Intervention

Mitten in der Beethovenmusik

Von Lacy Kornitzer
25.03.2022. Bleibende Katastrophen, werdende Katastrophen. Davon muss gesprochen werden, davon werde ich sprechen und ganz unliterarisch aus dem vorgesehenen Rahmen der Veranstaltung fallen, werde nicht von der Sache sprechen, derentwegen ich in die mir bislang unbekannte Stadt eigentlich eingeladen wurde. Das zumindest nahm ich mir vor beim Einbiegen in die letzte große Linkskurve zum Ort der Veranstaltung -  Gedanken eines Autors bei der Reise zu einer Lesung über eine Katastrophe, die angesichts der aktuellen Katastrophe verblasst.
Der Ort der Veranstaltung liegt 200 Kilometer entfernt von dem Ort, wo ich lebe. Müde schon vom Gedanken daran packe ich ein paar Sachen zusammen, man kennt es ja, das und das wird man brauchen, und sicherheitshalber auch das, was man mit Sicherheit nicht brauchen wird. Widerwillig, mit mittleren Anfällen von Selbstunterschätzung, sicher ausgelöst durch die Vorstellung meines Buches in der Buchmesse, während der Krieg tobt, stieg ich ins Auto und nicht in den Zug wegen der Pandemie. Die Vorstellung, zwischen maskierten Leuten und selber maskiert in einem Abteil zu sitzen, das reduzierte Atmen und damit das reduzierte Leben war mir unerträglich, besonders in der herausfordernden Situation, in der ich mich zu befinden glaubte. Latente Innenbewegungen, eine unmissverständliche vorkritische Phase schon seit dem Vorabend, ja die ganze Nacht auch im Schlaf und jetzt wieder beim Anlegen des Gurtes und dem Schalten in den ersten Gang. Ich werde mich einlassen müssen, warnte ich mich, ab sofort das mir Unbekannte genauso akzeptieren wie das mir Bekannte. 200 km klingen nach wenig, sind aber viel, nicht auf sonstigen Reisen normalerweise, aber heute und bei dem Anlass, zu dem ich aufgebrochen bin. Gerade aufbreche. Und 200 km sind letztlich auch nur 20mal 10 Kilometer. Zwei davon habe ich bereits hinter mir. Bei Zugfahrten zähle ich die vorüberhuschenden Bäume und gucke ständig auf die Uhr, bin ungeduldig, die Zeit scheint nicht zu vergehen, ich sitze schlecht, sitze nie richtig auf dem Sitz im Zug, die Fahrt dauert ewig, scheint es, bis sie plötzlich und unerwartet doch zu Ende ist, man kommt an, doch bis dahin fühlt es sich für mich nur im Speisewagen normal an, erst im Speisewagen erfahre ich das Gefühl des Reisens, die Wichtigkeit der Blicke nach draußen durchs schalldichte Fenster.

Kaum Verkehr Richtung Süden jetzt, wo sind die Leute, wo sind die Autos, wo ist der Nahkampf, wie ich ihn bei den letzten Malen auf Autobahnen erlebt habe? Die eigentümliche Ruhe, das Ausbleiben eng vorbeirasender Wahnsinniger verwundert mich. 2000 km weiter weg ist Krieg, ein Zerstörungskrieg, bei dem es nicht um Vorteile in den Kampfhandlungen geht, sondern um die reine Zerstörung, um das Elimieren von Menschenleben, Gebäuden, Wohnhäusern, Schulen, Krankenhäusern, Entbindungskliniken, von allem, was das Leben in einem friedlichen Land bis vor kurzem noch ausgemacht hat. Kinder sterben in den Armen ihrer Mütter, Mütter sterben in den Armen ihrer Männer, Männer sterben bei ihren Rettungsversuchen von Kindern, Frauen, Wohnhäusern. Permanent lauert ihnen der Tod auf, der Tod hat freie Wahl, schlägt zu. Die Welt rührt sich, reagiert, überlegt, sie überlegt Tag und Nacht, was zu tun sei in dieser gänzlich neuen Situation, nicht ganz gänzlich übrigens, sie sendet Hilfsgüter ins Todesgebiet, Lebensmittel, Kleidung, Wasser, Spielzeuge für Kinder, die in Schutzräumen auf das Ende warten. Und es gibt bestimmt Teile in der Welt, wo man nichts von diesem Krieg weiß, nur weiß, dass irgendwas los ist, wo sonst nichts los ist, irgendeine Operation, rein strategisch. Eine kleine, halb unsinnige Freude steigt in mir auf, nicht dort zu sein, wo man nichts weiß.

175 km noch, und dann lerne ich wenigstens eine mir unbekannte Stadt kennen, ein beinahe tröstlicher Gedanke, die Aussicht auf das Fremde motiviert mich irgendwie. Die Sonne scheint, ich sitze bequem, das Auto stottert nicht, fährt geschmeidig, das Steuer liegt gut unter der Hand, ich höre das Drama in Beethovens Fünfter, beruhigend. Beruhigend - gerade bei den dramatischsten Stellen überkommt mich eine eigentümliche Ruhe, in die sich Euphorie mischt, plötzlich fühle ich mich ausgeglichen, aufgewühlt ausgeglichen während des aufwühlenden dritten Satzes, dem sich das Orchester in diesem Moment total hingibt, sich der Komplexität stellt, eins wird mit der Unlösbarkeit des Phänomens dramatischer Töne aus Trompeten, Oboen, Geigen und hundert anderen hochkompliziert gebauten Instrumenten, allesamt verschmelzen sie mit den Noten, den Nöten, dem Drama. Um dann für einen Augenblick leise zu werden, zu verstummen, als sei ihnen eine kurze Feuerpause gegönnt worden, bis sie aus der qualvollen Harmonie erneut ruhig hervorpreschen, wieder hinaufsteigen in einen beinahe wahnsinnigen Paroxysmus, um allmählich die Tempi zu strecken, fast ganz loszulassen wie in einem Moment aufleuchtender Erkenntnis, über die nichts hinausgeht und die unlängst noch als ein kathartisches Moment begriffen wurde.

Und mitten in der Beethovenmusik wird mir klar, dass der Begriff Katharsis ungefähr da fiel, als der Begriff political correctness seine ersten Auftritte hatte, nicht viel später, als ein sogenannter bedeutender Philosoph den bedeutungslosen Satz vom Ende der Geschichte ausstieß; wie sollte die Geschichte auch zu Ende sein, wo doch Menschen noch leben. Er hätte auch das Ende der Menschheit verkünden können, dann hätte man ihn wenigstens ausgelacht, denn solange es Menschenleben gibt, wenn auch nur ein einziger Mensch auf Erden herumirrt, gibt es Geschichte. So also geschah es, dass mit der political correctness die totale politische Unkorrektheit die Initiative ergriff und jetzt einen neuen Höhepunkt erlebt nach Jahren der Katastrophen auf dem Balkan, in Syrien, Grosny und anderswo.

Bleibende Katastrophen, werdende Katastrophen. Davon muss gesprochen werden, davon werde ich sprechen und ganz unliterarisch aus dem vorgesehenen Rahmen der Veranstaltung fallen, werde nicht von der Sache sprechen, derentwegen ich in die mir bislang unbekannte Stadt eigentlich eingeladen wurde. Das zumindest nahm ich mir vor beim Einbiegen in die letzte große Linkskurve zum Ort der Veranstaltung. Noch zwei Kilometer, meine Damen und Herren, für Prioritäten gibt es kein einheitliches System. Man setzt sie, und man lässt sie fallen. Gestatten Sie mir, mein angekündigtes Thema gleich zu verlassen, mit Bach und Beethoven auf der Autobahn hierher zu Ihnen wurde mein Thema zum Nebenthema, so begriff ich es wenigstens, denn die Sache ist die, dass eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm vor den Bomben flieht, und das kann auch in Ihrer Stadt niemandem gleichgültig sein. Das Bild der fliehenden Frau beschäftigt mich, lässt mich verzweifeln, der Grund ihrer Flucht empört mich und verdrängt mein Thema ganz weit nach hinten in den Hintergrund. Die Thomaskirche hier in Ihrer prächtig restaurierten Innenstadt war mir unmittelbar nach meiner Ankunft auch schon eine Warnung. Ein ruhiger Bau, vom Mittelschiff trat ich vor zum Altarraum, in dem links und rechts Großporträts bedeutender Geistlicher hängen, schön gemalt, nicht zu viel Firnis. Der besonders milde Blick herunter zu uns Besuchern gehörte Johannes Martin Henker im Talar. Hochwürden Henker scheint den Betrachter freundlich zu sich zu winken, Vertrauensverhältnis herstellen zu wollen. Irgendwo hier über ihm muss ein nüchterner Gott wohnen, dachte ich, ein nüchterner, verlässlicher Gott, der in Theisten und Atheisten gleichermaßen ein Gefühl von Verlässlichkeit auslöst. Architektonisch fein abgestimmt, ein paar Meter weiter rechts von der Thomaskirche reckt sich das reich und prunkvoll restaurierte Gebäude der Commerzbank in den Himmel wie eine sakrale Reminiszenz, jungfräulich unberührt, unnahbar in ihrem autoritären Überfluss.

Meine Damen und Herren, wäre die Harmonie - oder die Disharmonie - nicht bloß Schein und würde sich die scheinbare Übermacht des Scheins als reine Strapaze und also als Leerlauf erkennen lassen, würde sich die Einsicht aufdrängen, dass man keine andere Wahl hat, als der gegebenen Existenzweise ein Ende zu setzen. Das heißt, die Politik zurückweisen, die das dergestalt deformierte Leben verantwortet. Man würde begreifen, dass man Teil des Leerlaufs ist und nicht nur dessen müde Kritiker, dessen mitverantwortliches funktionales Elementarteil. Das wäre ein die Katharsis hervorrufendes Momentum im Erkennen der Tragik. Denn Katharsis ist nichts anderes als der Moment, ein tragischer Moment, der die menschliche Erkenntnis erschüttert. Verweilt man jedoch bei seiner funktionalen Existenz, das heißt, der Mensch fügt sich und erleidet nicht seine Wirklichkeit, sind zwar noch Katastrophen möglich, sogar wahrscheinlich, aber nicht ihre Erfahrung als Tragödie. Ein einfaches Beispiel: wenn die Personen, die noch vor nicht allzu langer Zeit andere Personen in die Waggons geprügelt haben, die die Hineingeprügelten in die Todeslager transportierten, was die Prügelnden wussten und am nächsten Tag zur Tagesordnung übergingen, klammern sie die Tragödie aus, sie verdrängen und vergessen sie. Im Ergebnis war nichts gewesen. Und da gibt es Leute, die heute in dieser Gegend agieren und es als Vogelschiss der Geschichte bezeichnen, und Leute, die das nicht einmal als das bezeichnen. Das wird zum unausgesprochenen Leitsatz, zur Richtlinie des apolitischen Menschen. Keine Katharsis, das Leben will seiner Selbst nicht bewusst werden.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass man sich die großen Fragen des eigenen Seins, der gesellschaftlichen Probleme nicht stellt, sondern damit beschäftigt ist, die eigene Existenzform zu rechtfertigen. Diese - zugegeben - halbwegs romantischen Gedanken, seien sie noch so ungenügend, widme ich heute Abend Putin, dessen Tagesordnung darin besteht, von einem Bombardement zum nächsten Bombardement überzugehen. Die junge Frau auf der Flucht mit ihrem Baby in den Armen durchlebt die Tragödie, weiß um die Leichen und die Zerstörung, erfährt wahrscheinlich den kathartischen Moment. Und wir tun es vielleicht auch, wenn dieses Bild unseren Blick einfängt. Morden für Putin zählt nicht, der Name der Tat, des Mordens ist suspendiert. Vergessen ist auch, dass er europaweit rechtsextreme Parteien, Nazis und Diktaturen finanziert, im Nahen Osten Orte, ganze Landschaften auslöscht, in Afrika Bürgerkriege entfacht, in seiner Nachbarschaft mordet, jetzt in diesem Moment. Ein Mann von latenter Feigheit, die er mit Terror kompensiert und seit Jahrzehnten wichtiger und geachteter Verhandlungspartner des Westens ist. Putin ist im Mittelpunkt, er wird von allen gesehen, nur er sieht keinen. Er nicht, seine Mitläufer nicht, seine Politikerfreunde nicht. In diesem - ideellen - Freundeskreis befinden sich etliche andere, nicht nur im Osten Europas.

Vorhin in einem Antiquariat erwarb ich ein kleines Handbuch für zwei Euro, meine Damen und Herren, Flauberts Wörterbuch der Gemeinplätze, blätterte darin herum, rein kursorisch, übersah absichtlich den Esprit und die Ironie, ich wollte nur die Gemeinplätze sehen, platte Platitüden, glatte allererste Einfälle. Worte als Waffe. Dieser Flaubert ist kein Flaubert. Nicht Salambo, nicht L'Education Sentimentale, nicht Madame und Monsieur Bovary. Ein anderer Flaubert, mehr Flaubert als sonst, der den Leser darüber aufzuklären scheint, dass dem, der Plattheiten von sich gibt und tödliche Plattheit lebt, nur platt entgegnet werden kann, auf gleicher Höhe also, nicht im Sinne von Auge um Auge, sondern scharf und unmissverständlich ihm klarstellen, was dem lebensvernichtenden platten Mann nahe gebracht werden muss, hautnah. Wir haben wenig Kenntnis davon, wie auf das Unerträgliche erträglich reagiert werden soll. Wann der Moment reif ist, auf Intellektualität zu verzichten zugunsten der Rettung von Intellektualität. Zugunsten der Rettung von Leben.

Lacy Kornitzer

Kornitzer hat gerade bei Suhrkamp das Buch "Über Destruktivität - Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns vorgelegt".