Intervention

Vermeintlich nur das Beste

Von Richard Herzinger
30.08.2019. So dringend der Klimawandel bekämpft werden muss - die von jungen Aktivisten verfochtene exklusive Mobilisierung lenkt die moralischen Widerstandskräfte auf ein abstraktes, allgemeines Katastrophenszenario der Zukunft, hinter dem die "partikularen", konkreten Katastrophen der Gegenwart zu verschwinden drohen. Die Apodiktik der Klimaschutzbewegung führt zu politischer Lähmung.
Internationale Experten und Institutionen wie der Weltklimarat (IPCC) der UN schlagen Alarm: Für den Fall einer Erderwärmung um 2 Prozent im Vergleich zu dem vorindustriellen Zeitalter (um circa 1850) prognostizieren die Wissenschaftler verheerende Konsequenzen. Dann sei die Lebensgrundlage von bis zu 500 Millionen Menschen weltweit bedroht. Laut dem jüngsten Bericht des IPCC sind bereits jetzt gut 1,4 Prozent erreicht, und die Erwärmung schreite noch schneller voran als bisher befürchtet. Dieses Tempo lasse zudem keinen anderen Schluss zu, als dass der Klimawandel vom Menschen verursacht ist.
 
Traut man dem Urteil der Wissenschaftler, gibt es also allen Grund, in höchstem Maße besorgt zu sein und Gegenmaßnahmen wie die Reduzierung des CO2-Ausstoßes erheblich zu verstärken. Die Reaktionen sind dementsprechend heftig: In Deutschland überragt und überdeckt die Frage des Klimawandels in der öffentlichen Debatte nunmehr alle anderen Themen. Die von der 16-jährigen schwedischen Aktivistin Greta Thunberg ins Leben gerufene Bewegung "Fridays for Future", die Schüler dazu aufruft, jeden Freitag den Unterricht ausfallen zu lassen und stattdessen für den Klimaschutz zu demonstrieren, findet hierzulande eine enorme Resonanz. Führende Politiker fast aller Parteien geben sich von den Protesten tief beeindruckt und überbieten sich in Versprechungen, sich nunmehr mit viel größerer Kraft als bisher der Bekämpfung der Klimakatastrophe zu widmen.

Doch so legitim es selbstredend ist, dass in einer solch wichtigen Frage zivilgesellschaftlicher Druck auf die politischen Verantwortlichen ausgeübt wird - Bewegungen wie "Fridays for Future" treten mit einem moralischen Absolutheitsanspruch auf, der keinen Widerspruch zulässt und dadurch dazu beiträgt, den demokratischen Diskurs zu zerstören. Greta und ihre Anhänger suggerieren nämlich, dass sich jeder Politiker und Bürger, der jetzt noch zögere, das Notwendige für die Abwendung der Klimakatastrophe zu tun, am Unglück der künftigen Generationen, wenn nicht am Weltuntergang mitschuldig mache. Die Aktivisten selbst sehen sich dabei als Sprachrohr einer unbezweifelbaren moralischen Instanz, die definiert, was dieses Notwendige sei. Wenn Greta vor ergriffen lauschenden Weltpolitikern erklärt, sie wolle von ihnen keine Bekenntnisse mehr hören, sondern nur noch Taten sehen, gibt sie damit zu verstehen, dass sie jede weitere Kontroverse über ihre Thesen für überflüssig und unzulässig hält.

Die Legitimation für solche apodiktischen Aussagen leiten Greta und ihre Mitkämpfer aus ihrer Jugend ab. Demnach kommt den Ansichten junger Leute in der Klimadebatte per se ein höheres Gewicht zu als denen von Älteren. Schließlich sei es ja die Jugend, die in einer zukünftigen, möglicherweise verwüsteten Welt werde leben müssen, während die heutigen Erwachsenen auf Kosten der künftigen Generationen die Lebensgrundlagen auf dem Planeten zerstörten. Einwände von älteren Zeitgenossen, und beziehen sie sich auch nur auf den richtigen Weg zu einem effektiveren Klimaschutz, können damit von vornherein als Versuch diskreditiert werden, das notwendige sofortige Handeln zu verzögern - und sie können niedergeschrieen werden. Wenn sich eine Weltsicht aber gegen Kritik und Diskussion immunisiert, ist sie in ihrem Kern antidemokratisch - auch, wenn sie vermeintlich nur das Beste will.

Doch die Klima-Mobilisierung nach der Art Gretas hat noch eine weitere fragwürdige Dimension. Denn indem sie suggeriert, es gehe hier ums Ganze, nämlich die Fortexistenz der Menschheit schlechthin, degradiert sie implizit alle anderen, akut brennenden Weltprobleme zu zweitrangigen Fragen. Wenn der Aufstand gegen die drohende finale Menschheitskatastrophe alle moralischen Energien absorbiert, bleiben in Bezug auf die real existierende Unterdrückung rund um den Erdball keine Ressourcen an moralischer Empörung mehr übrig - und für die Betroffenen, die bereits heute um ihr Überleben kämpfen müssen, keine Empathie. Die exklusive Mobilisierung für den Klimaschutz lenkt die moralischen Widerstandskräfte auf ein abstraktes, allgemeines Katastrophenszenario der Zukunft, hinter dem die "partikularen", konkreten Katastrophen der Gegenwart zu verschwinden drohen.

Indem sich Gretas Bewegung mit ihren Forderungen zudem unterschiedslos an die ganze Menschheit beziehungsweise "die Politiker" wendet, muss sie sich auch nicht mit konkreten Mächten anlegen, die für konkretes Unheil verantwortlich sind. Da sich ihre Appelle gleichermaßen an alle und jeden richten, muss sich davon am Ende niemand spezifisch angesprochen fühlen.

Unterdessen führt die Demokratiebewegung in Hongkong einen verzweifelten Kampf gegen die drohende Gleichschaltung durch das totalitäre chinesische Regime. Und im syrischen Idlib bombardieren und vertreiben der Diktator Assad sowie seine Schutzmächte Russland und Iran gezielt die Bevölkerung der letzten noch verbliebenen Bastion der Opposition. Zu Entwicklungen wie diesen aber herrscht in der westlichen Öffentlichkeit ein beklemmendes Schweigen. Größere Mengen von Demonstranten sucht man vor der chinesischen, russischen, syrischen oder iranischen Botschaft in Berlin wie in anderen europäischen Hauptstädten vergebens.

Das kollektive moralische Gewissen der westlichen Gesellschaften erscheint gegenüber diesen Konflikten und Schrecken weitgehend abgestumpft. Umso mehr wird es derzeit durch die angekündigte Klimakatastrophe aufgewühlt. Doch ihre Bekämpfung zur ausschließlichen Priorität zu erheben, im Kontrast zu der alle anderen Probleme nur noch wie untergeordnete Randerscheinungen wirken, zeitigt einen merkwürdigen Effekt. Es bedeutet nichts anderes, als der eigenen Untätigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den akuten weltweiten Angriffen auf die Rechte und Würde des Menschen eine höhere Rechtfertigung zu verleihen.

Richard Herzinger

Der Autor ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt und Welt am Sonntag. Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt, hier der Link zur aktuellen Kolumne. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. D.Red.