Intervention

Veränderte Kräfteverhältnisse

Von Richard Herzinger
31.01.2023. Der neue Westen liegt im Osten und im Norden. Die kürzlichen Feiern zum 60. Jahrestag des Elysée-Vertrags zeigten nur, dass die viel beschworene Achse Berlin-Paris verrostet ist - statt dessen übernehmen Polen, die baltischen und die skandinavischen Staaten die entschlossene Initiative zur Verteidigung der Demokratie in Europa. Schuld daran ist auch die jahrelang von Paris und Berlin unabhängig voneinander betriebene Hofierung Putins.
Zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags zwischen Frankreich und Deutschland durch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer ist in den beiden Ländern keine Jubelstimmung aufgekommen. Zwar hat sich die im Januar 1963 besiegelte deutsch-französische Freundschaft als dauerhaft und stabil erwiesen. Deutsche und Franzosen, einstmals "Erbfeinde", leben heute als gute Nachbarn in einem befriedeten, demokratischen Europa. Dessen Entstehung ist wesentlich der französisch-deutschen Aussöhnung und Kooperation zu verdanken.

Doch angesichts der aktuellen Bedrohung dieser historischen Errungenschaft durch die russische Aggression hilft die Beschwörung vergangener Erfolge nicht viel weiter. Die Achse Paris-Berlin sieht sich einer ungeahnten epochalen Bewährungsprobe ausgesetzt, auf die sie nur unzureichend vorbereitet ist.

Denn in vieler Hinsicht sind die Versprechen des Elysée-Vertrags nicht eingelöst worden. Von Anfang an stand er im Zeichen eines politischen Missverständnisses. De Gaulle verfolgte damit die Absicht, die junge Bundesrepublik Deutschland aus ihrer engen Bindung an die Vereinigten Staaten herauszulösen und mit ihr zusammen ein Gegengewicht zum anglo-amerikanischen Einfluss auf dem europäischen Kontinent zu schaffen. Das in einstiger imperialer Rivalität wurzelnde tiefe Misstrauen gegenüber der "angelsächsischen Welt" bestimmt bis heute die Mentalität des "Gaullismus".

Die tragenden politischen Kräfte der Bundesrepublik waren indes nicht bereit, dem französischen Präsidenten auf dem Weg der Abkoppelung von den USA zu folgen. Der Deutsche Bundestag ratifizierte damals zwar den Vertrag, ergänzte ihn jedoch durch eine Präambel, die ein nachdrückliches Bekenntnis zur transatlantischen Allianz enthielt. Dieser deutsche Schachzug verärgerte de Gaulle, der darin einen Akt der Unterwerfung unter die amerikanische Supermacht sah.

Die unterschiedlichen strategischen Ziele, die sie mit der deutsch-französischen Partnerschaft verbinden, haben Paris und Berlin seitdem auf einer gewissen Distanz voneinander gehalten - ungeachtet aller euphorischen Verbrüderungsgesten, die in Feierstunden zelebriert werden. Frankreich betrachtet die Achse mit Deutschland als ein Instrument zur Sicherung seiner vermeintlichen Führungsrolle in Europa - und darüber hinaus  zur Perpetuierung  seiner Ambitionen als ein maßgeblicher weltpolitischer Akteur. Sein Status als Vetomacht in den UN, den es ebenso wenig mit der EU zu teilen bereit ist wie die Verfügungsgewalt über seine Atomwaffen, stützt Frankreichs zunehmend irreales Selbstbild, nach wie vor ein erstrangiger Global Player zu sein.

Indessen hat sich die Bundesrepublik stets geweigert, dem engen Verhältnis zu Frankreich Vorrang vor dem zu den USA  geben. Die Betonung der Gleichwertigkeit ihres Verhältnisses zu Frankreich und den USA diente ihr aber nicht zuletzt dazu, sich mal hinter dem einen, mal hinter dem anderen Partner zu verstecken, wenn es um die Übernahme internationaler, und vor allem militärischer Verantwortung geht.

Dementsprechend ist die einheitliche deutsch-französische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, die im Elysée-Vertrag angekündigt wurde, weitgehend Fiktion geblieben. In der gegenwärtigen Krise erweist sich diese fehlende gemeinsame globalstrategische Orientierung als fatal. Weit davon entfernt, ein entschlossenes europäisches Führungszentrum im Widerstand gegen die russische Aggression zu bilden, zeigen sich Paris und Berlin bei der militärischen Hilfe für die Ukraine eher zögerlich und auf diversen politischen Feldern - wie dem der Energiepolitik - zerstritten.

Frankreichs Präsident Macron irritierte wiederholt mit nicht abgesprochenen rhetorischen Avancen in Richtung Kreml - etwa, als er von notwendigen "Sicherheitsgarantien" für Russland im Rahmen eines künftigen Friedensabkommens sprach. Der deutsche Bundeskanzler wiederum hat mit seiner Verzögerungstaktik in Sachen Lieferung schwerer Waffen den Verdacht genährt, nicht wirklich an einem Sieg der Ukraine interessiert zu sein und stattdessen auf eine baldige "diplomatische" Wiederannäherung an Russland zu spekulieren.  

Dagegen haben sich (Ungarn ausgenommen) die ost- und mitteleuropäischen Staaten Russlands Vernichtungskrieg von Anfang mit konsequenter Klarheit entgegengestellt. Insbesondere Polen und die baltischen Staaten stehen bei der Unterstützung der Ukraine, gerade auch auf militärischem Gebiet, an vorderster Front - mit Rückendeckung vor allem der skandinavischen Ländern. Zudem hatten diese Nationen bereits seit vielen Jahren vor dem ganzen Ausmaß der Aggressivität des putinistischen Russland gewarnt.

Deutschland und Frankreich aber tendierten bis zum russischen Überfall am 24. Februar dazu, Putin zu hofieren, um ihn mittels "Dialog" und wirtschaftliche Verflechtung auf den Pfad der Friedfertigkeit zurückzuführen. Dies alles hat das Vertrauen in die Urteils- und Führungsfähigkeit des französisch-deutschen Tandems nachhaltig erschüttert. Namentlich Polen wird sich sicherheitspolitisch wohl noch stärker an die USA anlehnen. Und die zwischenzeitliche Ankündigung Warschaus, eine "kleine Koalition" bilden zu wollen, um deutsche Leopard-Panzer auch ohne Zustimmung Berlins an die Ukraine zu liefern, dokumentierte das gestiegenen Selbstbewusstsein der "neuen" EU-Mitglieder auf der europäischen Bühne.

Das deutsch-französische Doppel steht somit vor der Herausforderung, seine Rolle grundlegend neu zu definieren. Die Zeiten, da es unbestritten als "Motor" der europäischen Einigung galt und von dieser Position aus das restliche Europa zu dirigieren pflegte, sind vorbei. Heute erweisen sich Ost- Mittel- und Nordeuropäer als treibende Kraft im Sinne eines geschlossenen, entscheidungsfähigen Westens. Sie haben innerhalb der EU deutlich an Gewicht gewonnen, während die Autorität Frankreichs und Deutschlands drastisch geschrumpft ist. Wenn daraus keine dauerhafte innereuropäische Entfremdung entstehen soll, müssen sich Paris und Berlin jetzt einer intensiven Debatte über das künftige neue Gesicht Europas unter den veränderten Kräfteverhältnissen stellen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.