Intervention

Tiefgreifende Verunsicherung

Von Richard Herzinger
01.04.2020. Durch die Corona-Krise stehen die Demokratien in Europa und die Grundkonzeption der EU vor ihrer schwersten Krise seit 1945. Ihre Feinde nutzen ihre Schwäche für eine neue Propagandaoffensive. Die Frage für die Demokratien wird sein, ob die Bevölkerung mitzieht, wenn die Krise länger dauert und die existenzielle Probleme sich verschärfen.
Seit die Corona-Krise die meisten europäischen Länder mit voller Wucht erreicht hat, sind dort sämtliche sonstige innen- und außenpolitische Themen fast vollständig aus dem Blickfeld  verschwunden. Extreme Herausforderungen wie der Ansturm von Flüchtlingen an der griechischen EU-Außengrenze und der Vernichtungs- und Vertreibungskrieg in Syrien gerieten schlagartig in Vergessenheit. Selbst von der drohenden Klimakatastrophe, die in Deutschland lange Zeit in geradezu religiöser Überhöhung alle politischen  und gesellschaftlichen Diskurse durchdrungen hat, ist nicht mehr die Rede.

Da sich die Krise noch über viele Monate hinziehen könnte, droht Europa nicht nur ein schwerer wirtschaftlicher und sozialer Einbruch, sondern auch eine lang andauernde politische Lähmung - besonders in Hinsicht auf seine globalen Aufgaben. Während aber die gesamten Energien der westlichen Demokratien von der Suche nach effektiven Abwehrmaßnahmen gegen die Pandemie absorbiert werden und sie sich dabei gezwungen sehen, bürgerliche Grundrechte wie das auf Bewegungs- und Versammlungsfreiheit und freie Religionsausübung auf unbestimmte Zeit außer Kraft zu setzen, sind autoritäre Mächte massiv bestrebt, diese Situation zu ihren Gunsten auszunutzen.

Namentlich Putins Russland versucht, die existenzielle Erschütterung der liberalen Demokratien durch das gezielte Streuen von Fake News zu verstärken. Seit Ende Januar hat die EU 80 Fälle von Desinformation über Corona in russischen Staatsmedien oder von kremltreuen Akteuren dokumentiert. Dabei reichen die auf Verwirrung zielenden Falschbehauptungen von der Unterstellung, in Deutschland fehle es an qualifizierten Ärzten, um das Coronavirus zu bekämpfen, und die Gefahren der Pandemie würden von Pharmakonzernen aus Profitgier absichtlich übertrieben, bis hin zu der veritablen Verschwörungstheorie, bei dem Virus handele es sich um eine von den USA entwickelte Biowaffe - eine These, die auch von der Propaganda des chinesischen Regimes verbreitet wird.

In kremlnahen Medien wird zudem suggeriert, die Pandemie sei der Ausdruck ultimativer "Dekadenz" der westlichen Gesellschaften und kündige somit den bevorstehenden finale Zusammenbruch der liberalen, "globalistischen" Ordnung an. Abgelöst werden würde diese dann von einer auf den in Putins Russland praktizierten autokratischen "Werten" basierenden neuen Weltordnung. In dieses Propagandabild vom zerfallenden und zunehmend wehrlosen Westen passt symbolisch die Tatsache, dass das von der russischen Propaganda heftig angefeindete Nato-Manöver "Defender 2020" in Osteuropa wegen der Corona-Pandemie abgebrochen werden musste.

Gleichzeitig versucht sich das Putin-Regime als Wohltäter der in Not geratenen Europäer zu profilieren, indem es etwa Italien die Lieferung dringend benötigter medizinischer Hilfe anbietet. Der Kreml folgt damit dem Beispiel des Pekinger Regimes, das sich nach dem Abebben der Pandemie in China jetzt gegenüber Europa als Lehrmeister in Sachen Krisenbewältigung inszeniert. Dabei war es die anfängliche systematische Leugnung und Vertuschung der sich ausbreitenden Krankheit durch die chinesischen Machthaber, die das ganze Corona-Unheil erst richtig in Gang gebracht hat.

Zumindest in Deutschland scheinen diese Unterminierungs- und Vereinnahmungsversuche jedoch bisher noch nicht so ganz zu fruchten. Vielmehr scharen sich die Bürger in der Krise verstärkt um ihre politischen Führung. Rund zwei Drittel der Deutschen geben an, mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung zufrieden zu sein. Doch ist offen, wohin sich die Stimmung mit der Dauer der Krise entwickeln wird, und wie die Bürger reagieren werden, wenn sie die Folgen lang andauernder sozialer Isolation und ökonomischen Niedergangs zunehmend zu spüren bekommen.

Sobald aber die akute Krisensituation überwunden sein wird, werden deren langfristigen politischen Auswirkungen zum Vorschein kommen. Und dann könnte erst recht wieder die Stunde von radikalen Populisten schlagen. Schon jetzt wird von einzelnen linken ebenso wie konservativen Kommentatoren die "ungebremste" Globalisierung für die Ausbreitung der Pandemie verantwortlich gemacht. Von einer sich in diesem Sinne verstärkenden Skepsis gegenüber offenen Grenzen und Märkten innerhalb Europas und gegenüber globalem Freihandel dürften die Kräfte profitieren, die nationale Abschottung und  ethnische Homogenisierung als Heilmittel gegen "äußere" Gefahren propagieren.

Die EU hat durch die Krise bereits schweren politischen Schaden genommen. Brüssel hat sich gegenüber der aufkommenden Pandemie als weitgehend handlungsunfähig erwiesen. Eine gesamteuropäische Strategie konnte die EU nicht ansatzweise anbieten, und Länder wie Italien, die von der Pandemie besonders hart getroffen wurden, sind von ihren europäischen Partnern im Stich gelassen worden. Folgerichtig  haben die EU-Mitgliedstaaten ihr jeweiliges Vorgehen gegen das vordringende Virus im nationalen Alleingang festgelegt. Dass nationale Regierungen nach eigenem Gutdünken und ohne vorherige europäische Abstimmung ihre Grenzen schlossen, ließ die auf Freizügigkeit und europäisches Zusammenwachsen zielende Grundkonzeption der EU mit einem Schlag als obsolet erscheinen.

Die liberale Demokratie in Europa und weltweit steht somit vor ihrer schwersten Daseinskrise seit 1945. Ob die offenen Gesellschaften dieser extremen Belastungsprobe standhalten werden, ist angesichts ihrer tiefgreifenden Verunsicherung und Erschöpfung sowie der skrupellosen Entschlossenheit ihrer Feinde, sie zu zerstören, leider fraglich.

Richard Herzinger

Der Autor ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt und Welt am Sonntag. Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. Hier der Link zur Originalkolumne. D.Red.