Intervention

Das Unrecht als Gegebenheit

Von Richard Herzinger
23.05.2023. Die Bücher von Dirk Oschmann und Katja Hoyer verharmlosen die DDR-Vergangenheit. Die von Hoyer als Erkenntnis verkaufte Binsenwahrheit, dass man sich auch in Diktaturen bequem einrichten kann, trägt dazu bei, den Unterschied zwischen  Rechtsstaat und Diktatur zu verwischen. Das Angebot der Staatsmacht an ihre Untertanen, eine relativ komfortable Existenz führen zu können, sofern man nicht aufmuckt, stellt gerade ein konstitutives Element diktatorischer Herrschaftstechnik dar.
Die rechtsextreme AfD droht sich als stärkste Partei in den östlichen deutschen Bundesländern zu etablieren. In Thüringen liegt sie laut jüngsten Umfrageergebnissen mit 28 Prozent an der Spitze. Mit deutlichen Abstand folgt die SED-Nachfolgepartei Die Linke, die auf 22 Prozent kommt. Erst dahinter rangieren die etablierten demokratischen Parteien.

Die Hälfte der thüringischen Wählerschaft unterstützt somit antiliberale politische Kräfte, die sich nicht nur gegen Waffenlieferungen an die Ukraine stellen und mehr oder weniger offen das Kreml-Narrativ über den russischen Vernichtungskrieg verbreiten, sondern die militärische wie politische Verankerung Deutschlands im transatlantischen Bündnis insgesamt ablehnen. Nicht viel besser sieht es neueren Umfragen zufolge in Brandenburg aus, wo die AfD mit 23,5 Prozent Platz eins belegt. In Sachsen und Sachsen-Anhalt ist sie mit je 26 Prozent die zweitstärkste Kraft hinter der CDU.  

Unterdessen bereitet die Linkspopulistin Sahra Wagenknecht die Neugründung einer Partei vor, in der "links" und "rechts" orientierte russlandfreundliche Kräfte zusammengeführt werden sollen. Dieses Projekt zielt insbesondere auf die Mobilisierung nationalpazifistischer und neutralistischer Milieus in Westdeutschland. Dass sich unlängst deutlich mehr als die Hälfte der Befragten in ganz Deutschland für Verhandlungen der Ukraine mit Russland und gegen die Aufnahme der Ukraine in die Nato ausgesprochen haben (mehr hier), ist ein Indiz dafür, dass die Vorbehalte gegen die  transatlantische Integration auch im westlichen Teil der Republik anwachsen.

Gleichwohl sind sie bislang ungleich geringer ausgeprägt als im Osten, wo sie sich zur vorherrschenden politischen Stimmung zu verfestigen drohen. Dabei ist offensichtlich, dass diese Entwicklung von den russischen Desinformationskriegsapparaten systematisch geschürt und orchestriert wird. Doch statt den in der ostdeutschen Gesellschaft offenbar tief verwurzelten Hang zum Autoritären als ein Syndrom zu erkennen, das auf die Dauer das freiheitliche Wertefundament der deutschen Demokratie im Ganzen erschüttern könnte, wird in der deutschen Debatte noch immer das Bild von den Ostdeutschen als passive, hilflose Opfer vermeintlicher Benachteiligung und Ausgrenzung, wenn nicht der "Kolonisierung" durch den Westen kultiviert. Diesem Stereotyp zufolge wenden sich Ostdeutsche nur deshalb in solch großer Zahl antidemokratischen Parteien zu, weil sie vom Westen chronisch missverstanden und missachtet würden.

Diese Vorstellung wird derzeit durch eine einschlägige Publizistik erneut massiv befeuert. Bezeichnend dafür ist, dass seit Monaten ein Buch die Bestsellerliste anführt, das den Westdeutschen systematische Diskriminierung und Stigmatisierung der Ostdeutschen aufgrund ihrer Herkunft unterstellt. Der Autor Dirk Oschmann suggeriert sogar, die grassierenden antiliberalen Ressentiments in Ostdeutschland seien nur eine "Erfindung" des Westen, die dazu diene, die Ostdeutschen pauschal zu diskreditieren und abzuwerten, um sie weiterhin von führenden Positionen in Staat und Gesellschaft ausschließen zu können.

In eine ähnliche Richtung zielt die in der DDR geborene und heute in London lehrende Historikerin Katja Hoyer mit ihrem viel diskutierten Buch "Diesseits der Mauer", das eine "neue Geschichte der DDR" zu präsentieren verspricht. Dem vermeintlich klischeehaften westlichen Blick auf den totalitären SED-Staat setzt sie die subjektiven Erinnerungen ehemaliger DDR-Bürger an ihr Leben in der sozialistischen Gesellschaft entgegen. Daraus soll sich laut Hoyer ein differenzierteres Bild von der DDR-Realität ergeben, als es von den westlichen "Siegern der Geschichte" vorgegeben werde. Die Realität des deutschen "Arbeiter- und Bauernstaats" sei, so behauptet sie, viel bunter und vielfältiger gewesen als es die westliche Schwarz-Weiß-Zeichnung von ihr suggeriere.

Im Kern läuft das "Neue" an dem Ansatz der Historikerin jedoch auf die Binsenwahrheit hinaus, dass auch unter den Bedingungen einer Diktatur subjektiv als glücklich empfundene individuelle Lebenswege möglich sind. Doch dass sich Menschen in repressiven Verhältnissen mehr oder weniger bequem einzurichten wissen - unter der Voraussetzung, dass sie sich unliebsamer Aktivitäten oder Meinungsäußerungen enthalten und daher keiner unmittelbaren politischen Verfolgung aussetzen -, ist keine Erkenntnis, die autoritäre Systeme in einem milderen Licht erscheinen lassen könnte.
 
Im Gegenteil: Das Angebot der Staatsmacht an ihre Untertanen, eine relativ komfortable Existenz führen zu können, so lange sie sich dem politischen Absolutheitsanspruch der Mächtigen fügen, stellt ein konstitutives Element diktatorischer Herrschaftstechnik dar. Wenn sich die Einzelnen in einem Unrechtsstaat private Freiräume schaffen, in denen sie dessen Allgegenwart auszublenden versuchen, bedeutet dies daher keineswegs, dass sie - wie Katja Hoyer suggeriert - ein "staatsfernes" Dasein führen würden. Es bedeutet vielmehr, dass sie das Unrecht als Gegebenheit hinnehmen und somit stabilisieren helfen.

Bücher wie die von Oschmann und Hoyer bestärken jene Kräfte, die sämtliche Missstände und Fehlentwicklungen in Ostdeutschland dem Westen und seiner vermeintlichen "Arroganz" in die Schuhe schieben wollen. Zu diesem Zweck wird der Eindruck erweckt, für die wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen, deren Spätfolgen im Osten Deutschlands noch immer zu spüren sind, seien nicht etwa die Jahrzehnte währende kommunistische DDR-Diktatur verantwortlich. sondern der westliche Liberalismus und der von ihm angeblich oktroyierte deutsche Vereinigungsprozess. Die mit dieser Sichtweise einhergehende Verharmlosung und Banalisierung der DDR-Vergangenheit trägt dazu bei, den fundamentalen Unterschied zwischen demokratischem Rechtsstaat und Diktatur zu verwischen. Das aber spielt den Intentionen des russischen Aggressorstaats in die Hände, der die Widerstandskräfte der westlichen Demokratien zu unterminieren versucht, indem er ihre Werte als bloße betrügerische Täuschung denunziert.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.