem Polizisten in Zivil, der ihn nach seinen Papieren fragt und im gleichen Augenblick gegen eine Wand drückt.

Verständlich die Politik der Europäischen Gemeinschaft, das Übel bei der Wurzel packen zu wollen. Man versucht illegale Einreisen zu verhindern. Was in der Praxis bedeutet, dass die Grenze ein wenig südwärts verschoben wird; Marokko erhält Geld, um das Problem an Ort und Stelle zu lösen. Und Marokko tut dies auf seine Weise.

Der Mann bricht seitwärts aus, versucht zu entkommen. Aber damit hat der Polizist bereits gerechnet. Er packt ihn brutal, und ehe sich der Mann versieht, steckt er in Handschellen.

Dann gehen sie durch die gleichgültige Menge davon. Was soll’s, ein Schwarzer mehr, den sie erwischt haben, alle wissen, was jetzt kommt. Der Polizist spricht mit dem Schwarzen, stößt ihn vorwärts, verpasst ihm sanfte Klapse auf den Hinterkopf: die übliche Erniedrigungsmethode. Wenn er Geld hat, den Polizisten zu bestechen, kommt er vielleicht ungeschoren davon, sagen die einen. Wenn er hier in Tanger ist, dann nur, weil er Geld hat, sagen die anderen. Sonst wäre er in Missnana untergetaucht.

Alle wissen, was ihn erwartet, wenn er kein Geld hat: Gefängnis, 25 Mann in einer verpesteten Zelle, ein Eimer für die Bedürfnisse aller, ein Teller Wassersuppe pro Tag. Anschließend … Oujda, in der Welt der camarades ein noch schrecklicheres Wort als Missnana. Oujda, an der marokkanisch-algerischen Grenze.

Man "deportiert" sie, in Lastwagen, zu Hunderten. Männer, Frauen, Kinder, die, bis auf ihre Kleider am Leib, nichts bei sich haben. In verschlossenen Transportern geht es per Express in den Tod, unaufhaltsam, wie damals, in den Waggons nach Auschwitz.

Sie werden nicht in ihre Ursprungsländer abgeschoben, sondern zurückgebracht, auf die andere Seite der Tür, durch die sie gekommen sind, in die Gegend von Oujda. Hinter der Grenze, im Niemandsland zwischen Marokko und Algerien (das sie ebenfalls nicht aufnimmt), dort, mitten in der Wüste, werden die camarades ausgeladen.

In einem unwirtlichen, menschenleeren Landstrich, glühendheiß bei Tag und eiskalt bei Nacht. Dort irren die camarades halb verhungert, wie Zombies, durch die Sandstürme, verrotten zu Tausenden. Dort kreuzen sich Tag für Tag die Flüchtlingsströme aus dem Süden mit denen der "Deportierten" aus dem Norden. Dort sterben sie, auch wenn keiner zum Sterben gekommen ist. Es gibt nur einen Weg: Tanger. Wer über die Grenze will, muss 250 Dollar an die Mafia zahlen. Mit dem Auto 500 mehr, die keiner hat. Die meisten gehen zu Fuß, folgen den Stromleitungsmasten. Es kann Wochen dauern, oder Monate. Von einem Kreis der Hölle zum nächsten.

Der Schlaf ist immer leicht in Missnana. Auf den ersten Blick sieht alles ganz normal aus. Edith kocht in einem großen Topf Mehlsuppe, die Tagesration für die ungefähr 30 camarades in diesem "Busch". Überall in diesem riesigen, verfilzten Pinienwald, der sich in der Gegend von Tanger über vier Berge erstreckt, ist in den mehr als hundert "Büschen", in denen über 3 000 Subsaharer ein illegales Dasein fristen, das Kochen Sache der Frauen.

"Schaut mal, was ich aufgetrieben habe!" Kingsley wirft eine zwei Handbreit große, noch lebende Schildkröte auf die Decke.

"Ohne mich!", erklärt Edith. Kingsley und Livingstone lachen. Das meint sie nicht ernst. Heute wird es etwas anderes geben als die übliche Mehlsuppe oder den üblichen Tomatenreis. "Hundefleisch hat erwiesenermaßen weniger Schadstoffe als Rindfleisch", erklärt uns Kingsley mit dem Brustton wissenschaftlicher Nüchternheit.

Livingstone und Benjamin greifen nach ihren großen Flaschen und gehen zur Quelle, um Wasser zu holen. Ein paar Leute begrüßen einen alten Marokkaner, der sich mit seinem Esel in den "Busch" gewagt hat, um einen Sack Mehl zu verkaufen. Andere machen sich mit einem Sack voller Handys auf den Weg in das Dorf Rah Rah, um sie dort in einem vertrauenswürdigen Geschäft aufzuladen.

Aber die geringste Unachtsamkeit kann zum Verhängnis werden. Vorsicht, camarades! Das Leben bezaubert und benebelt mit seiner tagtäglichen Routine. Ist vielleicht nur ein Trugbild. Eine Illusion.

Mindestens einmal pro Woche fällt die Polizei über den Wald her. Sie kommen im Morgengrauen, ganze Hundertschaften, Polizisten und Soldaten, und kämmen das Unterholz durch, von einem Ende zum anderen, gründlich wie Hühnerhunde. Sie haben Waffen bei sich und eine Horde willfähriger Marokkaner im Gefolge, vorgebliche Informanten und Spurensucher. Für sie eine Treibjagd. Für die camarades der Horror. Sie ergreifen die Flucht, in wilder Panik, wie Tiere, stürzen ins Gestrüpp, in die Brombeerhecken, die Dornen, zerreißen, zerfetzen ihr Fleisch, ihre dunkle Haut, die sich blutrot färbt. Zu oft umsonst. Bei jeder Razzia gehen der Polizei Hunderte camarades ins Netz. Erst kommt das Gefängnis, dann die "Deportation" nach Oujda. Das kennen hier fast alle. Es gehört zum Leben in Missnana. Nasko wurde fünfmal "deportiert". Er ist immer wieder zurückgekommen. Zweimal mit dem Wagen, dreimal zu Fuß, wie auch beim letzten Mal. Er hat ganze 21 Tage gebraucht. Hamilton wurde zweimal nach Oujda "deportiert", und einmal richtig: von Spanien nach Nigeria. Er hatte es bis nach Europa geschafft, wurde dann aber gefasst. Also fing er wieder bei Null an. Die einzige Möglichkeit. Die reinste Sisyphusarbeit. Tragisch und zugleich banal.

Aber die Polizei ist nicht die einzige Gefahr in Missnana, und auch nicht die schlimmste. Sie ist zwar mächtig, aber die camarades haben gelernt, sich zu wehren. In der Altstadt von Tanger arbeiten Spione für sie, ihnen nahestehende Leute. Sie haben herausgefunden, dass die Razzien immer montags, dienstags oder mittwochs im Morgengrauen stattfinden, und haben sich entsprechend organisiert. An diesen drei Tagen geht jeder seiner Wege und verlässt bei Einbruch der Dunkelheit seinen "Busch", um nach einem möglichst weit entfernten und unzugänglichen Versteck zu suchen. Bodenmulden von Wildschweinen, dichtes Gestrüpp oder ein Loch, das man sich ins Erdreich gräbt. Dort harren sie dann jeder für sich, schweigend und reglos, aus, bis zum nächsten Tag, 14 Uhr.

Seid auf der Hut, camarades! Die größte Gefahr sind jetzt die marokkanischen Horden. Sie greifen mit und ohne Polizei an. Sind mit Messern bewaffnet und kommen, um zu stehlen. Und um zu töten und Frauen zu vergewaltigen. Sie wissen, dass die camarades Geld haben, andernfalls könnten sie die horrende Summe für die illegale Fahrt über die Straße von Gibraltar nicht zahlen. Und sie haben Handys. Sie sind reich, verglichen mit der Mehrzahl der Marokkaner aus den umliegenden Dörfern. Und sie sind im Nachteil. Sie haben keine Papiere und können sich bei niemandem beschweren. Eine leichte Beute. Vor allem, wenn sie zu zweit oder zu dritt sind. Aber sind sie zu mehreren oder geht es um Überfälle im "Busch" selbst, braucht es kleine schlagkräftige Trupps. Die stellen sie an den Wochenenden auf - und verbinden das Angenehme mit dem Nützlichen. Eine Art Extremsport. Die Familien dürfen nichts davon wissen. Männersache.

Die camarades zeigen uns ihre Verletzungen, an den Beinen und am Rücken. Tiefe, noch frische Stichwunden, die von großen Küchenmessern herrühren. Früher kam so etwas hin und wieder vor, jetzt ist es an der Tagesordnung. Sie reden von nichts anderem in Missnana, es ist wie ein Kriegsschrei, der von "Busch" zu "Busch" hallt.

Als es dunkel wird, gehen wir durch den Wald, von Feuerstelle zu Feuerstelle, mit Isaias, dem Pastor der Pfingstler, dem obersten Gottesmann der ganzen Gemeinde. Die camarades kommen und beklagen sich bei ihm, lauthals, mit blutunterlaufenen Augen. Sie versuchen nicht einmal mehr die Waffen vor ihm zu verbergen, die sie erbeutet haben und jetzt im Gürtel tragen. Nicht einmal Isaias’ moralische Autorität vermag die Gewalt einzudämmen, die ein bitteres Gemisch aus Hunger, Krankheit und Verzweiflung zum Brodeln bringt.

Die camarades sind auf der Hut. Haben sich zu Gruppen zusammengeschlossen, tragen große Prügel bei sich, wählen mit Bedacht ihre "geheimen Wege". Sie sind mit Messern bewaffnet und mit Schwertern, und sie schlafen kaum noch. Der Tod in Missnana hat einen leichten Schlaf.


Juliete, die Schwester des Pastors, erinnert sich an die vielen Vormittage, die sie montags, dienstags und mittwochs in einem Erdloch im Wald von Tanger verbrachte. "Ich hatte immer die Bibel bei mir, hockte stundenlang da und las und war voller Angst." Sie erinnert sich daran, wie sie das erste Mal versuchte, über die Straße von Gibraltar zu kommen, und wie sie der marokkanischen Polizei mitten auf See ins Netz ging. Und als sie sich an Oujda erinnert und die Rückkehr nach Missnana, klingt erstaunlicherweise so etwas an wie Wehmut. Damals fühlte sie sich noch privilegiert, anders als andere Frauen oder alle Männer hatte sie einen "Vertrag". Sie musste an keiner der "Stationen" je lange warten (mit Ausnahme der acht Monate in Missnana), das zum Überwinden der einzelnen Teilstrekken notwendige Geld gelangte immer in ihre Hände. Während andere starben oder in Oujda oder an einer "Station" mitten in Mali vergessen wurden, wurde sie immer im letzten Augenblick von der "Organisation" gerettet. Sie fühlte sich beschützt.

Nun ist Juliete seit vier Monaten in Europa, und das Gefühl, mit Leib und Seele einer schützenden Institution anzugehören, ist geblieben, trotz des Schocks, den ihr die neue Wirklichkeit versetzt hat. Sie ist über einen seltsamen, wenn auch unmissverständlichen Pakt an diese Institution gebunden.

Juliete hatte zusammen mit ihrer Mutter und einer Tante das Büro eines Anwalts in Benin City aufgesucht. Sie war nervös gewesen und zugleich voll freudiger Erwartung, bald würden sich ihr die Tore einer neuen Welt auftun. Der Anwalt hatte den "Vertrag" bereits fertig vorliegen, einen mehrere Seiten umfassenden Vordruck mit dem Stempel der Organisation - der Task force. Das Durchlesen erübrigte sich. Schließlich kannten alle den Inhalt der fragwürdigen Vereinbarung: Die Task force verpflichtete sich, Juliete in ein europäisches Land zu bringen und ihr dort Arbeit zu beschaffen. Dafür verpflichtete wiederum Juliete sich, ihren Arbeitslohn, abzüglich dessen, was sie zum Überleben braucht, so lange in wöchentlichen Raten an die Organisation abzuführen, bis ihre Schuld von 40 000 Dollar getilgt ist. Bis dahin ist sie Eigentum der Task force, die über ihr Leben verfügt, mittels einer "Dame", der sie das Geld abliefert und die ihre gesamten Aktivitäten überwacht. Allerdings beschreibt der "Vertrag" diese Aktivitäten nicht näher. Juliete wurde lediglich gesagt, sie hätte Männer zu begleiten, und alle, bis auf sie, wussten, was das heißt.

Mit verlogen legalistischem Winkelzug wurde ferner festgesetzt, dass die Task force der jungen Frau und ihrer Familie in jeder Hinsicht Schutz gewährt, allerdings umgehend davon absieht, sofern die Vertragspartnerin den genannten Verpflichtungen nicht nachkommt. Im Klartext: Wenn die Sklavin nicht pünktlich zahlt, hat ihre Familie in Benin City unverzüglich mit drastischen Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen.

Rechtmäßig unterzeichnet und nicht selten zusätzlich durch ein Voodoo-Ritual besiegelt, wird der "Vertrag" zu einem Bündnis, das keine junge Frau den Mut hat zu lösen.


Grace zum Beispiel, die einen solchen Vertrag eingegangen war und in Missnana darauf wartete, an Bord eines zodiacs gehen zu können, wurde während einer der üblichen Polizeirazzien am Bein verletzt. Als man sie Wochen später endlich ins Krankenhaus bringen konnte, erfuhr sie, dass eine Amputation lebensnotwendig war. Sie geriet in Panik, nicht aus Angst um sich, sondern aus Angst, die "Chefs" könnten schlecht von ihr denken. Man setzte sich mit der Task force in Verbindung, die eine Amputation klar ablehnte. Ob Graçe starb, war unerheblich - eine Frau ohne Fuß ist wertlos.

Dank des Einsatzes eines NGO-Vertreters erklärte sich die "Organisation" schließlich bereit, den Vertrag außer Kraft zu setzen. Grace konnte gerettet werden, zeigte sich aber wenig dankbar. Deprimiert, dass sie ihren "Vertrag" nicht hat erfüllen können, lebt sie heute abgeschieden im Ordenshaus der Mutter Theresa in Tanger.

Die Task force, eine der beiden großen Mafia- Organisationen, die den Handel mit Prostituierten in Nigeria kontrollieren, hat überall in Europa Vertreter, an die sich die jungen Frauen, sobald sie in Algeciras sind, telefonisch wenden müssen. Sie verteilen sie über die verschiedenen Länder und machen sie mit den entsprechenden "Damen" bekannt, ihrerseits ehemalige Prostituierte, die inzwischen für die "Organisation" arbeiten. Sie treten als elegante Geschäftsfrauen auf und sind ständig auf Reisen.

"Meine ‘Mutter’ ist jetzt hier", sagt Juliete. So schwer es uns auch fällt, wir müssen zugeben, dass in ihrem Gesicht bei diesen Worten Stolz und trotzige Zuneigung zum Ausdruck kommen. "Meine ‘Mutter’ ist jetzt hier." Als müsste man sich nur seinem Schicksal, so unwürdig es auch sei, stellen, um Würde zu erlangen.

"Haltet euer Leben fest", rief Julietes Bruder, Pastor Isaias, im Sonntagsgottesdienst, bei dem sie nie fehlte, in Missnana. Isaias hob seine Hände wie Krallen, und Hunderte von singenden Menschen taten es ihm gleich.

"Die Bibel sagt, wer glaubt, ist unverwundbar. Wir können es mit jeder Herausforderung aufnehmen. Wir sind unbesiegbar. Haltet euer Leben fest!"

Ein ängstliches Flackern wird in Julietes Augen sichtbar, eine Eifersucht, wie sie nur die eines jungen Menschen sein kann, dem das Leben davonläuft. Halt es fest!


Isaias ist Einzelgänger. Gefangen in einer Vision. Eine junge Frau kommt zu seiner zanga und setzt sich. "Ich habe Kopfweh, Herr Pastor." Isaias kramt in seinen Taschen, gibt ihr eine Tablette. Andere kommen mit Durchfall oder Lungenentzündung. Oder schleppen sich den Berg hoch, um in seinen Armen zu sterben. Oder um geboren zu werden. Viele Frauen bringen ihre Kinder im Wald zur Welt. Ohne Hilfe, ohne Medikamente, ohne Hygiene. Nach Missnana kommen keine Ärzte, keine NGOs und keine Ordensschwestern. "Zu gefährlich." Also ruft Isaias eine camarade, die vielleicht Erfahrung als Krankenschwester hat. Und ein weiterer Illegaler wird geboren. Oder stirbt.

Isaias ist dreißig und, obgleich Pastor, der einzige camarade, der keine Bibel besitzt. Die Marokkaner haben sie ihm im Durcheinander einer ihrer Razzien, wie er sagt, weggenommen und verbrannt. Was nicht weiter schlimm ist, da er das Heilige Buch auswendig kennt.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich seine zanga kaum von den anderen. Auf dem Boden liegt eine Decke, und ein Geflecht aus Ästen bildet das Dach. Aber er lebt hier allein, und das ist der Unterschied. Und dass es noch eine Art "Neben-zanga" gibt, in der eine junge Frau für ihn kocht. "Ich kann nicht arbeiten oder mich mit materiellen Dingen beschäftigen, ich muss meiner Gemeinde jederzeit mit geistigem Beistand zu Verfügung stehen können."

Er war bereits in Nigeria Pastor, wo er schon sehr früh Mitglied der Pfingstgemeinde wurde. Er hatte jahrelang Leute betreut, die illegal auswandern wollten. Bis er sich selbst dazu entschied.

Er durchlief die verschiedenen "Stationen" dieser Reise in beiden Richtungen. Zwei Monate in Niger, drei an der Grenze zu Mali, wo ihn Beduinen überfielen, vier an der algerischen Grenze, im Gebiet von Oujda, zwei an einem Ort nahe Rabat.

"camarades findest du überall. Zu Tausenden, auf der ganzen Strecke durch Afrika. An manchen Orten sind die Lebensbedingungen unvorstellbar. Die Leute haben dringend einen Pastor gebraucht."

Isaias brachte ihnen die Bibel näher, predigte ihnen Moral und sittliches Handeln, erzählte ihnen von Europa und dem modernen Leben, klärte sie über Recht und Gesetz auf, unterrichtete sie in Überlebensstrategien und hielt an allen Stationen des Santiagoweges durch Afrika Gottesdienste ab. Er trägt sich mit der Absicht, seine Missionsarbeit in Europa unter den Einwanderern fortzusetzen. Zwischen Benin City und Missnana, wo er vor acht Monaten ankam wie alle anderen auch, gibt es keinen camarade, der ihn nicht kennt. Er ist nicht nur ihr Priester, sondern auch ihr Medizinmann.


Mohammed steigt aus seinem Wagen und geht zu Fuß auf der Privatstraße des Königspalastes weiter. "Guten Tag!" Die bewaffneten Wächter begrüßen den fünfzigjährigen, zahnlosen Marokkaner mit dem dicken Bauch, der uns an der Steilküste entlang zum Strand führt, wie einen alten Bekannten. Wir passieren zwei weitere Wächter und gelangen an ein kleines Stück Strand. Wenige Meter vor uns ragt ein spitzer Fels aus dem Wasser.

"Von hier", sagt Mohammed, "fährt der Zodiac ab." Bei dem Fels stehen zwei junge Frauen in Nachthemden bis zu den Knien im Meer. Ein dünner, ernster Mann gießt ihnen aus Eimern Wasser über den Kopf. 99 Eimer mit Wasser vom Schönen Fels, und ein Ehemann ist garantiert, der Legende nach.

Mohammeds Zodiac ist ein neun Meter langes, mit Holz verstärktes Schlauchboot mit einem achtzig PS starken Motor. Es nimmt 35 Personen auf. "Wir kommen hier nachts mit den Illegalen her. In zehn Minuten haben wir sie alle an Bord."

Mohammed grüßt den Mann mit dem Eimer. Es ist sein Vetter. Von jedem Mädchen verlangt er je fünfzig Dirham, und es fehlt ihm nicht an Kunden. Das Geschäft mit Utopien ist ein Familienunternehmen.

Livingstone hat bereits die Hälfte für die Überfahrt mit dem zodiac bezahlt, aber der entscheidende Telefonanruf des camarade, der als Verbindungsmann zur marokkanischen Mafia fungiert, lässt auf sich warten. "Ich frage mich allmählich, ob mein Geld überhaupt an den Richtigen gekommen ist", sagt er.

In Missnana gibt es ein weitverzweigtes, undurchsichtiges Netzwerk von Gewährsleuten, das einer gewissen Grausamkeit nicht entbehrt. Die einen stellen den Kontakt zur marokkanischen Gibraltar-Mafia her, die anderen stehen mit der nigerianischen Mafia in Afrika und Europa in Verbindung, wieder andere nehmen das fällige Geld in Empfang oder kümmern sich um die Überweisungen, die für die camarades bei der Western Union eintreffen, sichern die Verpflegung, sind Polizeiinformanten oder sorgen für Ordnung im Wald. Und es gibt eine Hierarchie. Leute, die Macht haben, und solche, die keine haben. "Wir gehen nicht gerade zimperlich miteinander um", sagt Benjamin, der nur selten spricht.

Mohammed lässt seine Zodiacs von unterschiedlichen Stellen ablegen. Immer in der Nähe eines königlichen Palastes oder eines anderen gut bewachten Platzes. "Mir ist das lieber, ich besteche die Wächter, und wir sind geschützt. Es ist sicherer so. Manchmal helfen die Polizisten selbst den Illegalen ins Boot."

Sein bevorzugter Platz aber ist ein Strand in der Nähe des Hauses seiner Schwester. Ein Minibus holt die camarades bei Einbruch der Dunkelheit in Missnana ab. Er hält vor einer offiziellen Residenz des Königs. Die camarades nehmen eine Abkürzung zum Garten der Schwester, der auf einer Klippe liegt. Sie warten, bis der Befehl zum Abstieg kommt. Wenn sie den Strand erreichen, ist der zodiac abfahrbereit. Sie zahlen die noch fehlende Hälfte ihres "Fahrscheins" und steigen einer nach dem anderen ein. Männer, Frauen, Kinder. "Marokkaner nehme ich für tausend Dollar mit, Schwarze für zweitausend, weil sie ein größeres Risiko sind. Als erstes müssen die Marokkaner ihnen die Hände zusammenbinden, damit sie nicht auf die Idee kommen, dem Bootsführer eins überzubraten und mit dem Geld und dem Boot abzuhauen. Und dann nichts wie los. Wenn alles gutgeht, sind sie in drei Stunden in Spanien. Sieben Meter vom Strand entfernt müssen alle Mann über Bord. Auf eigene Gefahr." Es geht nicht immer gut aus. Oft kommen sie erst am nächsten Tag an, manchmal auch nie. Viele der Leichen im Leichenschauhaus von Tanger werden mit zusammengebundenen Händen eingeliefert.

Livingstone und Benjamin wünschen sich nichts sehnlicher, als mit einem Zodiac auf und davonfahren zu können, die Willkürherrschaft der Bosse von Missnana ist für kaum mehr zu ertragen. "Sie schlagen uns, wenn wir uns verlaufen oder beim Wasserholen verspäten …" Die "Bosse" sind diejenigen, die am längsten in Missnana sind oder die besten Beziehungen zur nigerianischen oder marokkanischen Mafia haben. Sie verlangen Geld für Essen, Kleidung, Schutz, Telefonate und den Zugang zu den Taxis, die sie kontrollieren. Jedem "Busch" steht ein Boss vor, der sich mit "Vater" anreden lässt. Sie haben ihre eigene Rangordnung, und hin und wieder gibt es Streit. Das Motiv sind Geld oder Frauen, die anderen wegnehmen zu können einige glauben, die sich als deren Männer oder als Mitunterzeichner eines "Vertrages" betrachten. In Missnana werden Schlachten ausgetragen, die weit blutiger sind als die Polizeirazzien.

Mohammed hatte nie eine richtige Arbeit. Er hat es zwar als Klempner versucht, aber das war nicht seine Sache. Bis er dann vor vier Jahren mit seinem Bruder die erste patera baute, ein primitives Holzboot. Es war die Hochzeit der heimlichen Emigration, da Spanien damals keine Visa mehr ausstellte. Mohammed organisierte rund 15 Überfahrten pro Jahr. Jetzt sind es noch fünf. "Wir benutzen keine Holzboote mehr. Inzwischen haben sich alle 'Unternehmer' Schlauchboote zugelegt." Rund zwanzig in der Umgebung von Tanger, und alle unabhängig. Keine organisierte Mafia. Niemand hat mehr als zwei Zodiacs.

Mohammed rechnet uns offen vor: Jede Überfahrt mit den Illegalen bringt ihm durchschnittlich 50 000 Euro ein. Davon gehen 7 000 an den Bootsführer und noch einmal soviel an den Polizisten, der für die Sicherheit sorgt. Der Fahrer des Minibusses sowie weitere Aufpasser und Kontaktleute bekommen insgesamt tausend Euro. Zieht man die 2 000 Euro Amortisationskosten ab - der Zodiac ist 12 000 wert -, bleibt ein Reingewinn von 33 000 Euro pro Trip oder, genauer: 165 000 Euro pro Jahr. Nicht eingerechnet das Geld, das die Drogen abwerfen, die immer mit an Bord sind.

"Aber es fallen ständig irgendwelche Extrakosten an, schließlich ist das Ganze ein Risikounternehmen. Vergangenes Jahr ist ein Zodiac untergegangen. Dabei sind einige ertrunken, auch der Bootsführer. Die Polizei hat ihn zusammen mit seinen Papieren gefunden und ist zu mir gekommen. Um fünf Uhr morgens standen sie vor der Tür und haben mich verhaftet. Der Anwalt hat mich 500 Euro gekostet und der Richter 2 000. Ich wurde zwar verurteilt, bin aber freigekommen. So ist das in diesem Land mit der Demokratie. Sie ist käuflich. Ganze 2 500 Euro und dann noch die 12 000 von dem Boot …"

Mit dem Gehabe eines Patriarchen sitzt Mohammed in dem Haus, von dem aus er die Illegalen in das Schlauchboot bringt; er stellt uns seine Schwester und seine 13 Kinder vor. Alle verheiratet, mit Ausnahme dreier lächelnder Mädchen. "Sie haben sich europäische Männer in den Kopf gesetzt", sagt die Mutter. Die Familie lebt in bescheidenen Verhältnissen, Mohammed bringt das ganze Geld durch. Seine Frau, eine fettleibige Dreiundvierzigjährige, die verschämt lächelt, zuckt die Achseln, als wir sie fragen, ob sie Angst hat. "Ich hab’ vor nichts mehr Angst", sagt sie und senkt ihre Stimme. Sie ist Fatalistin geworden.


Tief im Wald von Missnana haben sich Benjamin und Livingstone gewaschen und ihre besten Kleider angezogen. Es ist Sonntag. Sie sind bereit für den Gottesdienst.

Eine Lichtung, die ansteigt wie ein natürliches Amphitheater. Die Pastoren treffen als erste ein. Nicht Isaias, aber Emmanuel, Jonathan und vier weitere Prediger, sie alle erteilen vor dem eigentlichen Gottesdienst in kleinen Gruppen Bibelunterricht.

Anfangs sind es nur einige Dutzend camarades, die sich für die theoretischen Gespräche interessieren. Am späten Morgen aber geschieht Erstaunliches. Sie strömen aus allen Richtungen herbei, Männer und junge Frauen, einige mit Säuglingen auf dem Arm, alle sauber herausgeputzt und in ihren besten Kleidern, um an dem großen Wochenereignis teilzunehmen. Die Pastoren beginnen mit dem Gottesdienst, und die camarades suchen sich einen Stehplatz im Amphitheater. Es werden immer mehr, sie kommen in ganzen Pulks, schwatzend, frisch und in festlicher Stimmung, die camarades, Menschen, die seit Jahren im Wald leben, unter freiem Himmel schlafen, sich verstecken müssen, verfolgt werden, krank sind und verzweifelt. Jetzt sind es über 300, und sie wiederholen im Chor die Worte des Pastors: "Lasst uns vergeben. Wenn wir unserem Nächsten vergeben, wird auch der Herr uns vergeben. Please Master Jesus!" Rhythmisches Klatschen begleitet die Worte. "Please Master Jesus! Hallelujah! Hallelujah!" Und es werden immer mehr, es sind jetzt Hunderte. Plötzlich erhebt der Pastor die Stimme: "Wenn ich sage 'Singt!', dann singt und tanzt ihr alle. Ich möchte, dass ihr eure Körper gebraucht, um mit dem Herrn zu sprechen. Singt!" Und wie ein Orkan bricht es los. Sie schmettern, mehrstimmig, wie ein perfekter Chor, improvisieren, entwickeln eigene Rhythmen. Eine junge Frau springt nach vorn und ruft immer wieder: "Praise the Lord!" Der Satz wird von allen aufgenommen und unter rhythmischem Klatschen wiederholt. Lauter und lauter, in unterschiedlichen Stimmen, in Solos, in Duetten und komplizierten, spontanen Arrangements. Dann tritt Isaias auf. Jetzt geht es erst richtig los. Er brüllt: "Alle hoch mit den Armen!" "Augen zu und Arme hoch!" Eine Frau stimmt eine Melodie an. Isaias brüllt: "Jesus is love!" Die camarades wiegen sich hin und her und wiederholen: "Jesus is love!" Ein frenetischer, wahnhafter Wechselgesang beginnt. Wird schneller. "Jesus Christ is love! He is love!" Da setzt Isaias unvermittelt zu einer Moralpredigt an, ergeht sich über die kommenden Zeiten, die Gefahren und Herausforderungen, die auf die camarades im Wald, während der "Deportation", auf der Überfahrt und in Spanien warten. Eine immer glühendere Rede, ermunternd, aufwiegelnd, einem Ritual folgend, stürmisch, von Zurufen unterbrochen, Klatschen und Musik. "Sagt mir, was euch zerstört? Sagt mir, wer euch verfolgt, wer euch Böses will, euch das Brot nimmt und die Freiheit? Nichts und niemand! Nur ihr selbst zählt! Ihr und Gott! Ihr und Europa! You and the espanol!" Isaias rennt auf und ab, zetert, schneidet Grimassen, erzählt Geschichten, verkörpert andere Menschen; er ist ein Schauspieler, ein überspannter Pantomime. Sein Handy klingelt, der Sirenenton eines Krankenwagens, er wirft es auf den Boden, tritt nach ihm. "Sie schimpfen uns Neger. Gangster. Aber die Bibel sagt, dass nichts uns aufhalten kann. Wir sind unbesiegbar." Er ruft nach irgendeinem camarade aus der Menge und bittet ihn, ein Lied zu singen. Der Mann, groß und mager, in zerlumpter Kleidung und mit zwei verschiedenen Schuhen an den Füßen, stimmt einen eintönigen Singsang voll falscher Töne an. "Da seht ihr selbst!" sagt der Pastor. "Wir haben fantastische Leute! Mit unserem Talent, unserem Lächeln besiegen wir den Spanier!" Isaias gerät völlig aus dem Häuschen, fällt in Trance, und mit ihm alle camarades. "Haltet eure Hände vors Gesicht und seht sie fest an. Bittet den Herrn, sie zu segnen. Sprecht, sprecht mit dem Herrn! Nehmt euer Leben in die Hand, haltet es fest!"

Und schon beginnen die camarades, laut zu Gott zu sprechen. Jeder für sich und ganz persönlich, und jeder sieht dabei auf seine Hände. Einige schlagen sich gegen den Kopf, andere weinen, wieder andere schimpfen mit Gott, schreien aus voller Lunge. Die allgemeine Erregung steigert sich, erreicht ihren Höhepunkt. Erfasst den Wald wie ein Beben. Einige haben tiefe Schatten unter den Augen, andere sind mit Ausschlag übersät oder husten sich die Seele aus dem Leib. Alle sind krank oder vom Tod gezeichnet. Aber es ist, als ob sie gerade daraus Lebenskraft schöpften. Als sei jeder von ihnen nur eine Stimme, die sich laut bei Gott beschwert. "Nimm mir die Angst! Mach, dass ich nicht enttäuscht werde!" flüstert flehentlich und mit geschlossenen Augen eine junge Frau. "Lass mich an mein Ziel kommen."

Im Regen, mitten auf dem Intendenteplatz von Lissabon, wirkt Juliete wie ein verlorenes Kind. 8 000 Dollar hat sie bereits gezahlt. Jetzt fehlen nur noch 32 000. Sie glaubt, dass sie ihre Schulden bei durchschnittlich fünf Kunden pro Tag in sechs Monaten abgetragen haben wird. Dann ist sie frei.

Aus dem Portugiesischen von Ines Koebel